Laryngorhinootologie 2019; 98(10): 722-724
DOI: 10.1055/a-0954-7526
Gutachten und Recht
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Oberlandesgericht entscheidet: Medizinisch wissenschaftliche Leitlinien sind nicht justiziabel

Albrecht Wienke
,
Lisa Hübner
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Publication Date:
14 October 2019 (online)

Medizinisch wissenschaftliche Leitlinien sind mittlerweile fester Bestandteil der medizinischen Wissenschaft und des Berufsalltags der Ärzte in Klinik und Praxis. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hatte die AWMF in Vorbereitung für sein Sondergutachten (publiziert 1995) gebeten, die Entwicklung von Standards, Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften voranzutreiben und zu koordinieren. Als erste Zusammenschau publizierte die AWMF im Januar 1995 als Ergebnis einer Umfrage bei ihren Mitgliedsgesellschaften das Memorandum „Prävention, Standards und zukünftige Entwicklungen in den medizinischen Spezialgebieten“. Die Fachgesellschaften in der AWMF haben die Anregungen des Sachverständigenrats aus dessen Sondergutachten aufgegriffen und begannen, Leitlinien zu entwickeln. Bei der ersten Leitlinienkonferenz der AWMF im Oktober 1995 in Hamburg wurde beschlossen, die Leitlinien auch elektronisch über die seit Mitte 1995 betriebene Website der AWMF zu publizieren.

Seit diesen Anfängen sind mittlerweile an die 1000 solcher Leitlinien in fast allen medizinischen Fachgebieten mit unterschiedlichen Evidenzgraden erarbeitet und ständig aktualisiert worden. Diese Leitlinien sollen Ärzte bei der Versorgung spezifischer Gesundheitsprobleme unterstützen, indem sie systematisch aufgearbeitet den jeweils aktuellen und allgemein anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergeben.

Und obwohl die Existenz der medizinischen Leitlinien in Ärztekreisen kein Novum ist und regelmäßig neue Leitlinien auf den Weg gebracht werden, wirft der Umgang mit Leitlinien immer wieder neue Fragen auf. Die Diskussion um Inhalte, Bedeutung und Verbindlichkeit der medizinisch wissenschaftlichen Leitlinien hält nun schon seit vielen Jahren an. Auch die Rechtsprechung hat sich verschiedentlich zur rechtlichen Bedeutung und Wirkung medizinisch wissenschaftlicher Leitlinien geäußert. Dabei steht der Gedanke im Vordergrund, dass Leitlinien im richtig verstandenen Sinne Handlungsleitplanken für die jeweiligen Ärzte in der Einzelanwendung sein sollen, von denen man im Einzelfall abweichen kann, ggf. sogar abweichen muss. Leitlinien haben daher weder eine haftungsbegründende noch eine haftungsbefreiende Wirkung. Ungeachtet dessen spielen Leitlinien insbesondere in der Arzthaftung und in entsprechenden gerichtlichen Auseinandersetzungen für die Verfolgung vermeintlicher Schadensersatzansprüche eine zunehmende Rolle.

In seiner Entscheidung vom 29.01.2019 (Az. 4 U 41/18) hat das Kammergericht in Berlin die Gelegenheit wahrgenommen, einige rechtlich relevante Fragen rund um die Erstellung, Handhabung und Verbindlichkeit von Leitlinien zu beantworten. Dabei ging es im Kern um die Frage, ob die am Leitlinienverfahren beteiligten Fachgesellschaften und Patientenorganisationen oder andere außenstehende Dritte einen gerichtlich einklagbaren Anspruch darauf haben, bestimmte Inhalte in eine Leitlinie zu implementieren.