Dtsch Med Wochenschr 1911; 37(33): 1505-1510
DOI: 10.1055/s-0028-1130871
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Kritisches zur Lehre von der Ueberempfindlichkeit in der Pathologie des Menschen

A. Menzer in Halle a. S.
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Publication Date:
22 June 2009 (online)

Zusammenfassung

1. Im Beginne einer Infektionskrankheit beherrschen die Bakterien und die von ihnen im Organismus erzeugten Stoffwechselprodukte das Krankheitsbild, und die Bakterien in erster Linie bedingen nach ihrem Sitze, ihrer Menge und toxischen Leistung die Art der klinischen Erscheinungen. Die Wirkung eines aus dem Bakterieneiweiß abgebauten Anaphylatoxins kann anfänglich dabei nur eine Nebenrolle spielen.

2. Bei jeder schweren Infektionskrankheit hat der Organismus anfänglich um seinen Bestand zu kämpfen. Ist es ihm gelungen, das Vordringen der Bakterien zu hemmen, so beginnt das Stadium der Resorption der noch abgelagerten Bakterienstoffe und der Abbauprodukte menschlicher Gewebe. In diesem Stadium erfolgt erhöhte Belastung des Organismus durch Zerfallsstoffe (Anaphylatoxin) der Bakterien, aber ebenso auch, und dies ist nicht minder wichtig, durch resorbierte, vorher von den Bakterien veränderte Gewebsstoffe.

3. Im Tuberkulin sind vorwiegend die gelösten Bakteriensubstanzen wirksam und erzeugen im Organismus eine opsonisierende Wirkung gegenüber den Krankheitsherden. Dies bedingt einmal Herdreaktion und zweitens durch Resorption toxischer Stoffe (Bakterien und Zerfallsstoffe der Gewebe) die Allgemeinreaktion.

4. Bei der sogenannten Ueberempfindlichkeit der Tuberkulösen befinden sich die Krankheitsherde in einem Zustand leichter Reizbarkeit (Labilität), bzw. werden in einen solchen durch vorangehende Tukerkulininjektion gebracht, sodaß sie deshalb schon bei sehr kleinen Tuberkulindosen ansprechen und in gesteigertem Maße toxische Stoffe abgeben.

Je mehr der tuberkulöse Herd abgekapselt ist oder durch die Behandlung von der Wirkung auf den Allgemeinzustand ausgeschaltet wird, desto schwerer spricht er selbst auf große Tuberkulindosen mit Abgabe toxischer Stoffe an.

5. Eine Serumkrankheit bei Erstinjizierten im Sinne v. Pirquets und Schicks gibt es nicht. Die von diesen Autoren beschriebenen, mit mehrtägigem Fieber, Erythem, Gelenkerscheinungen, Drüsenschwellungen, Albuminurie etc. einhergehenden Erscheinungen sind der Ausdruck der durch Serum wahrscheinlich gesteigerten Resorption toxischer Produkte, welche aus Bakterieneiweiß und Zerfallsstoffen des Organismus stammen.

6. Das Jod (Jodnatrium, Jodkalium) entfaltet im Organismus gegenüber infektiösen Herden eine Entzündung und Resorption anregende, gewissermaßen opsonisierende Wirkung. Es kann daher gelegentlich auch latente Krankheitsprozesse, wie z. B. der Schilddrüse in die Erscheinung bringen.

Hierdurch findet wahrscheinlich in Krankheitsfällen, die bei kleinen Jodgaben mit thyreotoxischen Symptomen reagieren, die besondere Jodempfindlichkeit ihre einfache Erklärung.

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