Psychother Psychosom Med Psychol 2007; 57(9/10): 349-350
DOI: 10.1055/s-2007-986177
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neue Medien in der Psychotherapie: Virtuelle Realitäten

New Media in Psychotherapy: Virtual Reality TechnologiesChristiane  Eichenberg1 , Elmar  Brähler2
  • 1Institut für Klinische Psychologie und Psychologische Diagnostik - Klinische Psychologie und Psychotherapie - Universität zu Köln
  • 2Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig
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Publication Date:
14 March 2008 (online)

Dr. Christiane Eichenberg

Prof. Elmar Brähler

Als Ergänzung zum Beitrag „Neue Medien - neue Möglichkeiten in der Psychotherapie-Prozessforschung”, der die Chancen des Internet für die psychosoziale Intervention wie Psychotherapieforschung aufzeigt (vgl. PPmP 8/2007), möchten wir auf die Anwendungsmöglichkeiten aber auch Grenzen einer noch moderneren Technologie in der Psychotherapie aufmerksam machen. Nachdem inzwischen empirische Evidenzen für den fruchtbaren Einsatz des Internet [1] sowie von Mobilmedien (z. B. Handy, Handheld, mobile Spielkonsolen, zur Übersicht siehe [2]) im gesamten Spektrum klinisch-psychologischer Interventionen vorliegen, stellt sich die Frage nach dem psychotherapeutischen Nutzen sogenannter „virtueller Realitäten”.

Virtual-Reality-Technologien (VR) ermöglichen computerbasierte Modelle der realen Welt zu erstellen, mit denen mittels Mensch-Maschinen-Schnittstellen interagiert werden kann. Charakteristische Merkmale von virtuellen Realitätssystemen sind die Interaktion in Echtzeit und die Ansprache und Einbeziehung mehrerer menschlicher Sinne. Diese künstlich geschaffenen Welten lassen sich in vielen unterschiedlichen Bereichen einsetzen (z. B. Fahrzeugsimulatoren in der Autoindustrie, Gebäudeplanung in der Architektur, Flugsimulation in der Ausbildung von Piloten, Unterhaltungsindustrie).

In der Medizin sind VR-Anwendungen inzwischen fest etabliert, z. B. in der Ausbildung angehender Ärzte, in chirurgischen Trainings, aber auch im Bereich der Telechirurgie sowie im Rahmen der Telemedizin vieler weiterer medizinischer Fachgebiete (für Anwendungsbeispiele siehe z. B. [3] [4]). Ebenso wurde diese Technologie erfolgreich in die Schmerzbehandlung von Verbrennungsopfern [5] und in die Rehabilitation von behinderten Menschen integriert. Stumme Patienten können z. B. verbal kommunizieren, indem die Gesten mithilfe des Datenhandschuhs erfasst, vom Computer interpretiert und an ein Sprachsystem weitergeleitet werden, das die Gesten in synthetische Sprache übersetzt. Ein VR-basiertes Trainingsprogramm für Schlafanfallpatienten stellen z. B. Jack et al. [6] vor (für weitere Entwicklungen siehe auch [7]).

Die Beobachtung, dass virtuelle Reize reale Ängste auslösen, die begleitet sind von physiologischen Symptomen wie erhöhtem Blutdruck, Schwitzen und Übelkeit, führte dazu, VR-Anwendungen auch in das Spektrum psychotherapeutischer Interventionstechniken einzubinden. Überwiegend in verhaltenstherapeutischen Settings wird die dreidimensionale und interaktiv explorierbare Umgebung zur Expositionsbehandlung genutzt und die Besonderheit von VR-Anwendungen als ein Mittelweg zwischen in sensu- und in vivo-Konfrontationen ausgeschöpft. Ab dem Jahr 2000 wurde nach ersten Einzelfallstudien die Effektivität insbesondere für die Konfrontationstherapie spezifischer Phobien systematisch untersucht. [Tab. 1] illustriert einige Befunde (ausführlich siehe [8]).

