Balint Journal 2008; 9(2): 64-65
DOI: 10.1055/s-2008-1004730
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Leserbriefe zu: W. Schüffel, S. Stunder: Verändert sich die Arzt-Patienten-Beziehung beim Hausbesuch? Das Element der Zeitlichkeit: Brägele und Maultaschen Balint 2007; 8: 44-53 sowie: S. Scheerer: Eine hausärztliche Anmerkung Balint 2007; 8: 101-102

Tiefenschärfe und / oder Weitblick?A. Leyk1
  • 1Fürther Str. 55, 91058 Erlangen
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Publication Date:
20 June 2008 (online)

Angeregt durch eine Plenumsdiskussion anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Balint-Gesellschaft in Würzburg, in der um Voten bezüglich der Akzeptanz und Praxis-Relevanz des Balint-Journals gebeten wurde, verstehe ich meine Zeilen als Resonanz auf eine begonnene Diskussion.

Als psychotherapeutisch tätige Hausärztin erlebe ich beide Seiten: einerseits im Gespräch mit somatisch tätigen Kollegen die Berührungsängste, aber auch die wachsende Neugier, wenn in der Balint-Arbeit sichtbar wird, dass Subjektivität, Mut zu den eigenen Gefühlen und zu der Reflexion der Beziehung zwischen Arzt und Patient unsere Arbeit intensivieren und im Alltag psychisch entlasten kann. Im Kontakt mit ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Kollegen erlebe ich andererseits auch manchmal, dass das Unwissen über den hausärztlichen Berufsalltag immer noch Anlass zu Missverständnissen und gegenseitiger Abwertung gibt. Umso gespannter war ich zu lesen, dass ein Psychotherapeut sich auf den Weg macht, einen Hausarzt bei seinen Routinebesuchen zu langjährigen Patienten zu begleiten und mit einer spezifisch psychotherapeutischen Blickweise zu reflektieren, was er da als besondere Beziehungsqualität wahrnimmt. Mit dieser Einstellung begann ich die Lektüre der Vorstellung des Projektes „Gesundes Kinzigtal”, das im Rahmen der integrierten Versorgung offenbar eine kompetente empirische Erforschung der Psychodynamik beim Hausarztbesuch durch einen begleitenden Psychotherapeuten vorsieht. Ich gebe zu, ich bin es gewohnt, die psychotherapeutische Denkweise nicht auf Anhieb zu verstehen, also lasse ich mich nicht so schnell entmutigen. Aber auch nach mehrmaliger Lektüre des Artikels überfiel mich immer noch schlichte Ratlosigkeit, weil ich den scharfen, tiefsinnigen Begriffen mit denen der Besuchsarzt die Situation erfassen wollte, nicht folgen konnte. Wie die romantischen Landschaftsbilder zu den langjährigen Krankheitsgeschichten und der gemeinsamen Geschichte der Arzt-Patienten-Beziehungen in Verbindung zu setzen sind, bleibt mir immer noch nebulös. Wie mit einer überdimensionalen Zoom-Optik, in der „Tiefenschärfe” und „Weitblick” unvermittelt wechseln, geht hier die Orientierung verloren. Tiefenschärfe, wenn der Urinschwall der Kuh von Frau H. im Zusammenhang der Krankheitsgeschichte erlebt wird, Weitblick wenn die „kompensatorischen psychosomatischen Spezialgebilde auf der grünen Wiese” als Symbol für die Außenseiter-Rolle der Psychosomatik in unserer gesundheitspolitischen Landschaft wahrgenommen werden. Es bleibt auch nach der verwirrenden Lektüre des Artikels zwar immer noch eine wunderbare Vision, mit einem kompetenten Begleiter den Beziehungsalltag einen Hausarztes zum Wohle der Patienten optimieren zu können, aber ich bin völlig ratlos und verwirrt, wie es unter Einbeziehung der Erkenntnisse dieser beiden engagierten Autoren mit der ganzheitlichen Versorgung von Frau H., Frau G. oder Herrn und Frau M. weitergehen kann. Ohnmacht und Apathie breiten sich aus …

Wach werde ich erst wieder, als in der nächsten Ausgabe des Balint-Journals in dem Brief der sechs hausärztlichen Kollegen der „Nebel über dem Kinzigtal” benannt wurde: Um was für ein Projekt geht es denn hier? Was soll eigentlich Thema und Ziel dieser „qualitativen Forschung” sein? Welche Interessen stehen denn hinter diesem Forschungsvorhaben? Was hat dieses Projekt mit unseren täglichen hausärztlichen Realitäten von Zeitbudgets, Plausibilität, Wirtschaftlichkeit und Honorarstruktur zu tun?

