Zentralbl Chir 2008; 133(2): 166-167
DOI: 10.1055/s-2008-1004764
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Intraoperative Flüssigkeitstherapie”

“Intraoperative Fluid Therapy”W. Schwenk1
  • 1Universitätsklinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Thoraxchirurgie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte
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Publication Date:
15 April 2008 (online)

Die intraoperative Infusionstherapie ist in den letzten 50 Jahren zum unverzichtbaren Bestandteil der Behandlung von Patienten bei operativen Eingriffen geworden. Der prinzipielle Nutzen einer intraoperativen Infusionsgabe steht heute sowohl für kleinere ambulante Eingriffe als auch für ausgedehnte große viszeral-, gefäß-, thorax- oder unfallchirurgische Eingriffe außer Frage [1]. Nach einem halben Jahrhundert der tagtäglichen intraoperativen Verabreichung von Infusionslösungen überrascht es jedoch, dass heute immer noch keine einheitlichen Empfehlungen zur Art und Menge infundierter Flüssigkeiten bestehen, die durch hochwertige, klinische, randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) belegt sind. Im Gegenteil, lange Zeit vermeintlich sinnvolle „liberale” Infusionskonzepte sind durch jüngere randomisierte, kontrollierte Vergleiche mit sogenannten „restriktiven” Infusionsregimes infrage gestellt worden [2] [3] [4].

Das Manuskript von Nicole Lindenblatt u. Mitarb. [5] trägt zu einer hochaktuellen und kontrovers geführten Diskussion bei, indem es das perioperative Infusionsregime der Universitätsklinik Rostock bei elektiven Pankreasresektionen vorstellt. Intraoperativ wurden 13,9 (7,4-47,7) ml / kg / h kristalloide und kolloidale Lösungen verabreicht, dies entspricht einer intraoperativen Gesamtinfusionsmenge von etwa 5,3-6,4 Litern oder 850-1020 ml pro Stunde Operationsdauer. Zusätzlich wurden innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Operation 2,9 ml / kg / h Flüssigkeiten infundiert, was einer zusätzlichen Infusionsmenge von etwa 4,5-5,0 Litern entspricht. Insgesamt erhielten die Patienten am OP-Tag etwa 9,8-11,4 Liter Infusionen - es handelt sich also zweifelsohne um ein „liberales” Infusionskonzept. Trotz dieser Infusionsmengen war die intraoperative Urinausscheidung mit etwa 780 ± 80 ml / h gering und 74 % der Patienten wurden intraoperativ mit Katecholaminen behandelt, davon 54 % mit Noradrenalin. Unter diesem Infusionsregime konnten keine Unterschiede in der Inzidenz chirurgischer Komplikationen bei Patienten mit etwas geringerem (< 10 ml / kg / h = 4,4 l intraoperativ), mäßigen (10-15 ml / kg / h = 4,4-6,5 l intraoperativ) und höherem (> 15 ml / kg / h = 6,5 l intraoperativ) Infusionsvolumen festgestellt werden. Zudem fanden die Autorinnen und Autoren keine relevanten Unterschiede in der Morbidität zwischen den Rostocker Ergebnissen und den Publikationen pankreaschirurgischer Zentren. Lindenblatt et al. diskutieren die pathophysiologischen Grundlagen der perioperativen Infusionstherapie sowie mögliche Auswirkungen verschiedener Infusionsregimes auf Makrohämodynamik, Wund- und Anastomosenheilung, Darmwandödem, Darmfunktion und Gerinnung ausführlich. Neuere RCT zum Vergleich „liberaler” und „restriktiver” Infusionsregimes werden erläutert und moderne, an der Optimierung des kardialen Schlagvolumens orientierte („goal-directed”) Infusionsregimes und ihre Auswirkungen auf Ileusdauer, Rekonvaleszenz und Krankenhausverweildauer erwähnt.

