B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2020; 36(06): 233-234
DOI: 10.1055/a-1286-0956
Editorial

Sport- und Bewegungsförderung in bewegten Zeiten

Liebe Leserinnen und Leser,

Wir erleben gerade sehr „bewegte“ Zeiten – allerdings leider nicht im positiven Sinne. Mit Covid-19 ist eine Krise auf uns zugerauscht, die niemand vorausgesehen hat. Langsamer, aber wuchtiger und ungeachtet der Corona-Krise kriecht weiterhin die Klimakrise heran. Nebenbei liegt die Wirtschaft lahm, und die Weltpolitik spielt verrückt. Sie selbst fragen sich vielleicht gerade aber eher, wie das nächste Woche mit der Kinderbetreuung klappen soll oder ob es nun wieder sicher ist, zur Zahnärztin oder zum Zahnarzt zu gehen. Sie hoffen, dass Ihre Schwester / Ihr Bruder endlich wieder einen Job findet und Ihre Eltern sich nicht doch noch irgendwo anstecken.

Man könnte jetzt sagen, „Aber zum Glück haben wir ja den Sport!“. Und natürlich sind Sport und Bewegung auf ihre Art Teil der Lösung: Corona trifft Menschen mit Vorerkrankungen deutlich härter, gleichzeitig ist körperliche Aktivität für diese Zielgruppe mit umfangreichen Gesundheitswirkungen verbunden. Zudem ist vielen Menschen während des Corona-Lockdowns erst richtig bewusst geworden, wie wichtig ihnen Sport und Bewegung eigentlich sind. Und in Gegenden mit hoher Luftverschmutzung hat Corona viele Todesfälle verursacht. Sauberere Luft wird durch eine Reduktion des Autoverkehrs möglich, also wenn mehr Menschen in den Städten zu Fuß gehen und mit dem Rad fahren. Kurzum, wir müssten als Gesellschaft nur mehr in die Sport- und Bewegungsförderung investieren, dann könnten wir viele unserer Probleme zumindest teilweise lösen.

Doch das ist Wunschdenken. Der Sport hat ein Janusgesicht. Vieles deutet darauf hin, dass die Ausbreitung von Covid-19 auch durch den Sport begünstigt wurde, z. B. durch Skitourismus in Ischgl oder Fußballfankultur in Mailand. Der Sport bringt uns einander näher, doch in Corona-Zeiten ist ausgerechnet das keine gute Idee. Und viele beliebte sportliche Aktivitäten und damit verbundene Phänomene – ob das Skifahren auf Kunstschnee, der Aktivurlaub in fernen, nur mit dem Flugzeug erreichbaren Ländern, oder die unter problematischen Arbeitsbedingungen hergestellte Synthetik-Sportbekleidung – tragen ihren Teil zu CO2-Emissionen und sozialen Problemen bei. Sport und Bewegung sind leider auch oft Teil unserer gesellschaftlichen Probleme.

Wie sehen mögliche Lösungsansätze aus? Die Beiträge in diesem Sonderheft stellen aktuelle Forschungsinitiativen an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Augsburg und Bayreuth vor, die Bewegungsförderung neu und unter Berücksichtigung des komplizierten Geflechts unserer modernen Gesellschaft zu denken versuchen – mit all ihren Widersprüchen, ihrer Bürokratie und Schnelllebigkeit, ihren Ungleichheiten und Komplexitäten. Die Projekte decken ein breites Spektrum an Zielgruppen, Settings und Themen ab – von Frauen in schwierigen Lebenslagen über Auszubildende bis hin zu älteren Menschen mit Demenzrisiko, von der Theorie der Gesundheitsförderung über partizipative Ansätze in der Kommune bis hin zur internationalen Politik. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie sich mit zentralen Herausforderungen auseinandersetzen, vor denen die Sport- und Bewegungsförderung aktuell steht.

Neue Zielgruppen: Allzu oft tragen wir mit unseren Bewegungsförderungsprojekten Eulen nach Athen – wir erreichen nur diejenigen, die ohnehin schon bewegungsaffin sind. Die Bewegungsmuffel hören uns zu selten. Wie kann das geändert werden? Wie erreichen wir Menschen in Schichtarbeit, die nachts arbeiten und tagsüber schlafen? Menschen, die zu wenig Geld und zu viel Stress haben, um sich über ihre tägliche Schrittzahl Sorgen zu machen? Migrantinnen, denen der Burkini den Einlass ins Schwimmbad erschwert? Ältere Menschen, die isoliert leben, sich kaum bewegen und zu viel fernsehen? Menschen mit Multimorbiditäten, die Bewegung eher meiden und nicht als Teil der Lösung ihrer gesundheitlichen Probleme sehen?

Neue Partnerschaften: In unseren eigenen Netzwerken zur Bewegungsförderung (Sportwissenschaft, Bewegungs- und Gesundheitsfachberufe) bewegen wir uns routiniert, kennen die Befindlichkeiten, können Meinungen und Kompetenzen recht gut einschätzen. Wie aber „tickt“ das kommunale Sportamt, und was hat es außer dem etabliertem Vereinssport noch auf dem Radar? Kann man Hausärzt*innen (die doch jetzt schon über zu viel Arbeit und zu wenig Zeit klagen) dazu bringen, Patient*innen mit Vorerkrankungen zusätzlich routinemäßig nach ihrem Bewegungsverhalten zu fragen? Gelingt eine Partnerschaft mit dem Seniorenamt und der Kirche, um ältere Menschen für Bewegung zu erreichen, auch wenn diese Organisationen in ihrer täglichen Arbeit ganz andere Prioritäten setzen als Bewegungsförderung?

Neue Ansätze: Wir sind gut in der Kommunikation und im Umgang mit Patient*innen. Wir haben die Gesundheitssportgruppe im Griff – sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus praktischer Sicht. Wie kann es aber gelingen, verschiedene kommunale Akteure an einen Tisch zu bekommen, um gemeinsam eine bewegungsfreundliche Stadt zu schaffen? Wie kann man Zielgruppen in die Planung von Bewegungsangeboten einbinden, die wirklich ihren Bedürfnissen entsprechen? Und wie schaffen wir es, gemeinsam mit den relevanten Akteuren des Gesundheitswesens Versorgungsketten zu erstellen, die Menschen mit Vorerkrankungen an die Hand nehmen und auf dem Weg hin zu einem aktiven Lebensstil begleiten?

Die in diesem Heft vorgestellten Beiträge, Projekte und Initiativen können keine umfassenden Antworten auf diese Fragen geben, aber sie versuchen, sich diesen Fragen zu stellen. Sie können unser Bewusstsein dafür schärfen, dass Bewegungsförderung eine Aufgabe ist, die wir nicht allein bewältigen können. Und somit ein Thema, das wir in viele gesellschaftliche Teilbereiche tragen müssen. Zu denen, die spontan vielleicht gar nichts damit anfangen können. Und mit Werkzeugen, die wir zum Teil noch erlernen müssen.

Auf die Plätze – fertig – los!

PD Dr. Karim Abu-Omar, Dr. Wolfgang Geidl, PD Dr. Peter Gelius



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Article published online:
02 December 2020

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