Tab. 1 Exemplarische Evaluationsstudien zur Wirksamkeit von VR-unterstützter Behandlung Störung Effektivitätsnachweise Höhenangst Emmelkamp et al. 9 : Randomisiert-kontrollierte Studie Intervention: 33 Pat. zufällig zugewiesen: VR- oder in vivo-Konfrontation mit drei Sitzungen, jeweils graduierte Angstexposition. Um die Vergleichbarkeit der beiden Szenarien zu erhöhen, wurde die virtuelle Welt exakt nach den realen Gegebenheiten gestaltet. Drei Umgebungen mussten - virtuell oder real - aufgesucht werden, z. B. eine Feuerleiter (50 Fuß hoch). Die Pat. schätzten ihr Angstlevel zu festgesetzten Zeitpunkten auf der Subjective Units of Disturbance Scale ein. Bei der Habituierung an bestimmte Situationen wurden die Pat. jeweils ermutigt, zu einer schwierigeren Übung zu wechseln. Ergebnisse: Beide Behandlungsformen waren gleich effektiv. Die signifikanten Verbesserungen blieben auch nach sechs Monaten stabil. Flugangst Wiederhold et al. 10 : Randomisiert-kontrollierte Studie Intervention: 30 Pat. zufällig einer achtwöchtige Therapie zugewiesen: in sensu-Konfrontation, VR-Konfrontation, VR-Konfrontation inkl. der Rückmeldung biologischer Parameter (Atmung, Herzfrequenz, Hautwiderstand); jeweils gestufte Angstexposition. Ergebnisse: Die graduierte VR-Behandlung in Kombination von Rückmeldungen physiologischer Parameter erzielte die besten Erfolg. 20 % der Pat. in der in sensu-Bedingung, 80 % der Pat. in der VR-Bedingung und 100 % derjenigen, die VR-Konfrontation inkl. der Rückmeldung biologischer Parameter erhalten hatten, flogen nach der Therapie wieder. Spinnenphobie Garcia-Palacios et al. 11 : Randomisiert-kontrollierte Studie Intervention: 23 Pat. zufällig zu VR-Behandlung mit 4 Sitzungen und Wartegruppe zugewiesen. Ergebnisse: 83 % der Behandlungsgruppe und 0 % der Wartegruppe erzielten signifikante Besserung. soziale Phobie Klinger et al. 12 : Randomisiert-kontrollierte Studie Intervention: 36 Pat. zufällig zugewiesen: VR-Therapie o. kognitive Verhaltenstherapie mit jeweils 12 Sitzungen; Behandlungserfolg wurden mit verschiedenen Testskalen u. Therapeutenratings gemessen. Ergebnisse: Beide Behandlungsmethoden waren effektiv ohne signifikante Unterschiede. Sie reduzierten Angst und Vermeidung. Weitere Störungsbilder Essstörungen: Riva et al. 13 : Randomisiert-kontrollierte StudiePsychotraumatische Störungen: Rothbaum et al. 14: Einzelfallstudie: Ein Vietnamveteran wurde in 14 Sitzungen authentisch nachgestellten Kriegssituationen ausgesetzt. Defede u. Hunter 15: Einzelfallstudie: Pat., der den Terroranschlag auf das World Trade Center in New York erleben musste, wurde dieser graduiert in 6 in VR-Sitzungen nachgestellt.

Virtuelle Realitäten sind nach ersten Studien ein wirkungsvolles Instrument im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Angststörungen. Es existieren keine Hinweise, dass beispielsweise die Behandlung von Höhen- und Flugangst mittels VR weniger effektiv ist als herkömmliche Exposition in vivo. Bei psychotraumatischen Störungen jedoch inszenieren die bisherigen Anwendungen eine Form der Konfrontation, die nach dem heutigen Forschungsstand bzgl. der Therapie von traumatisierten Patienten kontraindiziert ist und ethisch stark infrage gezogen werden muss. Dem Wiedererleben und Durcharbeiten der traumatischen Erfahrung müssen stets verschiedene Phasen (u. a. Stabilisierung, Aufbau eines tragfähigen Arbeitsbündnisses, Phase der Gestaltbildung, in der die traumatische Situation in ihrem äußeren Ablauf einen Umriss und damit eine Begrenzung erfährt) vorangehen [16]. All diese Phasen wurden in den zitierten Studien in der Behandlung nicht berücksichtigt. Daher bergen VR-Anwendungen in diesem Kontext mehr die Gefahr einer Retraumatisierung als einer produktiven Aufarbeitung der traumatischen Erfahrung.

Insgesamt scheinen verschiedene Aspekte, die dem VR-Setting immanent sind, manchen Patienten entgegenzukommen, z. B. in der Bereitschaft sich virtuell mit Angst erfüllenden Reizen überhaupt auseinanderzusetzen, was mit dem subjektiv erhöhten Sicherheitsgefühl und der stärkeren Kontrolle über die dargebotenen Stimuli zusammenhängen kann. Zudem schaffen VR-Expositionen eine privatere Atmosphäre sowie einen geringen logistischen und finanziellen Aufwand, z. B. bei der Behandlung von Flugangst. Für Personen, deren Visualisierungsfähigkeit eingeschränkt ist, kann die medienunterstützte Darbietung von Reizen die Imagination der Angst auslösenden Situationen fördern.

