Diabetologie und Stoffwechsel 2008; 3(3): 172-173
DOI: 10.1055/s-2008-1076807
Kommentar

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die ACCORD-Studie und die Probleme bei der Interpretation der Ergebnisse

The ACCORD Study and the Difficulties Interpreting its ResultsA. Thomas, M. Hanefeld
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Publication Date:
16 June 2008 (online)

Die Nachricht, die uns in der ersten Februarwoche erreichte war zweifelsohne ein Paukenschlag: der vorzeitige Abbruch des Therapiearms zur intensiven glykämischen Kontrolle aus der ACCORD-Studie durch die Behörden in den USA. Die Fakten sind mittlerweile umfassend referiert worden. Seit dem Jahr 2001 wurden in 77 Zentren in den USA und in Kanada 10 251 Patienten mit Typ-2-Diabetes eingeschlossen, bei denen bereits kardiovaskuläre Ereignisse aufgetreten waren oder die neben dem Diabetes mellitus mindestens zwei weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren des Metabolischen Syndroms aufwiesen. In drei Therapiezweigen, nämlich antihypertensive Therapie, Lipidsenkung und Blutzuckersenkung wurde untersucht, ob sich die Rate weiterer kardiovaskulärer Schäden durch normnahe bzw. normale Werte verringern lässt. Bei der glykämischen Kontrolle bestand das Ziel der intensivierten Therapie im Erreichen eines HbA1c-Wertes im Bereich von stoffwechselgesunden Personen (< 6 %), wozu alle verfügbaren therapeutischen Optionen eingesetzt wurden (alle Klassen von oralen Antidiabetika bis hin zur Intensivierten konventionellen Insulintherapie, einschließlich aller Kombinationen, weiterhin auch Exenatide). In diesem Arm der ACCORD-Studie gelang es im Beobachtungszeitraum über vier Jahre den HbA1c-Wert auf durchschnittlich 6,4 % zu bringen. Die Vergleichsgruppe wurde dagegen entsprechend den Standards behandelt, was seit den Erkenntnissen der UKPDS einem Ziel-HbA1c von 7,0 bis 7,9 % entspricht. Der tatsächlich erreichte mittlere Wert lag bei 7,5 %. Überraschenderweise traten in der intensiviert behandelten Gruppe 257 Todesfälle, in der Kontrollgruppe jedoch nur 203 solcher Ereignisse auf. Das bedeutet, dass die Mortalitätsrate um ca. 20 Prozent erhöht war, wenn eine aggressive Blutzuckereinstellung vorgenommen wurde. Dieses Zwischenergebnis hat schließlich zum Abbruch dieses Studienzweigs geführt (die anderen beiden Zweige werden bis 2009 fortgeführt).

Soweit die Fakten. Was nun einsetzt ist die Suche nach Erklärungen und teilweise auch Spekulationen über die Gründe. Sicher handelte es sich um eine mehr oder weniger kardial stark vorgeschädigte Klientel mit einer mittleren Diabetesdauer von 10 Jahren. Diese ungünstigen Ergebnisse sind daher nicht automatisch auf alle Patienten mit Diabetes übertragbar.

Eine erhöhte Rate an Hypoglykämien als mögliche Ursache wurde nicht berichtet. Eine Häufung nächtlicher Hypoglykämien und damit assoziierter Herzrhythmusstörungen kann aber nicht ausgeschlossen werden. Schwierig ist zu beurteilen, ob die Medikation eine Rolle gespielt hat. Die aggressive Senkung verschiedener Faktoren des metabolischen Syndroms hatte natürlich eine sehr umfangreiche Medikation zu Folge. Es dürfte unmöglich sein in diesem Bereich zu einer klärenden Antwort zu gelangen, da zahlreiche Einflüsse durch unterschiedliche Wirkstoffe gegeben sind, wodurch Interferenzen möglich sein könnten. Bei dieser Vielzahl dürfte trotz der großen Anzahl von Patienten eine Subgruppenanalyse schwer fallen. Prinzipiell sind Subgruppenanalysen nur dann zulässig, wenn die primäre Zielgröße erreicht wurde.

Wir wollen uns hier nicht der Diskussion über die in den verschiedenen Leitlinien der ADA bzw. der DDG empfohlenen HbA1c-Zielwerte anschließen und darüber, ob die aggressivere Blutzuckersenkung bei diesen kardiovaskulär geschädigten Patienten die Mortalitätsrate erhöht hat. Dazu hätten die Ergebnisse mit einer kardial nicht vorgeschädigten Klientel kontrolliert werden müssen. Auch müssen noch weitere Daten abgewartet werden. Bisher orientieren sich die Aussagen auf den HbA1c-Wert. Beispielweise dürften auch die Nüchternblutzuckerwerte interessant sein. Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass eine bereits im Jahr 2000 von M. Wie et al. (Circulation 2000; 101: 2047-2052) veröffentlichte prospektive Kohortenstudie mit 40 069 Patienten zeigte, dass sowohl unphysiologisch hohe, als auch niedrige Nüchternglukosespiegel die kardiovaskuläre Mortalität erhöhen. Im Vergleich zum Wertebereich zwischen 80-109 mg / dl (4,4-6,1 mmol / l) erhöhte sich die kardiovaskuläre Mortalität bei Werten < 70 mg / dl (< 3,9 mmol / l) auf das 3,3-fache, bei Werten von 70-79 mg / dl (3,9-4,4 mmol / l) auf das 2,4-fache. Diese „U-Kurve” könnte auch in dem Glykämiezweig der ACCORD-Studie aufgetreten sein.

