Fortschr Neurol Psychiatr 2023; 91(05): 188-190
DOI: 10.1055/a-2054-0147
Editorial

Amoktaten: Kann die Psychiatrie etwas dagegen tun?

Running amok: Can psychiatry do anything about it?
Jens Kuhn
,
Joachim Klosterkötter

Bei einigen der tragischsten Gewaltverbrechen der jüngeren Vergangenheit ergab sich auch die Diskussion, ob der Täter aus einer psychischen Erkrankung heraus gehandelt haben könnte. Für die Amokfahrt in Berlin (am 8. Juni 2022 steuerte ein Mann, der mutmaßlich an einer Schizophrenie litt, sein Auto in Berlin-Charlottenburg in eine Menschenmenge, wobei eine Frau verstarb und weitere 14 Personen schwer verletzt wurden), scheint dies unstrittig, für den Messer-Angriff in einem norddeutschen Regionalzug, bei dem zwei Berufsschüler zu Tode kamen, gab es zumindest Hinweise auf Betäubungsmitteldelikte in der Vorgeschichte und kurzzeitige Kontaktaufnahme zum psychiatrischen Fachgebiet [1]. Und für die furchtbare Amoktat in der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas am 11.3.2023 war durch einen anonymen Hinweis auf eine mögliche wahnhafte Entwicklung beim Attentäter aufmerksam gemacht worden (Stand 27.3.2023; [2]). Derartige Berichte führen zu Fassungslosigkeit und fördern nicht selten Ängste, dass sich durch psychisch erkrankte Menschen ein höheres Gewalt- bzw. Gefährdungspotenzial ergeben könnte.

Solchen Ängsten müssen natürlich alle mit derartigen Krankheiten befassten Berufsgruppen immer wieder mit Nachdruck entgegenwirken. Es sollte klar sein, dass psychische Störungen jeden von uns betreffen können und in der Tat ja auch rund 28% der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland, also knapp 18 Millionen Menschen, jedes Jahr darunter leiden [3]. Psychisches Kranksein, wie etwa die statistisch am häufigsten auftretende Angststörung, erhöht die Gewaltbereitschaft, wie dies in den einschlägigen Medienberichten dann in fälschlich stigmatisierender Weise sofort immer wieder heißt, gerade nicht, sondern senkt sie in aller Regel individuell deutlich ab. Es sei an dieser Stelle sogar umgekehrt darauf hingewiesen, dass psychisch erkrankte Personen statistisch betrachtet eine Risikoerhöhung aufweisen, Opfer einer Gewalttat zu werden [4].

Bestimmte Zuspitzungen von Persönlichkeitsmerkmalen wie der pathologische Narzissmus und vereinzelte wahnhafte Verlaufsstadien von psychotischen Erkrankungen sind allerdings in seltenen Fällen mit einer Risikoerhöhung für Fremdgefahr verbunden. Eine Sichtung von 27 deutschen Amokläufen und Schulmassakern, die im Jahre 2012 publiziert wurde, glaubte in dem Zusammenhang noch einen 3. Tätertyp herausgearbeitet zu haben, nämlich Jugendliche mit jahrelangem Misserfolg und empfundener Ausgrenzung sowie Suizidalitätsgedanken [5]. Für letztgenannten Personenkreis und Täter mit disponierender Persönlichkeitsstörung ist die monokausale Rückführung der Fremdgefahr auf die psychische Erkrankung aber unzureichend. Hier sind vielmehr zusätzliche destabilisierende Belastungsfaktoren, affektive Komorbidität und Substanzgebrauch als mitverursachende Komponenten zu berücksichtigen.

Mit der Zielsetzung, die öffentliche Sicherheit zu verbessern, aber insbesondere Amoktaten zu verhindern, wurde in NRW ein Projekt namens „PeRiskoP“ eingeführt, dessen Abkürzung für »Handlungs- und Prüffallkonzept zur Früherkennung von und zum Umgang mit Personen mit Risikopotential« steht [6]. Dieses soll durch bessere Vernetzung und Austausch verschiedener Institutionen (Schulen, Gesundheitsämter, Jugendhilfe, Ordnungsamt etc.) unter Koordination der Polizei potenzielle Gefährder bzw. Amoktäter frühzeitig identifizieren, um Möglichkeiten der Hilfe, aber auch Verhinderung von Gewaltvorfällen zu bieten. Als ganz zentrale mit zu beteiligende Institutionen werden auch die psychiatrischen Kliniken angesehen, eben unter der Annahme, dass psychiatrisch erkrankte Personen überproportional häufig für derartige Gewaltverbrechen verantwortlich zu machen seien.