Als langjährig praktizierende Hausärztin stellt für mich die subjektive und beziehungs-orientierte Denkweise ein persönliches Anliegen und ein unverzichtbares „Werkzeug” hausärztlicher Kompetenz dar, die ich selbstverständlich bei jedem Hausbesuch auch unter den denkbar begrenzten Bedingungen der vertragsärztlichen Alltagsrealität mit einzubringen versuche. Die meisten Patienten und viele meiner Kollegen erleben das ebenso, auch wenn sie das nicht in so ausgeklügelte Gedankengebäude fassen können wie der zitierte Artikel. Natürlich kann und soll unsere Kompetenz und die Qualität unserer Arbeit auch auf diesem Gebiet verbessert werden. Aber auch ohne das Ergebnis dieser „qualitativen Forschungsarbeit” abzuwarten bin ich aus täglichem Erleben heraus überzeugt, dass der Besuch im Haus des Patienten selbst unter äußerster Beschränkung von Zeit und zur Verfügung stehenden Mitteln zu einer größeren Tiefenschärfe im Erkennen psychosomatischer Zusammenhänge und damit zu gezielteren Interventionen führt, was letztlich einem effektiveren Einsatz der begrenzten finanziellen Mittel im Gesundheitswesen dient …

Leider erlebe ich zurzeit gemeinsam mit vielen hausärztlich tätigen Kollegen, dass eben diese grundlegende Erkenntnis völlig irrelevant ist und außer Acht gelassen wird, wenn es um die aktuellen gesundheitspolitischen Entscheidungen und die damit verbundenen Veränderungen in der Landschaft unseres Gesundheitswesens geht. Und so beschleicht mich bei der nochmaligen Lektüre des Artikels ein böser Verdacht: Kann es sein, dass es bei dem Thema und dem Ziel dieses gesamten Projektes nicht um die ganzheitliche Versorgung von Fr. G., Herrn und Frau M. und Fr. H. geht, so wünschenswert diese auch sein mag? Kann es sein, dass unter Verkennung der politischen Realität im Elfenbeinturm der Wissenschaft in dem integrierten Versorgungsprojekt „Gesundes Kinzigtal” voller Engagement und Enthusiasmus nach Argumenten für die „Zeitlichkeit” und „Subjektivität” der Hausbesuchstätigkeit gesucht wird, während die Realität der aktuellen EBM-Reform und die damit verbundene wirtschaftliche Existenznot der Hausärzte aus dem Blick gerät? Kann es sein, dass hier mit „Tiefenschärfe” und unter Einbeziehung sämtlicher sinnlicher und zeitlicher Dimensionen ein Forschungsprojekt in Hinblick auf die qualitative Aufwertung der Hausbesuchstätigkeit begonnen wird, während der Weitblick für die Realität der Gesundheitslandschaft völlig verloren geht, in der das Hausarzt-Sterben und der gesundheitspolitische Abgesang auf diese aussterbende Spezies bereits im vollen Gang ist? Kann es sein, dass am Ende das Ergebnis dieser Forschung bezüglich der spezifischen hausärztlichen Tätigkeit und Kompetenz, wie sie sich dem Besuchsarzt bei diesen drei Hausbesuchen so facettenreich darstellte, schlicht lauten könnte: „Operation gelungen, Patient tot”?

Vielleicht ist unter diesem Blickwinkel das Bild von den psychosomatischen Kliniken, die in romantischer Landschaft auf grüner Wiese gewissermaßen als „Alibi” in der gesundheitspolitischen Landschaft dastehen, tatsächlich von symbolischer Tragweite. Vielleicht geht es im Moment darum, weitreichende Fehlentscheidungen in der Veränderung der gesundheitspolitischen Landschaft in letzter Minute zu erkennen und ihnen mutig gemeinsam entgegenzutreten. Ob Hausarzt oder Besuchsarzt, somatisch orientiert oder psychosomatisch weitergebildet, wir müssen in einfachen und allgemein verständlichen Worten gemeinsam, überzeugt und „integriert” vermitteln, dass an der hausärztlichen Basis das Engagement, die Kompetenzen und Strukturen, die die Politik und die Krankenkassen unter dem Deckmantel der integrierten Versorgung, des Qualitätsmanagements, letztlich aber unter dem Diktat der höheren Effizienz und Wirtschaftlichkeit im hausärztlichen Bereich meinen neu erfinden, verordnen und implementieren zu müssen, bereits vorhanden sind und zum Wohle der Patienten bereits seit Jahrzehnten genutzt werden. Dass aber eben diese flächendeckend vorhandenen funktionierenden Strukturen aktuell massiv bedroht sind und gestärkt werden müssen, damit sie nicht untergehen. Vorhandene Strukturen wertzuschätzen und zu stärken, das heißt, auch wenn es auf den ersten Blick unserem altruistischen Selbstverständnis zuwider läuft, konkret die „Zeitlichkeit” der Beziehung zwischen Hausarzt und Patient als tatsächlich angemessen honorierte Zeit in einem neuen Abrechnungssystem zu verankern. Ohne diesen unverzichtbaren Bezug zur Realität ist alles Nachdenken über die spezifisch hausärztliche Arzt-Patienten-Beziehung graue Theorie aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft, vielleicht mit vermehrter Tiefenschärfe aber ohne Weitblick …

Angelika Leyk, Erlangen

Dr. A. Leyk

Allgemeinärztin · Psychotherapie

Fürther Str. 55

91058 Erlangen

Email: angelikaleyk@aol.com

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