Dtsch Med Wochenschr 1942; 68(26): 649-653
DOI: 10.1055/s-0028-1120152
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© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Magenkrebs und Gastritis. Zur Deutung der sogenannten Krebsanamnese

Heinrich Westhues - o. ö. Prof. für Chirurgie in Erlangen
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Publication Date:
03 June 2009 (online)

Zusammenfassung

Beim Magenkarzinom können wir 3 Gruppen von Anamnesen unterscheiden:

Die erste Gruppe umfaßt die Fälle mit langer, schwerer Anamnese, welcher pathologisch-anatomisch eine banale chronische schwere Gastritis zugrunde liegt. Diese Gastritis zeigt später häufig atrophischen Charakter, aber nicht so sehr bedingt durch das Alter der Gastritis, sondern mehr durch das Alter des Gastritisträgers. Chronische Gastritis ist also nicht dasselbe wie atrophische Gastritis (Wanser). In einem Teil dieser Fälle mag das spätere Karzinom tatsächlich auf dem Boden dieser Gastritis entstanden sein, in einem anderen Teil der Fälle bestehen zwischen Karzinom und der schweren alten. Gastritis keine ursächlichen Beziehungen, in einem weiteren Teil ist die Gastritis nicht primärer, sondern sekundärer Art (Gastritis bei primär blastomatösen Polypen). Die Gesamt-gruppe ist nur sehr klein.

In einer weiteren Gruppe finden wir ebenfalls eine lange Anamnese, die aber in zwei Phasen zerfällt. Die erste, oft jahrealte Phase, die sog. Voranamnese, ist charakterisiert durch milde klinische Beschwerden („schwacher Magen”). Pathologisch-anatomisch liegt ihr entweder eine leichte, „nie” zur Krebsbildung führende Form der banalen (also nicht atrophischen) chronischen Gastritis zugrunde oder eine sog. (immer atrophische, nur in geringem Maße entzündlich bedingte) Altersgastritis oder, zutreffender, eine sog. Gastrose (Staemmler), die als ein prädisponierter „spezifischer”(?) Schleimhautzustand anscheinend zur Krebsbildung führen kann. In diesen Fälle ist demnach eine echte gewöhnliche Entzündung nicht maßgeblich an der Krebsentstehung beteiligt. Im ersteren Falle hat somit die Voranamnese nichts mit dem späteren Krebs, weder direkt noch indirekt, etwas zu schaffen, im zweiten Falle jedoch handelt es sich um eine echte Voranamnese des Krebses, bezogen auf die Altersgastritis/Gastrose. Da klinisch aber nicht festgestellt werden kann, welcher Art die Voranamnese im Einzelfall ist (banale Gastritis - Altersgastritis - Gastrose?), so ist sie in der Praxis auch nur mit größter Zurückhaltung zu bewerten, sie hat bei der Häufigkeit leichter banaler Gastritiden somit überhaupt keine größere Praktische klinische Bedeutung.

Die zweite kurze Phase, die sog. Hauptanamnese, bezieht sich auf die eigentliche, in den letzten Monaten mehr oder weniger akut einsetzende schwere Krebsgastritis mit ihren entsprechenden schweren, zum Arzt zwingenden Beschwerden. Pathologisch-anatomisch handelt es sich um eine akute Gastritis, die sich als Folge eines entstehenden Karzinoms auf der Grundlage der bereits bestehenden chronischen Gastritis/Gastrose entwickelt. Die eigentliche Krebsgastritis ist somit immer eine chronische, infolge des hohen Alters des Krebsbzw. Gastritisträgers atrophische Gastritis mit akutem Schub. Diese akut verschlimmerte Gastritis der Hauptanamnese scheidet somit, abgesehen von zeitlichen Gründen, als Krebsursache aus. Es ist also festzustellen, daß die eigentliche Krebsanamnese (Hauptanammese) typisch kurz ist, wie in früheren Zeiten auch immer gelehrt wurde.

Die lange, milde (doppelphasige) Anamnese spricht also nicht für eine entscheidende Bedeutung der Entzündung für die Magenkrebsentstehung.

In der letzten Gruppe finden wir die „klassische” kurze Krebsanamnese. Pathologisch-anatomisch handelt es sich um dieselbe chronisch-atrophische Gastritis, die der Hauptanamnese der vorigen Gruppe zugrunde liegt, nur daß die auch hier als Grundlage dienende Altersgastritis usw. keine klinischen Erscheinungen gemacht hat. Die dieser kurzen Anamnese zugrunde liegende schwere Gastritis ist sekundärer Art, also nicht verantwortlich für den Krebs. Der Zeitfaktor spricht in diesen Fällen ebenfalls gegen die entzündliche Genese des Krebses.

Die weiteren gegen die ätiologische Bedeutung der Gastritis sprechenden Befunde, die sich auf Zusammenhänge zwischen Magenkrebs und Lokalisation, multiple Karzinombildung, Ulucus ventriculi et duodeni, Ulkuskarzinom, Gastroenterostomie, perniziöse Anämie usw. beziehen, wurden nur kurz gestreift.

Wenn somit der Magenkrebs iii seiner großen Masse nicht entzündlichen Ursprungs ist, so heißt das nicht, daß der Gastritis nicht eine gewisse auslösende Rolle in dieser Hinsicht zukommt. Es bleibt somit auch ein gewisser Spielraum für die Magenkrebsprophylaxe im Sinne der Gastritisbekämpfung bestehen. Ausschlaggebend wird diese Gastritisbekämpfung (besonders Gastritisresektion) aber für die Herabsetzung der Häufigkeit des Magenkrebses nicht sein, wie ja auch umgekehrt das häufigere Auftreten der Gastritis in unserer Zeit nicht zu einer Zunahme der Häufigkeit des Magenkrebses geführt hat (Staemmler). Die Krebsprophylaxe wird sich zur Hauptsache auf eine frühzeitige Diagnosestellung und dadurch herbeigeführte frühzeitige Behandlung des Magenkrebses beziehen müssen, die Berücksichtigung der sog. „langen” Anamnese kann in dieser Hinsicht in einzelnen Fällen wertvoll sein, indem sie zu besonders genauer klinischer Untersuchung oder sogar laufender Beobachtung Anlaß gibt.

Die Entstehung des Magenkrebses aber bedeutet zur Hauptsache ein einstweilen noch unabwendbares Schicksal.

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