Die vorliegenden empirische Befunde sind unbedingt ergänzungsbedürftig: Die Anzahl der Studien sowie die Stichprobengröße sind zu gering, um allgemeine Aussagen treffen zu können. Sie haben vielmehr Pilotcharakter. Zudem fehlen langfristige Katamnesen. Darüber hinaus sind die bisherigen VR-Anwendungen zum einen Prototypen, zum anderen nicht so weit verbreitet, elaboriert und in der erforderlichen technischen Ausrüstung erschwinglich, dass sie Eingang in die alltägliche Praxis von Verhaltenstherapeuten gefunden hätten und Patienten breit zur Verfügung stünden.

Literatur

  • 1 Ott R, Eichenberg C. Klinische Psychologie und Internet. Potenziale für klinische Praxis, Intervention, Psychotherapie und Forschung. Göttingen; Hogrefe 2003
  • 2 Döring N, Eichenberg C. Klinisch-psychologische Interventionen mit Mobilmedien: Ein neues Praxis- und Forschungsfeld.  Psychotherapeut. 2007;  2 127-135
  • 3 Maresceaux J, Soler L, Ceulemans R. et al . Bildfusion, virtuelle Realität, Robotik und Navigation - Einfluss auf die chirurgische Praxis.  Der Chirurg. 2002;  5 422-427
  • 4 Tronnier V M, Staubert A, Bonsanto M M. et al . Virtuelle Realität in der Neurochirurgie.  Der Radiologe. 2000;  3 211-217
  • 5 Hoffman H G, Patterson D R, Carrougher G J. Use of virtual reality for adjunctive treatment of adult burn pain during physical therapy: a controlled study.  Clinical Journal of Pain. 2000;  16 (3) 244-250
  • 6 Jack D, Boian R, Merians A. et al .A Virtual Reality-Based Exercise Program For Stroke Rehabilitation. Proceedings of ASSETS 2000: Fourth ACM SIGCAPH Conference on Assistive Technologies. Arlington Virginia; 2000 November 13 - 15: 56-63
  • 7 Deutsch J E, Jeffrey A L, Burdea G. Virtual Reality-Integrated Telerehabilitation System: Patient and Technical Performance. Proceedings of IWVR. 2006: 140-144
  • 8 Eichenberg C. Der Einsatz von „Virtuelle Realitäten” in der Psychotherapie: Ein Überblick zum Stand der Forschung.  Psychotherapeut. 2007;  52 362-367
  • 9 Emmelkamp P, Krijn M, Hulsbosch L. et al . Virtual reality treatment versus exposure in vivo: a comparative evaluation in acrophobia.  Behavior Research and Therapy. 2002;  5 509-516
  • 10 Wiederhold B K, Gevirtz R N, Spira J L. Virtual Reality Exposure Therapy vs. Imagery Desensitization Therapy in the Treatment of Flying Phobia. In: Riva G, Galimberti C (eds) Towards CyberPsychology: Mind, Cognitions and Society in the Internet Age (chap. 14). Amsterdam; IOS Press 2003
  • 11 Garcia-Palacios A, Hoffman H, Carlin A. et al . Virtual reality in the treatment of spider phobia: A controlled study.  Behaviour Research and Therapy. 2002;  40 983-993
  • 12 Klinger E, Bouchard S, Légeron P. et al . Virtual Reality Therapy Versus Cognitive Behavior Therapy for Social Phobia: A Preliminary Controlled Study.  Cyberpsychology and Behavior. 2005;  1 76-88
  • 13 Riva G, Bacchetta M, Baruffi M, Molinari E. Virtual Reality-Based Multidimensional Therapy for the Treatment of Body Image Disturbances in Obesity: A Controlled Study.  Cyberpsychology and Behavior. 2001;  4 511-526
  • 14 Rothbaum B O, Hodges L F, Alarcon R. et al . Virtual reality exposure therapy für PTSD Vietnam veterans: A case study.  Journal of Traumatic Stress. 1999;  12 263-271
  • 15 Defede J, Hunter H G. Virtual Reality Exposure Therapy for World Trade Center Post-traumatic Stress Disorder: A Case Report.  Cyberpsychology and Behavior. 2002;  6 529-535
  • 16 Fischer G. Kausale Psychotherapie. Manual zur ätiologieorientierten Behandlung psychotraumatischer und neurotischer Störungen. Kröning; Asanger 2007

Dr. Dipl.-Psych. Christiane Eichenberg

Institut für Klinische Psychologie und Psychologische Diagnostik, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität zu Köln

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