JuKiP - Ihr Fachmagazin für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege 2020; 09(06): 226-227
DOI: 10.1055/a-1268-0205
Kolumne

Familie – oder: in guten wie in schlechten Zeiten

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Quelle: Paavo Blåfield/Thieme Gruppe

Mund-Nasen-Schutz, Abstand halten, Hände waschen, Kontakte einschränken. Neuinfektionen, Todesfälle und der R-Faktor. Fakten, die im Moment zu unserem Alltag gehören und die jeder mit mehr oder weniger Interesse zur Kenntnis nimmt. Die Urlaubsreisenden standen da in den Herbst wochen besonders im Fokus und haben die Zahlen auch deutlich steigen lassen. Es vergeht zurzeit aber auch kein Tag, an dem in den Nachrichten nicht darüber gemutmaßt wird, wie viele Menschen sich zu einer Familienfeier treffen können. Dabei kursierte die für mich unglaubliche Zahl von 150 Menschen durch die Meldungen. Wohlgemerkt: 150 Menschen einer Familie! Ich weiß, dass unsere Familie nicht unbedingt der Durchschnitt ist. Wir sind, wenn man die angeheirateten Kinder und die Hunde (weil in unserer Welt ein Hund ja auch Familie ist) mitzählt, neun – sieben Erwachsene und eben zwei Hunde. Alles sehr übersichtlich. Ich kenne auch ein, zwei Menschen aus größeren Familien. So hat zum Beispiel eine Kollegin von mir neun Geschwister, und wenn diese mal alle verheiratet sind und/oder Kinder haben, dann kommt da schon was zusammen. Aber auch hier dürfte die 150 nur schwer zu knacken sein. Dennoch verstehe ich den Wunsch, sich in der Familie zu treffen und durchaus auch zu feiern nur zu gut. Gerade wenn zum Beispiel eine Hochzeit, ein runder Geburtstag, eine Konfirmation, Jugendweihe oder Taufe ansteht. Feiern, die durchaus nur einmal im Leben stattfinden, kommen in diesem Jahr eindeutig zu kurz.

Aber Familie findet ja nicht nur beim Feiern, im Urlaub oder im schnöden Alltag statt oder wenn es gerade passt. Sondern auch in nicht so guten Zeiten, wenn zum Beispiel ein Familienmitglied krank oder in Not ist. Da bedarf es dann oft der Hilfe und des Zusammenhalts der Familie. Der Staat bietet in seinen sozialpolitischen Programmen und in der Familienpolitik viel Unterstützung. Ob für Kinder, Eltern, Allein erziehende, Pflegende oder zu pflegende Menschen. Und das ist auch gut und richtig so. Nicht richtig ist in meinen Augen, wenn sich Familien völlig auf den Staat verlassen. Wenn Angehörige keinerlei Zusammenhalt, Empathie und Initiative zeigen.

Ein Beispiel, das gerade in den letzten Tagen genauso auf unserer Station zu erleben war: Ein Patient um die 70 Jahre wurde in unserer Klinik operiert. Es war ein relativ kleiner Eingriff am rechten Großzeh. Der Mann war freundlich, ruhig, eher bescheiden und kognitiv völlig altersgerecht. Der stationäre Verlauf und die anschließende Wundheilung waren unproblematisch. Er wurde mit Hilfsmitteln ausgestattet, bekam Physiotherapie und wurde von uns umsorgt und gepflegt. Dann kam der Tag, an dem die Entlassung besprochen wurde. Durch die Maßnahmen in der Corona-Situation sind die Besuchszeiten in unserem Haus sehr reglementiert. So kommt es auch, dass wir eher selten mit Familienangehörigen zusammentreffen und irgendwas besprechen können. Also rief ich die Ehefrau zu Hause an, um ihr mitzuteilen, dass ihr Mann am nächsten Tag aus der Klinik geholt werden könne. Blankes Entsetzen. Wie ich mir das vorstellte. Wie er Treppen hochkommen, wie er auf die Toilette gehen oder zum Arzt kommen sollte. Und abholen könnte ihn ohnehin niemand. Besser wäre eine Reha oder Kurzzeitpflege. Als ich ihr den guten Zustand ihres Mannes – wohlgemerkt nach einer kleinen OP am Großzeh – schilderte, war es bei der Ehefrau ganz vorbei. Sie ließ sich meinen Namen geben und beendete das Gespräch.

