MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2022; 26(03): 121-123
DOI: 10.1055/a-1858-8209
Forschung kompakt

Erforschung der Indikatoren für Extremitäten-Schmerzen spinalen Ursprungs, identifiziert durch die Mechanische Diagnose und Therapie (MDT): Sekundäranalyse einer prospektiven Kohortenstudie

Exploring Indicators of Extremity Pain of Spinal Source as Identified by Mechanical Diagnosis and Therapy (MDT): A Secondary Analysis of a Prospective Cohort StudyContributor(s):
Stefan Lindner

Zusammenfassung

Fragestellung

Ziel der Studie war es, Indikatoren in der klinischen Untersuchung zu finden, die vorhersagen können, ob bei Patient*innen mit isolierten Extremitätenschmerzen der Ursprung dieser Schmerzen in der Wirbelsäule oder der Extremität selbst liegt.


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Physiotherapeutischer Hintergrund

Einige neurophysiologische Studien wiesen bereits nach, dass isolierte Schmerzen in den Extremitäten ihren Ursprung in bestimmten spezifischen Strukturen der Wirbelsäule haben können [1], [2], [3], [4], [5]. Diese Schmerzen werden daher „Referred Pain“, im deutschen Sprachraum auch „übertragener Schmerz“, genannt. Verschiedene Strukturen der Wirbelsäule, wie die Facettengelenke [1], [2], [3], die Bandscheibe [4] oder die Mm. multifidi [5] wurden dabei als Ursachen ermittelt. Für die klinische Untersuchung können die neurophysiologischen Studien jedoch keine Daten für die Fragestellung bieten, wie oft isolierte Extremitätenschmerzen ihren Ursprung in der Wirbelsäule haben oder welche klinische Zeichen darauf hindeuten könnten. Diese unzureichende Datenlage rechtfertigte daher weitere Forschung zu diesem Thema.


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Studiendesign

Die Studie entsprach dem Design einer multizentrischen prospektiven Kohortenstudie und hatte das Ziel, zu untersuchen, wie hoch die Prävalenz eines spinalen Ursprungs isolierter Extremitätenschmerzen ist [6]. Der Begriff „spinaler Ursprung“ wurde von den Autoren verwendet, um Schmerzen oder sonstige Systeme in den Extremitäten zu bezeichnen, die in der Studie von Rosedale et al. [6] erfolgreich mit Behandlungsstrategien, die nur auf die Wirbelsäule zielen, therapiert wurden. Der Begriff „spinaler Ursprung“ wird demnach von den Autoren als die Körperregion verstanden, deren Therapie die Symptome beeinflusst. Von den vier Untersuchungszentren waren zwei in Kanada, eines in den USA und eines in Neuseeland. Die Daten wurden zwischen Januar 2017 und April 2018 erhoben.


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Einschlusskriterien

Von insgesamt 369 untersuchten Proband*innen mit Schmerzen ausschließlich an der unteren oder oberen Extremität wurden 319 Personen (231 Frauen) eingeschlossen. Dabei mussten die Proband*innen älter als 15 Jahre und der englischen Sprache mächtig sein und an übungsbasierter Physiotherapie 2–3x/Woche teilnehmen können. Außerdem durften weder die Patient*innen selbst noch die überweisenden Ärztinnen bzw. Ärzte die Vermutung hegen, dass der isolierte Extremitätenschmerz einen spinalen Ursprung hat.


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Ausschlusskriterien

  • Schmerz in Verbindung mit einer entzündlichen Erkrankung (z. B. rheumatoider Arthritis)

  • Zeichen eines kürzlich erfolgten Traumas (z. B. Schwellung oder Prellung)

  • neurologischer Zustand, der die Funktion der Extremitäten beeinflusst

  • post-operativer Zustand


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Intervention

Die Patient*innen wurden im klinischen Alltag der Physiotherapeuten nach dem MDT-System untersucht. Ein wesentliches Merkmal der MDT-Untersuchung ist die Festlegung von Basislinien. Diese können z. B. eine Bewegungseinschränkung, Schmerzen bei der Bewegung der Extremität oder eine eingeschränkte funktionelle Aktivität, z. B. Gehen oder Treppensteigen, sein.

Wenn die Basislinie der Proband*innen durch eine wiederholte endgradige Bewegung oder Position der Wirbelsäule, z. B. Flexion oder Extension, beeinflusst werden konnte, wurde diese Patientin bzw. dieser Patient der Gruppe „spinaler Ursprung“ zugeordnet. In den Übungen für zu Hause und in den weiteren Therapiesitzungen wurden anschließend ausschließlich diese wirbelsäulenspezifischen Bewegungen bzw. Positionen geübt. Hatten die endgradigen Bewegungen oder Positionen der Wirbelsäule keinen Einfluss auf die Basislinie, wurden die Patient*innen in die Gruppe „Ursprung in der Extremität“ eingeteilt und entsprechend behandelt.

