Dtsch Med Wochenschr 1918; 44(42): 1153-1155
DOI: 10.1055/s-0028-1134735
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur Behandlung der Diphtherie mit gewöhnlichem Pferdeserum

H. Bonhoff
  • Aus dem Hygienischen Institut der Universität in Marburg
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Publication Date:
16 July 2009 (online)

Zusammenfassung

Bingels Ergebnisse geben keinerlei Anlaß zur Unzufriedenheit mit dem Antitoxin. Seine eigenen Zahlen stehen mit seiner Auffassung von der Bedeutung der Serumquantität nicht in Einklang. Der Vergleich der Wirkung antitoxinhaltigen und „gewöhnlichen” Pferdeserums auf Diphtheriekranke in der Absicht der Diskreditierung des Antitoxins setzt erwiesene Antitoxinfreiheit des „gewöhnlichen” Pferdeserums voraus. An diesen Nachweis ist nicht einmal gedacht worden. Auch bei dem Braunschweiger Material zeigt sich die bisher stets festgestellte bessere Wirkung des Antitoxins bei möglichst frühzeitiger Behandlung, während etwas Aehnliches sich bei dem „gewöhnlichen” Pferdeserum nicht beobachten läßt. Gerade die Umkehrung der Gedankengänge des Verfassers, eine Steigerung der Antitoxindosen, die nicht nur möglich, sondern absolut notwendig war, hätte nach den Erfahrungen an anderen Krankenhäusern noch bessere Ergebnisse versprochen.

Auf die Begründung der abweichenden Stellungnahme des Verfassers, die sich schließlich in die beiden alten Sätze bringen läßt, daß erstens der Mensch kein Meerschwein ist und zweitens nur am kranken Menschen sich entscheiden läßt, gehe ich nur kurz ein. Wir haben das in der Mitte der 90er Jahre bis zum Ueberdruß gehört. Inzwischen ist der Nachweis zirkulierenden Diphtherietoxins auch beim Menschen gelungen, es konnte die Antitoxinvermehrung im Blute während des Krankheitsverlaufes verfolgt werden, die Menge des sich im Blute gewöhnlich bildenden Antitoxins wurde festgestellt, kurz die Identität der menschlichen Diphtherieerkrankung mit dem Tierversuch in den hier für uns wichtigen Punkten ist über jeden Zweifel sichergestellt worden. Meines Erachtens ist ferner in den letzten 24 Jahren entschieden, und zwar an einem riesenhaften Material kranker Menschen, daß das Antitoxin auch beim Menschen hilft. Was bedeuten gegenüber diesen Hunderttausenden von Beobachtungen, die auch die Erfahrung besserer Wirkung stärker konzentrierten Antitoxins ohne Steigerung der Serummengen einschließen, die paar Hundert Braunschweiger Fälle, in denen die Schädigung der Kranken durch die Behandlung mit vielleicht antitoxinfreiem Seram noch nicht zahlenmäßig ganz einwandfrei in Erscheinung tritt? Denn daß von diesen der wohltätigen Wirkung des Serums beraubten Kranken eine ganze Anzahl durch rechtzeitige Behandlung mit genügend hohen Dosen Antitoxin hätte gerettet werden können, ist meine feste Ueberzeugung. Ich bewundere den Mut des Arztes, der nach den Ergebnissen der Heilserumbehandlung am Menschen diphtheriekranke Kinder ohne Antitoxin zu behandeln vermag. Pietätsäußerungen für „unsere Besten” stehen ihm nicht gut. Es dürfte angebracht sein, der heutigen Aerztegeneration den Satz Siegerts ins Gedächtnis zu rufen: „Geradezu der Fahrlässigkeit und der bewußten Schädigung des ihm anvertrauten Kranken macht sich der Arzt schuldig, der angesichts solcher Tatsachen die Anwendung des Serums bei Diphtherie unterläßt.” Wer will bezweifeln, daß für Siegert „Serum” hier gleichbedeutend war mit Antitoxin?