Der Ansatz, zu diesem Zweck ein regional vernetztes Frühwarnsystem aufzubauen, das wie ein militärisches Periskop der Detektion und Abwehr von drohenden Gefahren dient, ist jedenfalls vom Prinzip her nicht so neu, wie dies in Deutschland vielleicht erscheinen mag. Immerhin weist man ja in der Kriminalpsychologie schon seit Jahren international immer wieder darauf hin, dass genau wie vor Suiziden auch vor Amoktaten in 80–95% der Fälle ein regelmäßig wiederkehrendes Muster von Verhaltensänderungen durchlaufen wird, dem man im Vorfeld meist nur unzureichend nachgeht [7] [8] . (In diesem Zusammenhang soll kurz darauf hingewiesen werden, dass je nach Art der Taten womöglich Unterschiede hinsichtlich der Tätertypologie und des Warnverhaltens zu berücksichtigen sind. Für die Zielsetzung dieses Editorials werden etwas reduktionistisch unter Amoktat Schulmassaker, Amokfahrten, zeitgleiche zielgerichtete Homizide mehrerer Personen zusammengefasst). Je mehr nun das konkrete Verhalten in einem auffällig gewordenen Fall dieser „Warnverhaltenstypologie“ entspricht, umso höher ist das Risiko einzuschätzen, dass es wirklich auch zu der befürchteten Gewalttat kommt. Und wieder genau wie bei den heute weltweit anerkannten Regeln der Suizidprävention müssen dann natürlich auch von den in die Verhaltensbeobachtung mit einbezogenen Personen und Institutionen alle verfügbaren Hilfen angeboten werden, um die erhöhte Gewaltbereitschaft rechtzeitig wieder abzusenken. Im deutschen Sprachraum wurde so etwas systematisch zuerst im Kanton Solothurn versucht und auch heute noch ist es die Schweiz, in der man sich vor allem im Kanton Zürich besonders konsequent um ein regionales „Bedrohungsmanagement“ bemüht [9]. Wie gut dies gelingt, hing und hängt dabei immer ganz wesentlich von der Verfügbarkeit und diagnostischen sowie therapeutischen Qualität des beiziehbaren psychiatrischen Sachverstands ab. Entscheidend für die Treffsicherheit der Prädiktion, ob, wann und mit welcher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Gewalttat zu erwarten ist und wie dann in dem betreffenden Fall eine erfolgsversprechende Gewaltprävention aussehen müsste, kann nämlich bei den genannten Tätertypen immer nur die fachkundige psychopathologische Erkundung und Bewertung der in ihrem Warnverhalten zum Ausdruck kommenden Erlebniswelt sein.

Bei dem Hamburger Gewaltexzess war die Innensicht des Täters nach den Ergebnissen der inzwischen vorliegenden fachpsychiatrischen Begutachtung wohl mehr durch narzisstische als wahnhaft-schizophrene Destruktivität geprägt. Aufs Ganze gesehen dürften jedoch die Wahnentwicklungen bei der Entstehung der großen aktenkundigen Amoktaten weltweit eine noch größere Rolle gespielt haben. Schizophreniekranke greifen offenbar, wenn sie zum ersten oder wiederholten Mal in psychotische Episoden hineingeraten und die dafür typischen Wahnwahrnehmungen, Wahnideen und Wahnsysteme entwickeln, inhaltlich immer wieder bevorzugt die gerade im Umlauf befindlichen in ihrer eigenen Lebenswelt jeweils dominierenden „Verschwörungstheorien“ auf [10]. Dadurch erlangen alle die kruden darin angenommenen politisch-extremistisch oder religiös-ideologisch grundierten Machenschaften plötzlich den Status einer absoluten unkorrigierbaren Gewissheit und existenzgefährdenden Bedrohung für die eigene Person. Man fühlt sich immer mehr in die Enge getrieben, hält das schließlich nicht mehr länger aus und setzt sich unter extremem selbst erlebten Druck – nach mehr oder weniger langer Vorbereitungszeit etwa auch mit der Aneignung von Waffenscheinen und dem Erwerb von Waffen – exzessiv gewaltsam zur Wehr.

Solche wahnhaften für die Risikoanalyse maßgeblichen innerseelischen Zusammenhänge lassen sich ohne fachpsychiatrischen Sachverstand gar nicht aufdecken. Und dasselbe gilt auch für die motivationalen Hintergründe narzisstischer Destruktivität, wenn es um die Verhinderung von Beziehungstaten aus Eifersuchts-, Wut-, Hass- und Rachegefühlen oder auch die zieltypischen Gewaltinszenierungen der jugendlichen Straftäter geht. Dass die Psychiatrie bei den gemeinsamen Fallkonferenzen, die „PeRiskoP“ vorsieht, mit am Tisch sitzen soll, ist also nur konsequent und wundert nicht. Bisher kommt die psychopathologische Analyse ja doch bei Amoktaten immer zu spät und stellt die zumeist durchlaufenden Wahnentwicklungen, die zu den Bluttaten geführt haben, erst im Nachhinein fest. Die Täter – meist Männer in vergleichsweise noch jungen Jahren – werden, wenn sie noch leben, nach den Landesunterbringungsgesetzen wegen Fremdgefährdung eingewiesen. Und oft kommt es dann wie bei dem dramatischen Homo- und Suizid in Hanau zu der eigentlich ja in sich widersprüchlichen Reaktion, dass die Repräsentanten von Staat und Gesellschaft den Täter verurteilen und zu Recht die Auswirkungen extremistisch-rassistisch und völkischen Gedankenguts auf ihn beklagen, während die Psychiatrie nur eingeschränkte oder aufgehobene Schuldfähigkeit wegen nachträglich festgestellter paranoider Schizophrenie bescheinigen kann [11].

