"Panik kommt in mir auf. Plötzlich entlädt sich diese Anspannung in einem heftigen
Bedürfnis nach Entleerung" [6]. So beschreibt Hajo Netzer in seinem Erfahrungsbericht einer Expedition auf den
Cho Oyu in der letzten Ausgabe der Flugmedizin Tropenmedizin Reisemedizin seine Reaktion auf eine scheinbar ausweglose Situation, in der er nicht nur mit dem
Wetter, sondern auch noch mit einem höhenkranken Expeditionsteilnehmer zu kämpfen
hat. Woher stammt dieses paradoxe Reaktionsmuster, das eine ohnehin lebensbedrohliche
Situation noch weiter verschlimmert?
Wie erklärt man ein lebensbedrohliches Verhaltensmuster?
Seit 1995 wird ein Erklärungsmodell der physiologischen Abläufe und Störungen des
autonomen Nervensystems getestet: die Polyvagaltheorie [3], [7], [8], [9]. Demnach hat sich das autonome Nervensystem phylogenetisch stufenweise von dem der
Reptilien zu dem der Säugetiere entwickelt. Es besteht aus
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zwei vagalen Motorsystemen, die aus einem ventralen und einem dorsalen Kern im Hirnstamm
entspringen
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aus den neben dem Rückenmark gelegenen sympathischen Ganglien.
Wichtige Zielorgane dieser Nervenbahnen sind neben dem enterischen Nervengeflecht
vor allem Herz und Lungen. Das autonome Nervensystem sichert unter anderem eine für
Säugetierhirne lebensnotwendige, konstante Sauerstoffsättigung des Blutes. Bei Säugetieren
werden efferente Bahnen des ventralen Vaguskerns in den ersten Lebensmonaten mit Myelin
ummantelt, während andere, die aus dem dorsalen Vaguskern entspringen, wie bei den
Reptilien unmyelinisiert bleiben. Myelinisierte und nicht myelinisierte Vagusfasern
können an gleichen Zielorganen unterschiedliche Reaktionen auslösen und bei jeweils
anderen adaptiven Verhaltensweisen beteiligt sein.
Bei Säugetieren lassen sich drei Reaktionsmuster unterscheiden, die so hierarchisch
strukturiert sind, dass das jeweils jüngere das ältere Programm inhibitiert. Die Programmrealisierung
des autonomen Systems wird beeinflusst durch höhere Zentren (z. B. Neurone der Großhirnrinde)
und Motorneurone der Kopf-Halsregion, die aus den Hirnnervenkernen im Stammhirn entspringen
und quer gestreifte Muskeln innervieren. Die Ausschüttung der Hypophysenhinterlappenpeptide
Vasopressin und Oxytozin und die Reflexe sensibler Vagusfasern wirken zusätzlich auf
die Steuerung des Systems ein.
Das phylogenetisch jüngste Programm ist durch eine Aktivierung myelinisierter Vagusfasern
gekennzeichnet. Diese "vagale Bremse" dämpft die Herz- und Atemfrequenz rhythmisch
(u. a. in der Ausatmungsphase), und ist beispielsweise erforderlich für das sich Kümmern
um den Nachwuchs. Verhaltensmuster wie soziale Kontaktaufnahme, Zuhören und Kommunizieren
erfordern Ruhe und Sicherheit, die unbewusst über die Rückmeldung der auf Kommunikation
ausgerichteten Hirnnervenkerne (III, V, VII, VIII, XI, XII) vermittelt und mit dem
ventralen Vaguskern ("smart vagus") verschaltet werden.
Bleibt diese Reaktionsform erfolglos, wird die "vagale Bremse" abgeschaltet und die
sympathische Reaktion aktiviert. Es resultieren Mobilisierung und Verhaltensprogramme,
die auf Flucht oder Kampf ausgerichtet sind. In dieser Phase ist die Kommunikationsfähigkeit
eingeschränkt oder unmöglich.
Wenn auch dieses Lösungsmuster versagt, reagieren Säugetiere mit Immobilisation, Sich-Totstellen,
In-Ohnmacht-Fallen und der Entleerung von Magen und Darm. Dieser phylogenetisch älteste
und primitivste neuronale Kreislauf wird durch den nicht myelinisierten Vagus (dorsaler,
vegetativer Vagus) vermittelt. Bei Reptilien macht diese Reaktionsform Sinn (Tauchreaktion
eines Krokodils, Einschränkung der metabolischen Aktivität einer Schlange).
Für Säugetiere ist das Verhaltensmuster dagegen lebensbedrohlich. Es hat sich, so
wird vermutet, erhalten, weil es in veränderter Form im sozialen Kontext Nutzen bringt:
Bewegungslosigkeit verbunden mit bedingungsloser Aufgabe des eigenen Grenzbereiches
begegnet uns beim Stillen, in bestimmten Phasen des Partnerverhaltens und bei der
Sexualität, wenn ein besonders großer Vertrauensvorschuss gegenüber dem Partner besteht.
Diese angepasste Reaktionsform eines alten Musters wird durch die Ausschüttung von
Oxytozin vermittelt, das daher auch als Bindungshormon bezeichnet wird.
Günstige Beeinflussung psychischer Erkrankungen
Therapeutische Konsequenzen der Polyvagaltheorie konzentrieren sich auf die günstige
Beeinflussung psychischer Erkrankungen durch Strategien der Aktivierung der "vagalen
Bremse". Vorrangiges Ziel ist dabei eine Beruhigung, um die Kommunikationsfähigkeit
wiederzuerlangen. Bewährt haben sich offenbar Methoden zur Dämpfung des Atemrhythmus,
das Hören ruhiger menschlicher Stimmfrequenzen, Förderung des Schluckens, Intonation
und Stimmbildung, Verlangsamung der Augenbewegung, Betrachten von Gesichtern oder
ruhigen Bildern, das Lösen von Verkrampfungen der Gesichts- und der Nackenmuskulatur.