Notaufnahme up2date 2022; 4(04): 318-320
DOI: 10.1055/a-1906-3172
Editorial

Reform der Notfallversorgung – aber nicht so schnell ... oder gar nicht?

Sylvia Schacher

Nach Einführung der gestuften Notfallversorgung durch den Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA) am 19.04.2018 wurde angekündigt, dass dies nur der erste Schritt einer großen Reform der Notfallversorgung werden solle. Fachgesellschaften und Verbände formierten sich und es gab viele Vorschläge für Reformen. Auch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ließ einen Versuchsballon „ohne Abstimmung mit der Hausleitung“ starten, um später einen deutlich veränderten Entwurf als Vorschlag in die Fachgremien einzubringen. Der Widerstand war groß und letztlich war die als „Tiger“ gesprungene Reform, als „Bettvorleger“ im Rahmen des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) gelandet. Im Juni 2021 wurde festgelegt, dass der G-BA bis zum 20. Juli 2022 Vorgaben zur Durchführung einer qualifizierten und standardisierten Ersteinschätzung des medizinischen Versorgungsbedarf von „Hilfesuchenden“, die sich zur Behandlung eines Notfalls an ein Krankenhaus wenden, beschließen soll [1]. Diese Vorgaben sollten u. a. ganz konkret die Qualifikation des medizinischen Personals, welches die Ersteinschätzung vornimmt, festlegen. Überdies sollte die Art und der Inhalt der Dokumentation der Ersteinschätzung vorgegeben sowie die Weiterleitung an die Notdienstpraxen und Partnerpraxen der niedergelassenen Ärzte festgelegt werden.

Im Vorfeld zur Entscheidung des G-BA tauchte im Januar 2022 eine Publikation der Bertelsmann-Stiftung zur „Neuordnung der Notfallversorgung“ auf [2]. Die Experten dieser Publikation waren, bis auf einen Vertreter der prähospitalen Notfallmedizin, nur Vertreter von Klinikkonzernen, Behörden und Krankenkassen, keiner der Autoren war praktisch in die klinische Notfallversorgung in den Notaufnahmen eingebunden. Ihr Vorschlag teilte die Notfallversorgung in drei Ebenen auf: 1. Telefonische Ersteinschätzung durch die Leitstellen, 2. Aufsuchen der Notfallpatient*Innen durch Vertragsärzt*Innen oder den Rettungsdienst und 3. Vorstellung am Krankenhaus zur fallabschließenden Diagnostik und Therapie.

Die Festlegung, ob eine ambulante Behandlung im vertragsärztlichen System oder eine stationäre Aufnahme geboten ist, wird in diesem Reformvorschlag für alle Patient*Innen am Krankenhaus 24/7, also „rund-um-die-Uhr“, in die Verantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) gelegt und auch an den Standorten von stationären Notaufnahmen soll die Einschätzung der Krankheitsschwere, soweit keine vitale Gefährdung erkennbar ist, durch den KV-Arzt erfolgen. Integrierte Notfallzentren (INZ) sollten nur an bestimmten Krankenhäusern eingerichtet werden. Nach heftigen Reaktionen darauf wurde das Papier als persönliche Meinungen von Experten eingestuft.

Anfang Juni 2022 veröffentlichte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) ihr Positionspapier, in dem sie die Realität der Notfallversorgung viel deutlicher einbezog: hier wird die Einrichtung von INZ an allen Krankenhäusern mit stationärer Notfallstufe nach G-BA gefordert [3]. In der Versorgung der Notfallpatienten werden die KVen von ihrer Verpflichtung Portalpraxen in den INZ zu betreiben, für den Zeitraum wochentags von 19 bis 7 Uhr und am Wochenende sowie an Feiertagen freigestellt. Wir alle wissen, dass die bisherige Abdeckung der KV in diesen Zeiten nur rudimentär erfolgt. Durch die Altersstruktur der KV-Ärzte, wo ca. ein Drittel der Ärzte in den nächsten 5 Jahren in den Ruhestand gehen wird, ist davon auszugehen, dass diese perspektivisch in keiner Weise in der Lage sein werden, eine Abdeckung zu gewährleisten.