In der Studie, die dieser Sekundäranalyse zugrunde liegt, wurden vor und nach der Intervention die Parameter Schmerz, Funktion und psychosoziale Faktoren erhoben. Die Gruppe „spinaler Ursprung“ zeigte dabei durchschnittlich ein besseres Outcome als die Gruppe „Ursprung in der Extremität“ [6].


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Indikatoren

Da keine Indikatoren für einen spinalen oder extremitätenbezogenen Ursprung eines isolierten Extremitätenschmerzes vor dieser Studie evaluiert wurden, einigten sich die Autoren in einem klinischen Konsens prospektiv auf die zu überprüfenden Indikatoren.


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Datenanalyse

Eine stufenweise logistische Regression mit rückwärtiger Elimination wurde für die potenziellen Indikatoren zur Klassifikation eines spinalen oder extremitätenbezogenen Ursprungs der Schmerzen durchgeführt. Ein Indikator wurde eliminiert, wenn der p-Wert > 0,10 war. Die Odds Ratio (OR) mit einem 95 % Konfidenzintervall und dem p-Wert wurden ermittelt. Die Anzahl der signifikanten Indikatoren wurden mit einer ROC-Kurve untersucht und die zugehörige Sensitivität und Spezifität errechnet.


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Ergebnisse

Potenzielle Indikatoren wurden sowohl während der Anamnese als auch der Untersuchung notiert. Aufgrund der Datenanalyse wurden fünf der vorab formulierten elf Indikatoren für die Einteilung in die Gruppe „spinaler Ursprung“ ermittelt:

  1. Vorliegen von Parästhesien (Odds Ratio (OR) 1,984)

  2. Symptomänderung durch Sitzen, Flexion der HWS oder LWS, Rotation der HWS oder wenn die Person ruhig in einer Position verweilt (OR 2,642)

  3. Symptomänderung bei Haltungsänderung (OR 3,956)

  4. Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule (OR 2,633)

  5. keine Bewegungseinschränkungen der Extremität (OR 2,241)

Der 2. Indikator beschreibt anamnestisch erhobene Effekte der genannten Positionen oder Bewegungen auf den Schmerz. Beim 3. Indikator wurde ein Effekt auf die Symptome durch eine endgradige Haltungsänderung im Sitzen (Kyphose oder Lordose), die über 10–15 Sekunden gehalten wurde, evaluiert. Dies ist der stärkste Indikator für die Einteilung in die Gruppe „spinaler Ursprung“.

Die Sensitivität bei Vorliegen aller fünf Indikatoren liegt bei 0,616 und die Spezifität bei 0,823. Die optimale Anzahl an signifikanten Indikatoren für die Klassifikation der Gruppe liegt bei zwei (Sensitivität = 0,638, Spezifität = 0,807).


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Schlussfolgerungen

Dies ist die erste Studie, die bei isolierten Extremitätenschmerzen Indikatoren untersucht, die differenzieren können, ob der Ursprung der Schmerzen in der Wirbelsäule oder der Extremität liegt. Fünf Indikatoren konnten in Verbindung mit einem spinalen Ursprung identifiziert werden. Damit bieten die Ergebnisse einen effizienten Nutzen, um die Wahrscheinlichkeit des effektivsten Behandlungsgebiets zu ermitteln. Die hohe Spezifität (0,807) bei Präsenz von zwei Indikatoren deutet auf eine hohe Wahrscheinlichkeit eines spinalen Ursprunges der Schmerzen hin.

Für nicht MDT-Therapeut*innen sind diese fünf Indikatoren leicht in ihre Untersuchungen zu integrieren, falls diese nicht schon zum Standardprozedere gehören. Eine effiziente Differenzierung des Schmerzursprunges kann dadurch mit mehr Sicherheit getroffen werden. Interessanterweise haben sich die untersuchten Faktoren „Aktuelle Schmerzen der Wirbelsäule“ und „Wirbelsäulenschmerzen in der Vergangenheit“ als nicht signifikant herausgestellt, obwohl sie vermutlich von vielen Klinikerinnen und Klinikern als Indikatoren angesehen werden.

Die vorliegende Studie hat ein paar Limitierungen. Die Untersuchungen wurden ausschließlich von MDT-Therapeuten durchgeführt und daher sind die Ergebnisse eventuell nicht auf andere Kliniker*innen übertragbar. Aufgrund der Auswahl der Proband*innen aus dem klinischen Alltag unterliegt die Studie einem weniger kontrollierten Design, dafür haben die Ergebnisse eine höhere klinische Gültigkeit. Es wurden nur die prospektiv festgelegten Indikatoren analysiert. Dementsprechend können weitere Indikatoren vorliegen.


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Publication History

Article published online:
19 July 2022

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