Diabetologie und Stoffwechsel 2008; 3(3): 151-152
DOI: 10.1055/s-2008-1076839
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Evidenz-basierte medikamentöse Adipositas-Therapie

Evidence Based Pharmacotherapy for ObesityG. Klose1
  • 1Gesundheit Nord Bremen, Klinikum Links der Weser, Klinik für Innere Medizin
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Publication Date:
16 June 2008 (online)

Der Aufmerksamkeitsgrad von Adipositas nähere sich dem des Klimawandels, hieß es kürzlich - wohl ironisch - in den BBC-News unter der Berichterstattung zum Sorgerechtsentzug für eine angeblich ihren Sohn überfütternde Mutter. Weiterer aktueller Ausdruck des Problembewusstseins war die mediale Plattform „Tagesschau”, die der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Horst Seehofer zur Ergebnismitteilung der Nationalen Verzehrsstudie II erhielt: 66 % der Männer und 51 % der Frauen sind übergewichtig, jeder Fünfte ist adipös. Die auch in dieser Studie gelungene Herausarbeitung gesellschaftlicher Bedingungen als relevante Einflussgröße macht eine breitere pharmakotherapeutische Antwort auf die Adipositas-Epidemie schon vom Ansatz her hinterfragbar.

Drei Arzneimittel sind zur Therapie von Adipositas zugelassen, Orlistat, Sibutramin und Rimonabant.

Ist der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschuss, dass für diese Medikamente trotz überwältigender Datenlage zur klinischen und gesundheitsökonomischen Relevanz von Adipositas keine Verordnungsfähigkeit zulasten der GKV besteht (Lifestyle Arzneimittel nach § 34 Abs. 1 n. F. Satz 7 SGB V) ein sozialmedizinisch unauflösbares Paradox?

Zwei neuere Metaanalysen [1] [2], eine Stellungnahme zur Perspektive rezeptfreier „Over-the-Counter”-Abgabe von Orlistat [3] und die ersten Ergebnisse Adipositas wirksamer Medikation (Rimonabant) auf einen „intermediären” klinischen Endpunkt, intravaskulärer Ultraschall (IVUS) [4], sind die Grundlage des folgenden Kommentars zur Evidenzbasis medikamentöser Adipositas-Therapie.

Die Daten eignen sich für eine Bestandsaufnahme der Wirkungen und unerwünschten Arzneiwirkungen. Sie sind Grundlage für eine Nutzenbewertung und Voraussetzung für Kosten-Nutzen-Analysen.

Zu einer negativen Energiebilanz, der Voraussetzung jeglicher Adipositastherapie, trägt Orlistat ausschließlich peripher durch Hemmung gastrointestinaler Lipasen bei.

Zentrale, die Nahrungsaufnahme senkende Angriffspunkte, haben Sibutramin als Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer sowie Rimonabant als erster Vertreter einer neuen Substanzklasse, der Endocannabinoid-Rezeptor-Antagonisten. Weitere periphere Wirkungen dieser Mechanismen sind beschrieben.

Die größere Beachtung der aktuellen Metaanalysen für Adipositas wirksame Pharmakotherapie beruht auf deren eher skeptischem Tenor durch Betonung der Mäßigkeit der Wirkung, fehlender Belege für eine positive Wirkung auf Patienten relevante Endpunkte und Sicherheitsbedenken. Ein Kommentar zur in der STRADIVARIUS-Studie nicht erreichten Signifikanz für den primären koronaranatomischen Endpunkt steht unter der Überschrift „The Hope and Fear of Rimonabant”.

Die Metaanalyse von Diana Rucker et al. im British Medical Journal Ende 2007 wird als Zusammenfassung eines aktuellen systematischen Reviews der Cochrane-Collaboration gekennzeichnet [1].

Berücksichtigt wurden Plazebo-kontrollierte Studien von mindestens einem Jahr Dauer zum Effekt auf den jeweils primären Endpunkt Körpergewicht, auf kardiovaskuläre Risikofaktoren, kardiovaskuläre Mortalität und Morbidität sowie Gesamt-Mortalität.

Die Einschlusskriterien für die Metaanalyse erfüllten 30 Studien, von denen 16 Orlistat (n = 10 631), 10 Sibutramin (n = 2 623) und vier Rimonabant (n = 6 365) betrafen. Die über Plazebo hinausgehende Gewichtsabnahme unter Orlistat betrug 2,9 kg (95 % CI 2,5-3,2 kg). Gewichtsreduktions- bzw. Gewichtserhaltungsstudien unter Sibutramin zeigten gegenüber Plazebo 4,2 kg Gewichtsabnahme (95 % CI 3,6-4,7 kg). Mit Rimonabant verloren die Patienten durchschnittlich 4,7 kg (95 % CI 4,1-5,3 kg).