Trotz dieser detaillierten Auseinandersetzung mit der aktuellen Literatur ziehen Lindenblatt et al. nach Ansicht des Autors bedauerlicherweise eine irreführende Schlussfolgerung, indem sie resümieren dass „die Daten (der Rostocker Klinik im Vergleich zu den Ergebnissen anderer Serien von Pankreasresektionen aus der Literatur der Jahre 1991-2004 zeigen), dass die intraoperative Flüssigkeitsgabe im Rahmen der empfohlenen Menge von 10-15 ml / kg / h keine negativen Auswirkungen auf die Komplikationsrate nach Pankreasresektionen hat.” Diese Schlussfolgerung ist aus zwei Gründen nicht gerechtfertigt:

weil Lindenblatt et al. und die Autoren der zitierten Arbeiten zur Pankreaschirurgie sich fast immer auf lokal-chirurgische Komplikationen beschränken und somit die Bedeutung der allgemein-internistischen Komplikationen vernachlässigen und weil in den zitierten Arbeiten zur Pankreaschirurgie des letzten Jahrzehnts die perioperative Infusionsbehandlung keine Erwähnung findet. Angesichts der weltweiten Praxis kann aber davon ausgegangen werden, dass auch in diesen Zentren „liberale” Infusionsregimes zur Anwendung kamen.

Somit kann aus den vorgelegten Daten ausschließlich gefolgert werden, dass unter „liberaler” perioperativer Infusionstherapie keine besseren Ergebnisse zu erzielen sind. Ob die Inzidenz chirurgischer und allgemeiner Komplikationen durch eine veränderte Infusionsbehandlung reduziert werden könnte, ist für Pankreasresektionen weiterhin unklar.

Der Einfluss der perioperativen Infusionsbehandlung auf lokale und allgemeine Komplikationsquoten wurde nach mittelgroßen viszeralchirurgischen Eingriffe durch Brandstrup u. Mitarb. eindrucksvoll nachgewiesen [2]. Nach „restriktivem” Infusionskonzept sank die Gesamtkomplikationsquote elektiver kolorektaler Resektionen im Vergleich zum „liberalen” Flüssigkeitsregime von 40 % auf 21 %, Majorkomplikationen nahmen von 18 % auf 8 % ab, Minorkomplikationen von 36 % auf 15 %, Gewebeheilungsstörungen von 22 % auf 11 % und kardiopulmonale Komplikationen von 17 % auf 5 %. Vergleichbare randomisierte, kontrollierte Daten zu größeren operativen Eingriffen wie Ösophagektomien, Gastrektomien oder Pankreaskopfresektionen liegen bislang leider nicht vor. Nisanevich et al. schlossen in ihre randomisierte, kontrollierte Studie zum Vergleich eines intraoperativen „liberalen” Regimes (ca. 880 ml / h Operationszeit) mit einer „restriktiven” Gruppe (ca. 290 ml / h Operationszeit) zwar auch Patienten mit Pankreasresektionen ein und konnten einen günstigeren postoperativen Verlauf nach „restriktiver” Infusionstherapie nachweisen [4]. Dieses Ergebnis ist aber nicht ausreichend, um eine „restriktive” Infusionsgabe bei elektiven Pankreasresektionen generell zu befürworten, da die Fallzahl der pankreasresezierten Untergruppe zu gering ist, um relevante Unterschiede nachzuweisen, und da in dieser Studie ausschließlich Ringerlaktat-Lösung infundiert wurde, ein Konzept, das nicht den europäischen Gepflogenheiten mit gemischt kristalloiden-kolloidalen Infusionsregimes entspricht.

Trotz der fehlenden RCT bei größeren Operationen, muss die „liberale” perioperative Infusionstherapie kritisch hinterfragt werden. Holte und Kehlet [1] wiesen in einer systematischen Literaturübersicht nach, dass aus den vorliegenden randomisierten, kontrollierten Studien keine Empfehlungen zu Art oder Volumen der perioperativen Infusionen abgeleitet werden können. Die Ursachen dafür waren vielfältig: Heterogene Studienpopulationen, Evaluation einer Vielzahl verschiedener Surrogatparameter, wenige Studien mit klinisch relevanten Zielkriterien und zu geringe Fallzahl zur adäquaten Analyse relevanter Endpunkte wie Morbidität oder Letalität. Zudem lagen die meisten Daten zur Infusionsbehandlung nur für kritisch kranke Patienten unter intensivmedizinischen Bedingungen vor. Die Übertragung dieser Ergebnisse auf elektive Eingriffe bei vergleichsweise „gesunden” Patienten ist problematisch und die unreflektierte Fortsetzung des „liberalen” Flüssigkeitsregimes bei elektiven Eingriffen heute nicht mehr angemessen. Andererseits zeigen RCT bei kleineren, ambulanten Operationen jedoch, dass eine zu starke „Restriktion” der intraoperativen Infusionsmenge klinisch relevante Nachteile haben kann [6] [7].

