PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(4): 419-421
DOI: 10.1055/s-0028-1090075
Im Dialog

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kinofilme als kulturelle Symptome

Parfen  Laszig, Gerhard  Schneider
Further Information

Publication History

Publication Date:
11 December 2008 (online)

Parfen Laszig und Gerhard Schneider haben ein Buch herausgegeben zu dem Thema Film und Psychoanalyse – Kinofilme als kulturelle Symptome (Gießen: Psychosozial-Verlag, 2008), und wir haben sie gebeten, es in PiD vorzustellen. Warum? Das Buch ist aus einer bemerkenswerten Initiative entstanden, nämlich als psychotherapeutische Berufskollegen regelmäßig Filme zu sehen und zu diskutieren und öffentlich vorzustellen. So finden seit 1998 in Mannheim und dann auch in Heidelberg regelmäßig Filmabende in einem regulären Kino statt, wobei zu dem Film jeweils ein Vortrag von einer Kollegin oder einem Kollegen gehalten wird. Das ist vielleicht eine ganz andere Form kollegialer Intervision, die vor allem auch gesellschaftliche Perspektiven einbezieht. Es ist nicht nur eine gute Freizeitidee, sondern weist auf eine interessante Variante eines interdisziplinären Dialogs in der Psychotherapie hin. Was wäre in dem Buch an Gedanken und Ideen erschienen, wenn sich nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch Verhaltenstherapeuten oder Systemiker beteiligt hätten? Vielleicht laden die Psychoanalytiker einmal dazu bei ihren Kinoabenden ein.

In den letzten Jahren ist eine Reihe psychoanalytischer Filminterpretationen erschienen, in denen Filme als Indikatoren soziokultureller Befindlichkeiten verstanden werden. Das legte den Versuch nahe, der kulturpsychoanalytischen Perspektive in der Filmpsychoanalyse einen Ort einzuräumen, also die Betrachtungsweise Siegfried Kracauers (1947 / 1958) „Von Caligari bis Hitler – Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Films” aufzunehmen und entsprechend zu aktualisieren. Nach Kracauer (1947 / 1958, S. 6 ff.) sind „Filme […] ein Spiegelbild nicht so sehr von ausgesprochenen Überzeugungen und Glaubenssätzen als von bestimmten seelischen Veranlagungen – jenen Tiefenschichten einer Kollektivgesinnung, die mehr oder minder unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen”. Dabei ging es Kracauer „nicht um den Nachweis vermeintlich „zeitloser” nationaler Charaktereigenschaften […], sondern um die seelischen Anlagen eines Volkes zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte”. Er fokussierte sich in seiner Analyse insbesondere auf die deutschen Filme der Jahre zwischen 1918 und 1933.

In Zeiten einer sich globalisierenden Weltgesellschaft handelt es sich jedoch nicht allein um einzelne nationale Charaktereigenschaften und Entwicklungen, sondern vielmehr um dynamische Prozesse – Prozesse, die in ihrem Zeitgeist interaktiv und kollektivübergreifend sind. Aktuelle Filme sind demzufolge Oberflächenphänomene – und damit auch Symptome – gesellschaftlich vor- und unbewusster soziokultureller Befindlichkeiten und Veränderungsprozesse unserer sich globalisierenden postmodernen spätkapitalistischen Welt. Das Ziel einer entsprechend orientierten Filmpsychoanalyse ist es, solche vor- und unbewussten Befindlichkeiten und Veränderungsprozesse zu artikulieren und auf diese Weise einen Beitrag zur Psychoanalyse unserer gegenwärtigen soziokulturellen condition humaine zu leisten.

Auf der Grundlage dieser kulturpsychoanalytischen Perspektive haben die Herausgeber Parfen Laszig und Gerhard Schneider verschiedene Autorinnen und Autoren gebeten, Filme, die in den letzten 15 Jahren entstanden sind, psychoanalytisch zu reflektieren und vorzustellen – welche Filme sie nehmen würden, war den Beiträgern freigestellt. Trotz der recht breiten Rahmensetzung ergaben sich dabei interessanterweise bestimmte Themenkomplexe. Man könnte sagen, dass es grundsätzliche (Lebens-)Themen sind, wie etwa die eigene Herkunft, die Suche nach Identität, die konflikthaften Wirrungen der Adoleszenz, die soziale Verortung in der Gesellschaft bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Tod. Zum anderen – und das veranschaulichen die Filmbeiträge in sehr spezifischer Art – ist dies „nur” die Grundmelodie, variiert, transformiert und mitunter auch fragmentiert durch die soziokulturellen Umbrüche und Veränderungen, die mit einer sich rasant verändernden gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und naturellen Umwelt einhergehen.