Weiteres Wirksamkeitskriterium für Adipositastherapie ist der Anteil von Studienteilnehmern, die mehr als 5 % und mehr als 10 % ihres Ausgangsgewichts senken konnten. In diesen Kategorien lagen 21 und 12 % mit Orlistat, 32 und 18 % unter Sibutramin und 33 und 19 % mit Rimonabant.

Erreichte sekundäre Endpunkte für Orlistat sind die Senkung der Typ-2-Diabetes mellitus Inzidenz in der vierjährigen XENDOS-Studie, Bauchumfangsabnahme, BMI-Verringerung, Blutdrucksenkung, Glukose- und HbA1C-Senkungen, sowie Abnahmen von Gesamtcholesterin, LDL-Cholesterin und HDL-Cholesterin. Sibutramin verringerte signifikant BMI, Bauchumfang und Triglyzeride, HDL-C stieg an.

Unter Rimonabant nahm der Leibesumfang (- 3,89 cm), gängiger Ausdruck abdomineller Adipositas, signifikant gegenüber Plazebo ab. Ebenso systolischer und diastolischer Blutdruck und Triglyzeride. Zur positiven Beeinflussung metabolischer Risikofaktoren gehörte ferner der Anstieg von HDL-C, und in der RIO-Diabetes-Studie eine signifikante Senkung von Nüchternglukose und HbA1C.

An unerwünschten Arzneimittelwirkungen wurden für Orlistat die wirkungs-immanenten gastrointestinalen Nebenwirkungen (Häufigkeit 15-30 %) aufgeführt.

Mit Sibutramin sind durch adrenerge Wirkungen erklärbare Erhöhungen des systolischen (1,7 mm) und diastolischen (2,4 mm) Blutdrucks, Pulsbeschleunigung (4,5 Schläge / min) verbunden. Mit einer Häufigkeit zwischen 7 und 10 % ist mit Schlafstörungen, Nausea und trockenem Mund zu rechnen.

Die unter Rimonabant dokumentierte Zunahme psychiatrischer Störungen (Depression, Angst, Irritabilität und Aggression) findet aktuell die größte Beachtung. Hierzu gehört eine weiter aufgeschobene Zulassung durch die FDA in den USA sowie die Reaktion des Herstellers, die durch die EMEA festgelegte Aktualisierung der Fachinformation als „Rote Hand” Brief zu kommunizieren. Er beinhaltet die Kontraindikationen für Rimonabant bei „bestehender schwerer depressiver Erkrankung und / oder einer bestehenden antidepressiven Therapie.”

Wirksamkeit und Sicherheit von Rimonabant sind Gegenstand der ebenfalls Ende 2007 im Lancet publizierten Metaanalyse einer renommierten Adipositas-Arbeitsgruppe aus Kopenhagen [2]. Auswertbar waren die Studien des RIO- (Rimonabant in Obesity) Programms. Der im Durchschnitt erreichten 4,7 kg Gewichtsabnahme stand die für unerwünschte Ereignisse insgesamt errechnete Number needed to harm von 25 gegenüber. Schwere Nebenwirkungen wurden 1,4-mal häufiger gefunden ([Abb. 1]) und Hintergrund der um den Faktor 3 gegenüber Plazebo erhöhten Abbruchrate waren Angstörungen.

Abb. 1 Metaanalyse zu Wirksamkeit und Sicherheit von Rimonabant: OR für schwere unerwünschte Ereignisse gegenüber Plazebo (2).

Eine Schlussfolgerung der Autoren ist, der Möglichkeit psychiatrischer Nebenwirkungen unter Rimonabant erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen.

Ein die oben besprochene Metaanalyse im British Medical Journal begleitendes Editorial zur rezeptfreien Abgabe von Orlistat setzt sich kritisch mit dem Nutzen Adipositas wirksamer Pharmakotherapie auseinander [3]. Eine 60-mg- (der Hälfte der in den Studien untersuchten Dosis) Darreichungsform von Orlistat (Alli, GlaxoSmithKline) ist over the counter zu erhalten. Wenn selbst in Adipositas-Pharmakotherapie-Studien die hohe Abbruchrate ein relevantes Qualitätsmanko (bis 40 %) ist, muss für „real world conditions” mit Therapiezeiten gerechnet werden, die bezüglich eines Gesundheitsnutzens völlig sinnlos sind. Gareth Williams empfiehlt der Zulassungsbehörde, sich an die Kernempfehlungen der WHO zu erinnern: weniger essen und mehr körperliche Aktivität. Er warnt vor der mit dem breiten Einsatz von Antiadiposita möglicherweise verbundenen Illusion, die Probleme mit Pillen zu lösen.