Kurz danach rief der Sohn des Patienten an. Er zitierte mir sehr bestimmt § 39, Absatz 1a des SGBV, in dem ganz klar die Aufgaben des Krankenhauses respektive meine geregelt seien und die ich an seinem Vater umsetzen solle. Ich wiederum teilte ihm mit, dass ich nichts anderes im Sinn hätte und wir schon seit Jahren unser Entlassmanagement nach diesem Gesetz abarbeiten. Bei uns bekommen alle Patienten neben dem obligatorischen ärztlichen Entlassbrief eine Wundüberleitung, einen Medikamentenplan inkl. Medikamente und Rezepte für sieben Tage, Verbandsmittel für den ersten Verbandswechsel, eine Aufenthaltsbescheinigung und wenn nötig eine Arbeitsbefreiung für sieben Tage. Bei Bedarf wird das Casemanagement des Hauses eingeschaltet, das (wie gesagt bei Bedarf!) weitere Maßnahmen wie Reha, Kurzzeitpflege, Pflegedienste etc. einleitet. Leider sahen weder die Ärzte noch das Casemanagement oder ich in diesem Fall Bedarf für all diese Maßnahmen. Die Familie sah die Angelegenheit anders.

So bestellte ich einen medizinischen Krankentransport mit der Auflage, den Patienten in den ersten Stock zu tragen. Ich organisierte einen ambulanten Dienst für das Wundmanagement und stellte diverse Hilfsmittelrezepte vom Rollstuhl bis zur Toilettensitzerhöhung aus. Der Sohn hatte sich fast durchgesetzt, ließ es sich aber nicht nehmen, noch einmal meinen vollständigen Namen und meine Dienststellung zu erfragen. Ich warte jetzt auf die Beschwerde der Familie und werde mich dieser stellen. Der Patient übrigens, um den es ja die ganze Zeit ging, war peinlich berührt wegen des ganzen Aufwands, der um ihn herum stattfand, und lief am Tag der Entlassung mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor den zwei Sanitätern her, die ihn dann hoffentlich nicht die Treppen hochgetragen haben.

Mein Vater war ab seinem 65. Lebensjahr nach diversen Hirnblutungen bis zu seinem Tod mit 82 Jahren ein pflegebedürftiger Mensch. Außer in medizinischen Notfällen wurde mein Vater zu den wirklich vielen Krankenhausaufenthalten, Rehas, Therapien und was es nicht alles gab von der Familie gebracht und auch wieder abgeholt. Meine Mutter hat ihn umsorgt und gepflegt, und nur weil es die Möglichkeiten von Hilfe gegeben hätte, ist es uns nicht in den Sinn gekommen, alle Möglichkeiten bis zum Letzten auszureizen. Solange es ging, haben wir als Familie zusammengehalten und uns organisiert. Schließlich war es unser Vater, und wir sind eine, wenn auch sehr kleine, Familie.

Ich werde es nie verstehen, was manche Menschen bewegt, das System, wann immer sich die Gelegenheit bietet, zu ihren Gunsten auszuschöpfen. Oft mit dem Argument, dass es ihnen zustünde. Und ich werde auch nie die Beweggründe von Krankenkassen verstehen, die jungen, ansonsten gesunden Leuten nach kleinen medizinischen Eingriffen (wie zum Beispiel einer Hallux-OP) Transporte, Haushaltshilfen etc. bewilligen und anderen, oft älteren Menschen, die nicht so forsch auftreten, bestimmte Maßnahmen verwehren.

Es ist ein Thema, dass mich seit Jahren umtreibt, aber am Ende auch nur mein subjektives Empfinden ist.

In diesem Sinne,

Heidi Günther

hguenther@schoen-kliniken.de



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Article published online:
07 December 2020

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