In Zukunft sollte es daher eine vordringliche chirurgische Aufgabe sein, hochwertige interdisziplinäre RCT zu konzipieren, welche folgende Aspekte ausreichend berücksichtigen:

Homogene Patientenkollektive durch Beschränkung auf einzelne standardisierte Operationsverfahren, Auswahl klinisch relevanter Endpunkte (lokale und allgemeine Komplikationen, gastrointestinale Atoniedauer, postoperative Krankenhausverweildauer, Lebensqualität), ausreichende Fallzahl durch multizentrische Patientenrekrutierung und Definition moderner evidenzbasierter perioperativer Behandlungspfade, in deren Verlauf die Bedeutung der Infusionstherapie gezielt evaluiert werden kann.

Generell müssen dabei folgende Aspekte der intra- und postoperativen Infusionstherapie evaluiert werden:

Art der verabreichten Infusionslösungen (z. B. kristalloide versus kolloidale Lösungen), Menge der verabreichten Infusionslösungen (z. B. „restriktive” versus „liberale” Konzepte) und Stellenwert individualisierter Konzepte (z. B. „zielorientierte” versus „standardisierte” Infusionstherapie).

Die Bedeutung perioperativer Behandlungsmaßnahmen ist in den vergangenen Jahren durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig nachgewiesen worden. Das bestmögliche postoperative Resultat entsteht nur aus der Kombination perfekter chirurgisch-operativer und interdisziplinär-perioperativer Behandlung. Hier besteht ein erheblicher Nachholbedarf für hochwertige, randomisierte, kontrollierte Multizenterstudien unter Berücksichtigung chirurgischer Aspekte der perioperativen Medizin. Durch die Gründung der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft für Perioperative Medizin (CAPM) und die Bildung des deutschlandweiten Netzwerks für chirurgische Studien (CHIR-Net), sind alle Voraussetzungen zur Durchführung hochwertiger chirurgisch initiierter randomisierter, kontrollierter Studien auf dem Gebiet der perioperativen Infusionstherapie gegeben. Fraglich bleibt, ob die deutsche Chirurgie sich gemeinsam mit den Partnern aus der Anästhesie und Intensivmedizin dieser wichtigen Fragestellungen annehmen oder auf methodologisch hochwertige Antworten aus dem Ausland warten wird.

Literatur

  • 1 Holte K, Kehlet H. Fluid therapy and surgical outcomes in elective surgery: a need for reassessment in fast-track surgery.  J Am Coll Surg. 2006;  202 971-989
  • 2 Brandstrup B, Tonnesen H, Beier-Holgersen R, Hjorts E, Ording H, Lindorff-Larsen K et al. Effects of intravenous fluid restriction on postoperative complications: comparison of two perioperative fluid regimens: a randomized assessor-blinded multicenter trial.  Ann Surg. 2004;  240 386-388
  • 3 Lobo D, Bostock K, Neal K R, Perkins A C, Rowlands B, Allison S. Effect of salt and water balance on recovery of gastrointestinal function after elective colonic resection: a randomised controlled trial.  Lancet. 2002;  359 1812-1818
  • 4 Nisanevich V, Felsenstein I, Almogy G, Weissman C, Einav S, Matot I. Effect of intraoperative fluid management on outcome after intraabdominal surgery.  Anesthesiology. 2005;  103 25-32
  • 5 Lindenblatt N, Park S, Alsfasser G, Gock M, Klar E. Intraoperative Flüssigkeitstherapie bei Pankreasresektionen.  Zentralbl Chir. 2008;  133 168-175
  • 6 Holte K, Klarskov B, Christensen D S, Lund C, Nielsen K G, Bie P et al. Liberal versus restrictive fluid administration to improve recovery after laparoscopic cholecystectomy: a randomized, double-blind study.  Ann Surg. 2004;  240 892-899
  • 7 Yogendran S, Asokumar B, Cheng D C, Chung F. A prospective randomized double-blinded study of the effect of intravenous fluid therapy on adverse outcomes on outpatient surgery.  Anesth Analg. 1995;  80 682-686

Professor Dr. med. W. Schwenk

Universitätsklinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Thoraxchirurgie · Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte

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Email: wolfgang.schwenk@charite.de

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