Die Auseinandersetzung mit dem Tod spiegelt sich auf unterschiedliche Weise in den von Isolde Böhme, Claudia Frank, Mathias Hirsch und Ralf Zwiebel besprochenen Filmen wider. Isolde Böhme versteht Abbas Kiarostamis Der Geschmack der Kirsche als ein Kunstwerk, als eine Performance, die in ihrer Entfaltung als „Modulation der melancholischen Position” verstanden werden kann. Sie fährt mit uns und dem Protagonisten auf nicht enden wollenden Straßen in immer neuen Windungen durch eine Welt der Melancholie. Der Protagonist hält Ausschau nach dem Tod, findet Mitfahrende, die das, was unmöglich ist zu fühlen, die sprachlose Verzweiflung des anderen, dennoch fühlen sollen. Der Sinn entsteht von der Grenze des Todes her.

Den Tod als Aussicht hebt Claudia Frank bereits mit dem Titel ihres Beitrags „Das Gefühl von Frieden ist unendlich – Die Propagierung des Anspruchs auf legalisierte aktive ärztliche Sterbehilfe als ,Erlösung aus der Hölle‘, als Sieg der Selbstbestimmung” hervor. In ihrer Reflexion von Alejandro Amenábars Film Das Meer in mir führt sie im Einzelnen aus, wie sie zu dieser Einschätzung kommt, skizziert als Hintergrund die einschlägige Sterbehilfedebatte und stellt ihre Überlegung zur Diskussion, inwieweit die grundsätzliche Unverfügbarkeit von Leben und Tod mittels des Pochens auf Selbstbestimmung aus der Welt geschafft werden soll. Die Bedeutung des Todes und vor allem auch die verdrängte Todesangst, deren symptomatische Wirkungen in der heutigen Zeit ständig zuzunehmen scheinen, beschäftigt auch Ralf Zwiebel bei Marc Forsters Stay. Nach einer kurzen Einführung in neuere psychoanalytische Traumtheorien und ihre Anwendung für die Filmpsychoanalyse deutet er den Film – aus einem selbstreflexiven Kontext heraus – als den letzten Traum eines Sterbenden.

Weniger das Sterben, sondern vielmehr die Rolle der Medizin, insbesondere einer durch Ideologie „unsicheren Medizin”, und dies sowohl im Empfinden der Patienten als auch im System selbst, beschäftigt Mathias Hirsch in seiner Analyse von Hans-Christian Schmids Requiem. Auf der geschichtlichen Folie einer „Teufels-Neurose aus dem 20. Jahrhundert” werden die Themen pathologischer familiärer Abhängigkeit, adoleszenter Ablösung und ihrer Behinderung virulent.

Die Abwehr in Form von Verdrängung – individueller, kollektiver und medialer – sowie ihre Auswirkungen auf die Identität bilden den thematischen Hintergrund der weiteren Beiträge. Helmut Däuker sieht in Lars von Triers Dogville ein dem Zuschauer präsentiertes sozial-anthropologisches Laboratorium, in dem exemplarische menschliche Konfliktkonstellationen wie Fremder und Gastgeber, Liebe, Verrat, Verführung und Gier, Identität und Anerkennung dargestellt werden. Identität wird hier als Phänomen beschrieben, das nicht nur chronisch gefährdet erscheint, sondern unter bestimmten soziokulturellen Bedingungen selbst zur Gefahr und Bedrohung werden kann. Auch für die Filme von Michael Haneke ist das Aufgreifen soziokultureller und politischer Themen leitend, wobei er mit filmästhetischen Mitteln konsequente Gesellschaftskritik übt, ohne sich der oft manipulativen Darstellungsweise des populären Genre-Kinos zu bedienen.

Edeltraud Tilch-Bauschke hebt im Rahmen ihrer Filmanalyse von Caché insbesondere zwei Aspekte hervor. Am Beispiel des Protagonisten wird gezeigt, wie die individuelle Verdrängung einer Schuld aus Kindertagen überlagert wird von der kollektiven Verdrängung einer politischen Schuld durch die französische Gesellschaft, die in der kolonialen Vergangenheit des Landes wurzelt. Es wird beschrieben, wie durch die Abwehr und fehlende Bearbeitung eines Transgenerationenkonflikts latente Fremdenfeindlichkeit von Generation zu Generation weitergegeben wird. Einen zweiten Aspekt bilden die Manipulation und Verfremdung der Realität durch die Medien, hier insbesondere Fernsehen und Kino, aber auch die Manipulierbarkeit der Zuschauer. In diesem Zusammenhang werden die spezifischen Merkmale des Mainstreamkinos und dessen manipulative Praktiken beschrieben, die u. a. Gewalt in ästhetisierender Weise als Stilmittel einsetzen, so die Zuschauer systematisch desensibilisieren und damit die Verdrängung von Schuld und Abstumpfung von Empathie fördern.

