Dtsch Med Wochenschr 2020; 145(09): 577
DOI: 10.1055/a-0952-9590
Editorial

Diabetes 2020 – Prävention und Präzision

Diabetes: Prevention and Precision
Hendrik Lehnert

Die Behandlung des Diabetes hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend individualisiert. Die große Herausforderung besteht nicht nur in einer „maßgeschneiderten“ Therapie, sondern auch in der Umsetzung von Präventionsstrategien und einer begründeten Einschätzung von Krankheitsverläufen und Prognosen. Der Diabetes mellitus (und hier wesentlich mehr der Typ-2 als der Typ-1) muss als heterogenes, pathogenetisch differenziert zu betrachtendes Krankheitsbild begriffen werden. Hieraus muss eine stratifizierte „Clusterbildung“ von Patienten abgeleitet werden, um die Therapiestrategien gezielt einzusetzen. In den 3 Artikeln dieses Dossiers werden genau diese Themen behandelt und auf konkrete Fragen angewandt.

  • Wagner und Fritsche (s. S. 601) widmen sich vor allem der Komplexität des Diabetes Typ-2 (der erst diagnostiziert werden sollte, nachdem z. B. ein Diabetes Typ-1 oder Typ-3 oder MODY ausgeschlossen ist). Die große Mehrheit der Menschen mit Diabetes (in Europa annähernd 90 %) fallen unter diesen Krankheitsbegriff. Dabei wird zunehmend klar, dass innerhalb des Diabetes Typ-2 zahlreiche Subtypen bestehen – und dies nicht nur zum Zeitpunkt der Manifestation, sondern bereits zuvor im Studium des Prädiabetes. Diese Subtypen werden biologisch und phänotypisch definiert und bilden die Basis für eine zielgerichtete Therapie.

  • Hummel et al. (s. S. 609) stellen den aktuellen Stand der Epidemiologie, Diagnostik, Behandlung und vor allem auch Prognose des Gestationsdiabetes vor. Seine Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden; zum einen, weil erhebliche Akutkonsequenzen für Mutter und Fötus in der Schwangerschaft und während der Entbindung bestehen, zum anderen, weil auch ein hohes Risiko für die Mutter besteht, langfristig einen Diabetes Typ-2, aber auch kardiovaskuläre Erkrankungen zu entwickeln. Darüber hinaus zeigen Daten zur epigenetischen Forschung, dass auch beim Fötus das Risiko für deletäre metabolische Folgen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich erhöht ist. Die Prävention und Behandlung eines Prädiabetes vor der Schwangerschaft, aber konsequent auch danach stellt damit eine bedeutsame primärpräventive Aufgabe dar.

  • Die aktuellen Empfehlungen zur Behandlung des Diabetes Typ-2 wurden 2018 zunächst gemeinsam von EASD und ADA verabschiedet; diese haben auch Eingang gefunden in die publizierten Empfehlungen der ADA und jährlichen Praxisempfehlungen der DDG. Auf diese Empfehlungen und die nachfolgende Modifizierung durch die ESC 2019 gehen Müller-Wieland und Marx ein (s. S. 593). Sie schildern sehr eindrücklich, dass die Therapieziele zunächst mit dem Patienten vereinbart werden müssen, dass sie realistisch und überprüfbar sein müssen und dass für die Festsetzung der Behandlung – sei sie pharmakologisch oder nichtpharmakologisch – immer individuelle Charakteristiken relevant sind. Hierzu zählen patienten- und medikationsspezifische Kriterien, aber auch der soziale und ökonomische Kontext. Die Möglichkeiten der medikamentösen Behandlung werden vor dem Hintergrund eines stufentherapeutischen Ansatzes dargestellt. Wichtig ist dabei immer, nicht einen Laborwert des Patienten zu normalisieren, sondern seine Lebenszeit zu erhöhen und die Lebensqualität zu verbessern.

Alle Artikel verdeutlichen, dass die frühzeitige Erkennung des Diabetes, die Berücksichtigung verschiedener Subtypen mit ihrem unterschiedlichen Risikoprofil für Spätkomplikationen sowie die darauf aufbauende zielgerichtete Therapie unsere entscheidenden Aufgaben sind. Die Komplexität des Krankheitsverständnisses eines Diabetes wird fraglos zunehmen, aber damit auch der Erfolg der personalisierten Therapie.

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Prof. Dr. med. Hendrik Lehnert


Publication History

Article published online:
29 April 2020

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