Zur Bestandsaufnahme der derzeitigen Evidenz medikamentöser Adipostas-Therapie gehört die Nutzenbewertung. Studienergebnisse mit klinischen Endpunkten liegen nicht vor, abgesehen vielleicht von Verringerung der Inzidenz von Typ-2-Diabetes mellitus.

Hohes Interesse hat ein vaskulärer, anatomischer Endpunkt, Ziel der STRADIVARIUS-Studie zum Effekt von Rimonabant auf die Atheroskleroseprogression bei Patienten mit abdominaler Adipositas und koronarer Herzkrankheit [4].

In die Plazebo-kontrollierte Doppelblindstudie wurden 839 Patienten eingeschlossen. Nach 18 Monaten war für den primären Endpunkt PAV (Prozent Atheromvolumen auf Basis intravaskulären Ultraschalls, IVUS) keine Signifikanz erreicht, wohl aber für gefäßanatomische sekundäre Endpunkte.

In anthroprometrischen und Risikofaktor-Parametern war die Studie konsistent mit den besprochenen Rimonabant-Daten, allerdings auch in der Rate psychiatrischer Nebenwirkungen (43,4 vs. 28,4 %).

In Leitlinien eingegangener Konsens besteht in der Annahme klinischen Nutzens bei 5-10 % Gewichtsabnahme. Wesentliche nationale und internationale Leitlinien formulieren als Indikation möglicher Pharmakotherapie konservativ nicht behandelbare Überschreitungen des BMI von 27 bei relevanten Komorbiditäten und einen BMI > 30. Auf die GKV kämen bei Umsetzung der Leitlinien nicht zu bewältigende Kosten zu: 20 % der Erwachsenen, das sind mehr als 60 Millionen der ca. 82 Millionen Einwohner Deutschlands.

Nach SGB V § 35 b hat eine Bewertung des Nutzens und der Kosten von Arzneimitteln zu erfolgen.

Zum explizit aufgeführten Patienten-Nutzen gehören „Verbesserung des Gesundheitszustands, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verlängerung der Lebensdauer, Verringerung der Nebenwirkungen sowie eine Verbesserung der Lebensqualität bei Angemessenheit und Zumutbarkeit einer Kostenübernahme durch die Versichertengemeinschaft”.

Die erwähnten Studien zu Wirkungen und Sicherheit medikamentöser Adipositas-Therapie waren aufwendig und tragen wesentlich zur Bewertung dieser Behandlungsmöglichkeiten bei. Als Proof of Principle für den Nutzen der Adipositas-Therapie überhaupt gilt die Abbildbarkeit einer Mortalitätssenkung durch bariatrische Chirurgie in der SOS-Studie - 14 bis 25 % Gewichtsverlust über mehr als 10 Jahre.

Entscheidende Informationen zum Nutzen, d. h. der positiven Wirkung auf klinische Endpunkte, werden von laufenden Studien wie CRESCENDO (Rimonabant) und SCOUT (Sibutramin) erwartet (ClinicalTrials.gov).

Gegenwärtig liegt es in der Verantwortung des einzelnen Arztes, den individuellen Patienten auf der Basis sorgfältiger Evaluation von Ätiologie, Ausmaß und Risiko der Adipositas differenzialtherapeutisch zu beraten.

Literatur

  • 1 Rucker D et al. Long term pharmacotherapy for obesity and overweight: updated meta-analysis.  BMJ. 2007;  335 1194-1199
  • 2 Christensen R et al. Efficacy and safety of the weight-loss drug rimonabant: a meta-analysis of randomised trials.  Lancet. 2007;  370 706-1713
  • 3 Williams G. Orlistat over the counter.  BMJ. 2007;  335 1163-1164
  • 4 Nissen S et al. Effect of rimonabant on progression of atherosclerosis in patients with abdominal obesity and coronary artery disease: the STRADIVARIUS randomized controlled trial.  JAMA. 2008;  299 1547-1560

Prof. Dr. med. G. Klose

Klinikum „Links der Weser” · Klinik für Innere Medizin

Senator-Weßling-Str. 1

28277 Bremen

Email: gerald.klose@klinikum-bremen-ldw.de

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