Die Verfremdung der Realität durch Bilder und Medien sowie ihre fortschreitende Virtualisierung liefern den Hintergrund der weiteren Analysen. Joachim F. Danckwardt zeigt am Beispiel von Mulholland Drive und Inland Empire, dass David Lynch mit besonderen Methoden die Diktatur der Verständlichkeit aufhebt und neue Bildpraktiken präsentiert. Dabei kann sich Lynch nicht nur auf Gestaltungsprinzipien von Orson Welles bis Abbas Kiarostami berufen, sondern überträgt diverse Methoden aus der Bildenden Kunst – wie beispielsweise die Performance – auf die Filmkunst. Performance ist ein bedeutsamer Faktor des Werdens und Nichtwerdens, und sie birgt bewusstseinskonstituierende Funktionen. Mit ihr wird der Zuschauer zum Materialobjekt und Mitwirkenden, zum nächsten Autor oder nächsten Regisseur.

Manfred Riepe führt uns in die „erogenen Zonen” medialer Inszenierungen. In seiner Analyse von The Matrix und David Cronenbergs eXistenZ gibt er zunächst einen Überblick über Filme, die sich mit dem Phänomen der virtuellen Realität bzw. der vollständigen Durchdringung der erlebten Realität durch Medieninszenierungen befassen. Vor diesem Hintergrund zeigt er, dass Cronenbergs Lesart der virtuellen Realität in gewissem Sinn einer Wiederkehr des Verdrängten entspricht. Dieses Verdrängte ist der Körper bzw. die körperliche Empfindung von Lust im Rahmen der virtuellen Realität. Im Film, dessen Plot wie ein Möbiusband strukturiert ist, hängt das Durchbrechen bestimmter filmischer Oberflächen mit erogenen Zonen, Penetration und künstlich erzeugten, neuen Körperöffnungen zusammen. Das Phänomen der virtuellen Realität wird nicht einfach nur als sexuell interpretiert. Radikaler noch, zeigt Cronenberg, inwiefern die Konstruktion von Wirklichkeit (im Sinne der psychischen Realität) ohne das Sexuelle nicht funktioniert.

Die Konstruktion von Wirklichkeit, die Lust, das Vergnügen und die Angst „jenseits des Identitätszwangs zu sein” sind gleichfalls das Thema bei Tom Tykwers Lola rennt. Im Rahmen einer psychoanalytischen dialektischen Identitätskonzeption verbindet Gerhard Schneider die beiden Aspekte Vergnügen und Angst miteinander und bezieht sie auf die Adoleszenz, das Lebensalter der Protagonisten des Films. In einem weiteren Schritt verknüpft er dies mit der neokapitalistischen soziokulturellen Situation und der ihr inhärenten Tendenz der Virtualisierung der Differenz zwischen Realität und medialer Realität. Abschließend wird aufgezeigt, dass Lola rennt diese Tendenz nicht einfach nur präsentiert, sondern jenseits davon „auf der Suche nach” ist, so, wie Lola rennt.

Auf der Suche nach ihrer Identität, der Flucht vor der Einsamkeit, dem Selbst-Verlust und dem Traumatischen sind auch die Protagonisten in Kathryn Bigelows Strange Days. Parfen Laszig zeigt auf, dass im Spiegelkabinett des medialen Zeitalters sich die Trennung zwischen Selbst und Gegenüber, Bild und Projektion, Realität und Illusion zunehmend aufzulösen scheint. Wir werden Zuschauer einer Gesellschaft im Umbruch, einer urbanen Kultur der Entgrenzung, die durch Reiz- und Affektüberflutung, mangelnde Impulssteuerung sowie Realitäts- und Identitätsdiffusion gezeichnet ist und mit verschiedensten Formen von Gewalt, Perversion und zwanghafter Kontrolle reagiert.

Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die Autorinnen und Autoren trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – ihrer unterschiedlichen theoretischen Zugangswege und Blickrichtungen perspektivische Verbindungen schaffen, Verbindung zu und zwischen Themen, mit denen wir alltäglich in Berührung sind und die uns Aufschluss über die Tiefenstruktur unserer gegenwärtigen kulturellen Befindlichkeit eröffnen.

Korrespondenzadresse:

Dr. Parfen Laszig

Hauptstraße 29

69117 Heidelberg

Email: praxis@parfen-laszig.de

    >