Als problematisch erscheint in diesem Zusammenhang wieder einmal die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf den HbA1c-Wert. Es steht außer Frage, dass dieser 1968 erstmals durch S. Rahbar (Clin Chim Acta 1968; 22: 296-298) beschriebene Parameter die mittleren Blutzuckerwerte gut repräsentiert, was nicht zuletzt auch die Ergebnisse der ADAG-Studie bestätigten (vorgestellt auf dem EASD 2007, genutzt in dem Consensus Statement von ADA, EASD und IDF; Diabetes Care 2007; 30: 2399-2400). Seinen Erfolg verdankt der Parameter auch dem evaluierten Zusammenhang mit der Entwicklung diabetischer Folgeerkrankungen, zum Beispiel in der DCCT oder UKPDS. Die DCCT zeigt jedoch bereits eine diskussionswürdige Dissonanz: die Subgruppenanalyse von Patienten mit gleichem HbA1c-Wert, erreicht mit intensivierter (ICT, CSII) beziehungsweise konventioneller (CT) Insulintherapie ergab ein deutlich geringeres Risiko für die Entwicklung der Retinopathie unter der intensivierten Therapie (Verringerung um mehr als 60 % für alle Subgruppen; DCCT Group; Diabetes 1995; 44: 968-983). Die Spekulationen darüber standen niemals im Zentrum der Diskussion - zu faszinierend ist die Beurteilung des therapeutischen Erfolges anhand eines einzelnen Parameters, der sich auf sehr einfache Weise in der täglichen Routine ermitteln lässt. Fakt ist aber, dass ein bestimmter HbA1c-Wert auf sehr unterschiedliche Weise erzielt werden kann: mit geringen oder mit großen Glukoseschwankungen, was die postprandialen Glukoseauslenkungen mit einschließt. Es gibt signifikante Belege, dass unphysiologisch hohe postprandiale Auslenkungen einen Risikofaktor für makrovaskuläre Erkrankungen darstellen. Sie stehen im Mittelpunkt einer Kaskade von diabetogenen und atherogenen Ereignissen, wie erhöhter Insulinresistenz, postprandialer Dyslipidämie, erhöhtem oxidativen Stress, Verschiebung des Gleichgewichts in der Gerinnungskaskade, endothelialer Dysfunktion usw. (Hanefeld M; Diabetologie 2007; 2: 362-369). Dieser für Patienten mit Typ-2-Diabetes gut belegte (DECODE Study Group, Arch Intern Med 2001; 161: 397-405; Hanefeld et al., Diab Med 2000; 17: 835-840), und auch in kontrollierten randomisierten Studien bewiesene Sachverhalt setzt aber voraus, dass die postprandiale Hyperglykämie auch diagnostiziert wurde. Das erfordert zumindest postprandiale Blutzuckermessungen (STOP-NIDDM [JAMA], MERIA [European Heart Journal]).

Das Ergebnis der ACCORD-Studie ist ein Beispiel für die nicht ausreichende Bewertung des therapeutischen Erfolges über den HbA1c-Wert allein. Nüchternglukose, postprandiale Glukose und die Glukoseauslenkungen im Tagesverlauf wären in die glykämische Beurteilung zusätzlich einzubeziehen. So zeigt sich, dass in der Diabetologie nach wie vor ein großer Teil des wahren glykämischen Verlaufs außerhalb der Beobachtung liegt. Punktuelle Blutzuckerwerte und der Feedbackparameter HbA1c bieten nur ein lückenhaftes Bild, welches jedoch die Grundlage für die Diabetestherapie in der ACCORD bildete.

Eine umfassende Charakterisierung der Glykämie bietet nur das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM), dass derzeit leider noch recht preisintensiv und damit in der Alltagsroutine nicht in breitem Umfang einsetzbar ist. Auch wenn CGM in einer Studie wie der ACCORD noch nicht relevant war lässt sich die Aussage von L. Monnier bekräftigen: „Obwohl die Bestimmung der MAGE (mittlere Amplitude der glykämischen Auslenkungen) das kontinuierliche Glukosemonitoring erfordert glauben wir, dass dieser Parameter der „Gold-Standard” für die Bewertung der glykämischen Fluktuationen in allen prospektiven internationalen Studien sein sollte. Weiterhin glauben wir, dass zusätzliche Studien notwendig sind zur definitiven Bestimmung des Einflusses der glykämischen Variabilität auf die Pathogenese von mikro- und makrovaskulären Komplikationen des Diabetes” (Monnier L et al.: Diabetes Care 2007; 30: 185-186).

Mit einer solchen Diagnostik wäre der Spielraum für Spekulationen in Bezug auf die Ergebnisse der ACCORD-Studie wesentlich eingeschränkt und hätte klare Aussagen über die Konsequenzen für die Diabetestherapie zur Folge. Zukünftigen Studien werden durch die Anwendung von CGM sicher besser interpretierbare Ergebnisse liefern.

Prof. Dr. M. Hanefeld

Zentrum für klinische Studien · Forschungsbereich Endokrinologie und Stoffwechsel · GMT-TUD GmbH

Fiedlerstraße 34

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