Diabetes aktuell 2021; 19(03): 93
DOI: 10.1055/a-1417-2229
Editorial

Ein Marshallplan für das Diabetesmanagement

Antje Bergmann
1   Dresden
,
Peter E.H Schwarz
2   Dresden
› Author Affiliations

Wir alle haben, glaube ich, genug über Diabetes mellitus und COVID-19 gehört. Deswegen möchten wir hier und heute eine prospektive Retrospektive durchdenken. In den letzten 2 Dekaden haben wir die starke Zunahme von Übergewicht und Adiposität toleriert. Das hatte eine Verdoppelung der Anzahl von Menschen mit Diabetes mellitus mit einer wiederum exzessiven COVID-assistierten Morbidität und Mortalität zur Folge.

Einen Teil der Verantwortung für die aktuelle Situation tragen die Krankenkassen ebenso wie einige Fachgesellschaften. Sie haben toleriert, dass moderne Therapien für Adipositas und Diabetes nicht so in den klinischen Alltag Eingang gefunden haben, wie es notwendig gewesen wäre. Wir ärztliche Kollegen wiederum haben uns auf die komplizierten und aufwendig zu betreuenden Patienten konzentriert, anstatt die Remission eines Diabetes zu unserem therapeutischen Ziel zu machen – auch wenn es unsere Versorgungsstruktur mit sektorieller Gliederung schwer macht, Patienten vom Risikofaktor für eine Erkrankung bis hin zu Komplikationen der Erkrankung einheitlich zu führen. Dazu kommt, dass unsere Gesellschaft es toleriert, dass krankmachende Nahrungsmittel im Supermarkt stehen. Und auch viele einzelne müssen sich selbst an die Nase fassen, weil – gerade in Pandemiezeiten – der Bewegungsmangel noch stärker Einzug in unser Leben genommen hat.

Wir alle müssen also umdenken und sollten die aktuelle Pandemie mit ihrer exzessiven Morbidität für unsere Diabetespatienten als Weckruf verstehen, die Remission eines Diabetes und die Diabetesprävention zu unserem Ziel zu machen. Aufgrund unserer Erfahrungen der letzten Monate müssen wir den Diabetes mellitus mit einer progressiven Krebserkrankung vergleichen. Insofern ist es an der Zeit, unsere alten Herangehensweisen im Mangement unserer Diabetespatienten zu überdenken. Für das Diabetesmanagement in den folgenden Monaten und Jahren brauchen wir einen Marshallplan.

Den Kollegen, die komplizierte Patienten gut behandeln wollen, könnte man sagen, dass die Prävention oder Remission eines Diabetes wahrscheinlich der komplizierteste vorstellbare Verlauf ist. Denjenigen, die Digitalisierung für überflüssige Software halten, sollte man vor Augen führen, dass sie beitragen kann, Barrieren zwischen sektoriell gegliederter Medizin zu überbrücken oder auch eine automatisierte Priorisierung und Stratifizierung anhand von Patientendaten in elektronischen Gesundheitsakten vorzunehmen und somit frühestmöglich zu intervenieren. Digitale Gesundheitsanwendungen können Patienten unterstützen, ihren Lebensstil zu ändern und damit Risikofaktoren für Adipositas, Diabetes und metabolisches Syndrom zu reduzieren.

Für dieses Ziel gilt es, uns neuen Vorgehensweisen zu öffnen: Wir als Diabetesexperten sollten Spezialisten darin werden, unsere Patienten von einem bewegungsaktiven und gesunden Lebensstil zu überzeugen. Als Experten sollten wir nicht nur die psychologische Unterstützung zur Lebensstiländerung, Angebote für einen bewegungsaktiven Alltag und vor allem eine gesunde Ernährung bereithalten, sondern all dies unseren Patienten vorleben. Egal wo und von wem ein Patient behandelt wurde, alle sollten Zugriff auf diese Informationen haben. Auch in Zukunft wird es viele Patienten mit langwierigen und schwierigen Verläufen geben, die einer bestmöglichen Therapie bedürfen, um Komplikationen und Mortalität durch den Diabetes mellitus zu reduzieren.

All das braucht Investment: Investment in unsere Strukturen, in das Überwinden von Barrieren, in die Digitalisierung. Zu allererst braucht es jedoch ein Investment in unsere Köpfe! Wir dürfen nicht zulassen, dass eine nächste Pandemie erneut eine solche exzessive Mortalität für unsere Diabetespatienten mit sich bringt.



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Article published online:
27 May 2021

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