Bei der Entwicklung von Amoktaten immer nur zu spät zu kommen, ist natürlich auch aus der Eigensicht unseres Fachs heraus mehr als unbefriedigend. Immerhin verfolgt man ja gerade in der Schizophrenieforschung schon seit vielen Jahren weltweit und besonders auch in Deutschland einen risikoorientierten Ansatz, der auf die rechtzeitige Vorhersage und dadurch ermöglichte Verhinderung drohender Psychosen setzt. In den hieraus entstandenen in vielen deutschen Städten schon seit langem etablierten Früherkennungs- und -therapiezentren (FETZ) werden evidenzbasierte Verfahren zur Ermittlung aller persönlichen Risiko- und Schutzfaktoren eingesetzt und anschließend genau auf die ermittelte Gefährdung zugeschnittene psychologische und pharmakologische Präventionsmaßnahmen angeboten. Gerade kürzlich ist in 23 dieser Standorte auch unter starker kinder- und jugendpsychiatrischer Beteiligung nochmal ein neues Großprojekt unter dem Titel „Computer-assistierte Risiko-Evaluation in der Früherkennung (CARE)“ angelaufen, das nun auch die weiteren Optimierungsmöglichkeiten dieses Ansatzes durch „Künstliche Intelligenz (KI)“ überprüfen will [12]. Vor dem Hintergrund der offenbar exponentiell zunehmenden Einsatzmöglichkeiten von KI müsste diese Technologie doch auch unbedingt für die Vorhersage und Verhinderung von Amoktaten zu nutzen sein und ein neuartiges ambitioniertes Projekt wie „PeRiskoP“ doch im Verlauf nochmal relevant verbessern können.

Ein FETZ sucht man allerdings immer aus freien Stücken in der Rolle von Rat- und Hilfesuchenden auf, die durch bei sich selbst wahrgenommene Beschwerden beunruhigt werden und vor allem klären lassen möchten, ob sich dahinter eine anlaufende oder auch schon eingetretene psychische Erkrankung verbergen könnte. Das ist etwas ganz Anderes, als wenn die Polizei wie jetzt zuletzt in Hamburg Hinweise von beunruhigten Bekannten erhält oder sie sonst auch oft aus den eigenen Medienauftritten von gewaltbereiten Personen entnimmt, wonach psychische Störungen und sich daraus ergebende Fremdgefährdungen vorliegen könnten. Wenn die gefürchteten Wahnentwicklungen bereits eingetreten sind, würden die Betroffenen ohnehin zu einer Krankheitseinsicht schon gar nicht mehr imstande sein und dementsprechend auch von sich aus niemals auf den Gedanken kommen, angebotene psychiatrische Beratungen und Hilfeleistungen in Anspruch nehmen zu wollen. In solchen Fällen bliebe dann bei erkennbar hoher Fremdgefährdung nur noch die Einweisung nach dem Landesunterbringungsgesetz als wirksame Maßnahme übrig, um drohenden Amoktaten durch psychiatrische Behandlung zuvor kommen zu können.

Für die psychiatrischen Institutionen, die sich an den „PeRiskoP“-Fallkonferenzen beteiligen sollen, ergibt sich hieraus natürlich eine ganze Reihe von durchaus schwerwiegenden Problemen und man versteht es gut, dass sie teilweise wohl diesem Polizeiprojekt eher reserviert gegenüberstehen. Lässt sich aus angefallenen Polizeiprotokollen, Behördendaten und anderen Außeninformationen überhaupt ein zutreffendes Bild von der Innenwelt eines Menschen und ihrer Entwicklung gewinnen? Reicht die Vorhersagekraft eines aus solchen Beobachtungen entnehmbaren Warnverhaltens für drohende Amoktaten aus, um auch eingreifendere Maßnahmen eines Bedrohungsmanagements ethisch und juristisch rechtfertigen zu können? Wie geht man, wenn es schon eine psychiatrische Behandlungsvorgeschichte gab, mit diesen besonders wichtigen, jedoch der ärztlichen Schweigepflicht unterliegenden Daten um? Diese und auch noch viele andere damit zusammenhängende Fragen können die Teilnahme der jeweils angesprochenen Institutionen an den Fallkonferenzen sicherlich erschweren. Trotzdem sollte es im Projektverlauf mit zunehmender Erfahrung gelingen, die sich anbietenden Schnittstellen zur Allgemeinpsychiatrie auch ohne Überforderung ihrer Mitwirkungsmöglichkeiten und Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme immer ergiebiger mit einzubeziehen. Wenn man überhaupt etwas gegen die ubiquitären und sich anscheinend auch noch immer weiter ausbreitenden katastrophalen Amoktaten tun kann, dann ist dies die Vorverlagerung der bisher immer zu spät kommenden fachpsychiatrischen Begutachtung vor die Taten und deren Verhinderung durch psychiatrische Therapie.



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Article published online:
16 May 2023

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