Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist oft eine zeitlich unbegrenzte
Entwicklungsstörung. Die Therapie sollte wirksam und verträglich sein, insbesondere
dann, wenn eine Langzeitbehandlung angestrebt wird.
Methylphenidat wird seit mehr als 50 Jahren in Deutschland zur Behandlung der ADHS
eingesetzt und zeichnet sich durch eine hohe Effektstärke (number needed to treat,
NNT = ca. 3-4) und ein moderates Nebenwirkungsprofil (Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit,
Schlaflosigkeit, Magenbeschwerden) aus.
Dass die Therapie der ADHS mehr beinhaltet als die Reduktion der Kernsymptomatik (Unaufmerksamkeit,
Hyperaktivität, Impulsivität) und die Verbesserung des Funktionsniveaus, war ein Hauptaugenmerk
auf dem diesjährigen ADHS-Gipfel in Hamburg.
Über- oder Unterversorgung in Deutschland?
Über- oder Unterversorgung in Deutschland?
Eine Vollerhebung von Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherungen aus
Nordbaden aus 2003 mit ca. 2,2 Millionen Versicherten zeigt beispielhaft und repräsentativ
die Versorgungssituation der von ADHS betroffenen Kinder in Deutschland [7]. Von 11 850 Patienten mit einem Altersgipfel von ca. 9 Jahren, bei denen nach ICD-10
eine hyperkinetische Störung diagnostiziert worden war, zeigten ca. 75% mindestens
eine weitere koexistierende psychiatrische Auffälligkeit (aggressive Verhaltensstörungen,
Störung des Sozialverhaltens, Depression, Angststörung, Zwangsstörung, Sucht). Diese
seien, so der Gesundheitsökonom Prof. Michael Schlander, Mannheim, bei der realen
gesundheitsökonomischen Betrachtung der Kosten-Nutzen-Effektivität künftig mit zu
berücksichtigen.
Zudem ging Schlander auf die aktuelle Versorgungssituation in Deutschland ein [6]: Zwar sei für die letzten 15 Jahre ein 50-facher Anstieg der Verordnungszahlen von
Methylphenidat zu verzeichnen, die individuelle Versorgung gestalte sich jedoch recht
heterogen: Über ein Viertel der kleinen Patienten erhielt nach Analyse der Daten überhaupt
keine Therapie. 40% der ADHS-Patienten bekommen zwar derzeit eine Methylphenidattherapie,
allerdings dauere diese in mehr als 50% der Fälle nicht länger als ein Vierteljahr.
"Die aktuelle Datenlage gibt keine Hinweise auf eine unangemessene Überversorgung
mit Methylphenidat in Deutschland", so die Interpretation Schlanders, "im Gegenteil:
Es ist ein weiterer Anstieg der Verordnungen zu erwarten, der die Unterversorgung
der letzten Jahre korrigieren wird."
Kosteneffektiv therapieren
Kosteneffektiv therapieren
Vor dem Hintergrund aktueller gesundheitspolitischer Diskussionen gewinnen gesundheitsökonomische
Analysen an Gewicht, vor allem dann, wenn mehrere Therapieoptionen zur Wahl stehen.
Eine Analyse der MTA-Studie bezüglich der Wirksamkeit verschiedener Therapieansätze
(individuell angepasste Medikation, Verhaltenstherapie, ihre Kombination sowie die
übliche, unspezifische Standardversorgung) zeigt, dass die Ganztagestherapie mit Methylphenidat
allen anderen Therapieoptionen bezüglich der Kosten-Nutzen-Effektivität deutlich überlegen
ist [8]. Die Behandlungskosten einer intensiven medikamentösen Therapie liegen deutlich
unter den Kosten für verhaltens- und psychotherpeutische Maßnahmen, erläuterte Schlander.
Zudem führten langwirksame Retardpräparate (z.B. OROS®-MPH) zu einer nachweislich
besseren Compliance und einer höheren klinischen Wirksamkeit. Auch habe sich gezeigt,
dass die Gabe von Methylphenidat in der Langzeitbehandlung einen eher protektiven
Effekt bezüglich des diskutierten Suchtrisikos hat [3], [4], [9], wie Prof. Michael Huss, Mainz, erklärte. Möglicherweise unterbricht die Therapie
mit dem Präparat die in vielen Fällen drohende Abwärtsspirale durch einen psychologischen,
aber auch einen direkten biologischen Schutzmechanismus.
Genauso wichtig: Lebensqualität
Genauso wichtig: Lebensqualität
In den klinischen Studien spielen Patientenbedürfnisse bisher eine eher untergeordnete
Rolle. "Diese sind aber gerade bei ADHS zu berücksichtigen", betonte Dr. Martin Gerwe,
Fachbereichsleiter ZNS der Janssen-Cilag GmbH, Neuss, und verwies auf eine Studie,
in der die Lebensqualität von Patienten mit einer unbehandelten ADHS sogar unter der
von Patienten mit einem Asthma bronchiale rangierte [2].
Im sogenannten Discrete-Choice-Experiment müssen sich die Teilnehmer aus mehreren,
nach dem Zufallsprinzip zusammengestellten Kombinationen an positiven und negativen
Therapieeigenschaften für eine entscheiden. Es simuliert die Therapieentscheidung
aus Sicht der Betroffenen auf der Basis ihrer bisherigen Therapieerfahrungen und liefert
valide und robuste Daten als Basis für eine zielgerichtete Optimierung von Therapieangeboten.
"Die Patienten haben eine klare Vorstellung, was eine Therapie leisten soll und erhoffen
sich vor allem eine Stabilisierung ihrer emotionalen und sozialen Lage (Abb. [1])."
Abb. 1 Relative Beweggründe für eine Therapieentscheidung
In zwei prospektiven, nichtinterventionellen Studien wurden die Patienten nach einer
Umstellung von einem kurz wirksamen Methylphenidat [5] bzw. einem lang wirksamen Methylphenidat oder Atomoxetin [10] auf die neue Galenik (OROS®-MPH) bezüglich Symptomatik, Funktionsniveau, Verträglichkeit
und Lebenqualität (gemessen nach dem Inventar zur Erfassung der Lebensqualität, ILK)
untersucht. Die individuelle Therapieentscheidung lag allein beim behandelnden Arzt.
Die Umstellungsgründe waren eine mangelnde Effizienz der Vorbehandlung oder eine Kombination
aus mangelnder Effizienz und dem Auftreten von Nebenwirkungen. Die Studiendauer war
auf je drei Monate angelegt.
Nach der Umstellung von einem kurz wirksamen Methylphenidat auf die neue Galenik (n
= 598, mittleres Alter 10,4 ± 2,6 Jahre) kam es zu einer signifikanten Reduktion der
Symptomatik und zu einer deutlichen Verbesserung des Funktionsniveaus [5]. Ebenso führte die Umstellung von einem lang wirksamen Methylphenidat bzw. Atomoxetin
(n = 180 bzw. 42, mittleres Alter 10,9 ± 2,4 Jahre) zu einer signifikanten Verbesserung
der Effektivität, vor allem am Nachmittag und am frühen Abend [10]. Insgesamt stuften die Patienten bei Erreichen des Studienendes die gewonnene Lebensqualität
fast wieder auf Normalniveau ein (Abb. [2]).
Abb. 2 Verbesserung der Lebensqualität nach Umstellung von kurz wirksamen Methylphenidat
(MPH), einem anderen lang wirksamen Methylphenidat (ER-MPH) und Atomoxetin (ATX) auf
OROS®-MPH gemäß dem ILK (Kinder-/Jugendlichen-Fragebogen)
Bei der Therapieentscheidung: Auf die Bedürfnisse achten
Bei der Therapieentscheidung: Auf die Bedürfnisse achten
Ob und wie man eine Aufmerksamkeitsstörung behandelt, wird individuell gelöst. Neben
den medikamentösen Therapieformen eröffnet der multimodale Ansatz weitere Behandlungsoptionen.
Die Therapieentscheidung sei abhängig von der Belastung im Alltag und der individuellen
Entwicklungssituation des Patienten zu treffen, so Prof. Jörg Fegert, Ulm.
"Wir sind gefordert alle nonformalen Möglichkeiten aus dem "wahren" Leben (Rolle und
Belastungen des Kindes im familiären, schulischen und sozialen Umfeld, Ausdauersport,
Suchtrisiko etc.) systematisch und gewinnbringend für die Kinder einzusetzen", schloss
Prof. Michael Huss, Mainz.
Vor diesem Hintergrund wird in Zukunft eine Ganztagestherapie zur Behandlung der ADHS
im Fokus stehen. Methylphenidat ist in der medikamentösen Therapie der ADHS das Mittel
der 1. Wahl. In der retardierten Form mit der OROS®-Technologie wirkt Methylphenidat
durch die kontinuierliche Wirkstofffreisetzung bis zu 12 Stunden lang und deckt damit
auch die Nachmittage und frühen Abendstunden ab (Fachinformation, Stand: Dezember
2006). Die tägliche Einmalgabe hilft, die Compliance zu verbessern und eine Stigmatisierung
zu vermeiden.
Dr. Sabine Vogel, Heidelberg
Quelle: ADHS-Gipfel 2008 - Perspektiven der ADHS-Behandlung - Von problemzentrierten
zum entwicklungsorientierten Ansatz am 5. und 6. April 2008 in Hamburg
Mit freundlicher Unterstützung der Janssen-Cilag GmbH, Neuss
Spezifische Wirksamkeit von Methylphenidat
Spezifische Wirksamkeit von Methylphenidat
Methylphenidat blockiert die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Dopamin in das präsynaptische
Neuron und erhöht deren Verfügbarkeit im synaptischen Spalt. Bildgebende Untersuchungen
der extrazellulären Dopaminkonzentration zeigten eine starke Korrelation zwischen
Response auf Methylphenidat und der Dichte dopaminerger Transporter (DAT). So war
eine positive Response auf den Wirkstoff mit einer erhöhten DAT-Dichte assoziiert,
genauso korrelierte eine ausbleibende Response mit einer reduzierten DAT-Dichte (bezogen
auf den Mittelwert vor der Behandlung). Aufnahmen mit der funktionellen Magnetresonanztomografie
(fMRT) in einem kognitiven Lernmodell zeigten zudem eine deutliche Zunahme der Aktivierung
bestimmter Hirnregionen bei ADHS-Patienten unter der Gabe von langwirksamen Methylphenidat
[1]. Diese korrelierte ebenso mit einer Therapieresponse. Offensichtlich deckt sich
der dopaminerge Effekt des Wirkstoffes mit einer spezifischen therapeutischen Wirkung,
so die Interpretation von Prof. Walter E. Müller, Frankfurt.