Noch am 24.06.2022 berichtete das Deutsche Ärzteblatt, dass der zuständige Unterausschuss des G-BA vier Konzepte zur Ausgestaltung des Ersteinschätzungsverfahrens vorgelegt habe, die am 13.07.2022 beraten werden sollten [4]. Über diese sollte dann am 21.07.2022 in der Plenumssitzung abgestimmt werden und ein Zeitplan im September 2022 in Kraft treten.

Am 09.06.2022 veröffentlichte der Marburger Bund und die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) eine Stellungnahme für eine Gesamtreform der Notfallversorgung, in der Lösungsvorschläge entwickelt werden [5].

An den Gesetzgeber appellieren sie den Auftrag an den G-BA, Kriterien für ein Ersteinschätzungsverfahren zu beschließen, auszusetzen.

Es wird ein integratives Konzept vorgeschlagen, in dem die niedergelassenen Ärzte zusammen mit den Notaufnahmeärzten eine umfassende Versorgung gewährleisten und die Akut- und Notfallversorgung effizienter gestaltet wird.

Am 13.07.2022 berichtete dann das Deutsche Ärzteblatt „aus gut informierten Kreisen“, dass das BMG die Frist für die Neuregelung um ein Jahr bis 2023 verlängert habe [6]. Hintergrund dessen ist, dass auch die Ideen der neu ins Leben gerufenen Krankenhauskommission einfließen können und eine Gesamtreform der Notfallversorgung über die Ersteinschätzung hinaus erfolgen solle.

So kommt es, dass wir hier nicht, wie ursprünglich geplant, in diesem Editorial neue Beschlüsse mit ihren Auswirkungen für die Notaufnahmen für Sie evaluieren können.

Dabei zeigt die am 05.08.2022 publizierten Blitzumfrage der DGINA eine massive Belastungssituation [7], u. a. durch den Personalmangel aufgrund unbesetzter Stellen und sowohl Corona-bedingter als auch sonstiger Krankheitsausfälle. Dadurch können aktuell 18% der Normalstationsbetten nicht betrieben werden, was zu einem Exit-Block mit fehlender oder nur erschwerter Verlegung auf eine Normalstation führt. Hinzu kommt eine Steigerung der Patientenzahlen von 10–20%, überwiegend bei ambulanten Patienten, im Vergleich zu 2019.

Die Versorgung von Elektivpatienten wird favorisiert, um die Finanzierung der Krankenhäuser zu retten. Elektivpatienten und Notfallpatienten konkurrieren somit aktuell um die „knappe Ressource Krankenhausbett“. Aus Sicht der Akut- und Notfallmediziner*Innen und der Notfallpflege muss die Notfallversorgung aber in der Priorität der Daseinsfürsorge an erster Stelle stehen. In der Präklinik werden durch die Vorgaben und Überprüfung von Hilfsfristen jährlich mehr und mehr Rettungswachen und Notarztstandorte in Betrieb genommen, um diese einzuhalten. Auf Knopfdruck der Leitstellen werden pro Patient Einsatzmittel und Notfallteams mit mindestens 2 Personen entsendet. In der Notaufnahme gibt es Hilfsfristen für die Weiterversorgung bislang nicht. Es können keine zusätzlichen Ärzte und Pflegekräfte auf Knopfdruck „mit Blaulicht“ herbeigerufen werden. Dies führt zu deutlichen Diskrepanzen in der personellen Entwicklung und medizinischen Versorgung im Vergleich Präklinik – Notaufnahme.

Es gibt deshalb dringenden Handlungsbedarf – dieser Ruf scheint auf der politischen Ebene in seinem vollen Umfang bisher nicht angekommen zu sein und die Zukunft wird auf „später“ verschoben.

Wir, als Herausgeber der Notaufnahme up2date, wünschen uns, dass im Interesse der Patient*Innen sowie aller in den Notaufnahmen Tätigen die Reform der Notfallversorgung schnellstmöglich und unter Einbeziehung der klinischen Notfall- und Akutmediziner*Innen eingeleitet wird.

Die Herausgeber

Sylvia Schacher, Bernhard Kumle, Michael Bernhard, Martin Pin, Henke Thomas, Michalski Dominik, Ingo Gräff, Frank Eifinger, Benjamin Ondruschka, Philipp Kümpers



Publication History

Article published online:
12 October 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany