Dtsch Med Wochenschr 1927; 53(7): 270-273
DOI: 10.1055/s-0028-1144993
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Geheilte Myeloneuritis acutissima beim Kinde

G. L. Dreyfus
  • Direktor der Abteilung und Poliklinik für Nervenkranke im Städtischen Krankenhaus in Frankfurt a. M.
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Publication Date:
19 August 2009 (online)

Zusammenfassung

Wenn wir die vorliegende Krankheitsgeschichte ganz kurz zusammenfassen, so finden wir, daß bei einem gesunden 13jährigen Jungen (dessen Urgroßvater eine Myelitis subacuta mit Defektheilung durchgemacht hatte) nach einer sehr starken Durchkältung und großen körperlichen Anstrengung, die sich im Laufe von 8 Tagen (dazu kam noch ein heftiger Fall aufs Gesäß) wiederholt hatte, anfänglich ein Zustand von „Muskelrheumatismus” mit mäßiger Temperatursteigerung auftrat. Todesangstträume in der ersten und zweiten Nacht decken deutlich das schwere subjektive Krankheitsgefühl auf. Als erstes zentrales Symptom zeigt sich am 2. Krankheitstag — abgesehen von spontanen Muskelzuckungen — eine Urinrentention, bis am gleichen Abend unter zunehmenden heftigsten — nur durch Morphium bekämpfbaren —. Schmerzen hohes Fieber auftritt. Am 3. Krankheitstag setzt eine bis zum Abend fast völlige Lähmung der unteren Extremitäten, der Becken-, Bauch- und Rückenmuskeln ein. Auch die Arme und Hände sind subjektiv beteiligt. Die anfänglich gesteigerten Patellar-, Achilles- und Fußsohlenreflexe schwächen sich ab und sind am 4. Krankheitstag, nachdem Bauch- und Kremasterreflexe bereits tags zuvor nicht mehr auslösbar waren, verschwunden. Gleichzeitig besteht rasch zunehmender Opisthotonus, ein geringerer Grad von Nackensteifigkeit, starke Druckempfindlichkeit der gesamten Muskulatur und Nervenstämme ohne Störungen der Sensibilität. Incontinentia alvi. Der Urin ist im Sinne einer hochfieberhaften Allgemeininfektion verändert, die Zunge, wie meist bei schweren Infektionskrankheiten, dick-weiß belegt. Dabei besteht schwerstes Krankheitsgefühl, bei stets freiem Sensorium.

Das am 1. Krankheitstag gegebene Chinin (3mal 0,1) wird am 2. Krankheitstag nicht mehr verabreicht, weil Pyramidon in kleinen Dosen als schmerzstillendes Mittel gegeben werden mußte. Am 3. Krankheitstag, sobald der zentrale Charakter der Erkrankung sichergestellt war, wird Chinin in großen Dosen (0,8 in 24 Stunden), ebenso Septojod (2mal am 1. Tag) gegeben. Bereits am Tage der großen Chinin- und Joddosen sank das Fieber, und am Tage danach (4, Krankheitstag) begann der Rückgang der Lähmungserscheinungen. Am 5. Krankheitstag sind Achilles- und Fußsohlenreflexe wieder auslösbar. Am 6. Krankheitstag stellt sich die spontane Blasenfunktion, wenn auch anfangs noch etwas zögernd, ein. Die Zunge reinigt sich. Die Muskellähmung ist an diesem Tag fast völlig, 2 Tage später gänzlich geschwunden. Vom 7. Krankheitstag ist die Temperatur, die an dem einen Tag, an dem Chinin und Septojod ausgesetzt waren (5. Tag) wieder deutlich angestiegen war, nahezu normal. Die Eiweißtrübung im Urin ist fast verschwunden. Am 9. Krankheitstag zeigt das Bild die so häufig nach schweren Infektionen auftretende Bradykardie, die sich nach wenigen Tagen verliert. Am 11. Tag sind alle Reflexe wieder vorhanden, das anfänglich so schwere Krankheitsgefühl ist so völlig verschwunden, daß Patient bereits das Bett zu verlassen wünscht. Der Urin ist von nun an chemisch und mikroskopisch normal.

Chinin wird in absteigenden Dosen bis zum 8. Tag, Septojod bis zur restlosen Normalisierung der Temperatur (14. Tag), mit einer Ausnahme, täglich gegeben (etwa 10 ccm — meist intravenös).

Bereits am 13. Tag kann der Junge (für eine Minute aus dem Bett geholt) gehen und stehen. Am 24. Tag — nach 10 ganz fieberfreien Tagen — steht er zum erstenmal auf.

Die Rekonvaleszenz vollzieht sich normal, wenn vielleicht auch etwas langsam. 2 Monate nach Beginn der Erkrankung geht Patient wieder zur Schule und ist restlos wiederhergestellt.

Ich glaube, daß die Diagnose Myelomeningoneuritis acutissima nach meiner Schilderung keinem Zweifel unterliegt und daß deshalb irgendwelche differentialdiagnostische Erwägungen an dieser Stelle überflüssig sind.

Erscheinungen von seiten des Gehirns, also rein enzephalitische Symptome, waren nie vorhanden. Ob die anfänglich in so großer Heftigkeit auftretenden Schmerzen meningitischer oder neuritischer Natur waren, läßt sich nicht entscheiden.

Sicherlich waren aber die hinteren Wurzeln, nach der Art der Schmerzen zu schließen, ergriffen. Auch die unwillkürlichen Muskelzuckungen sprechen für motorische Reizerscheinungen im Wurzelgebiet. Rückensteifigkeit, Opisthotonus, Nackensteifigkeit zeigen die Mitbeteiligung der Meningen.

Eine Querschnittsmyelitis bestand nicht, wohl aber eine vom Sakralmark (Retentio urinae: Initialsymptom, Incontinentia alvi) innerhalb 24 Stunden bis zum Halsmark aufsteigende diffuse Myelitis, die in dieser Zeit zu schwerster Parese eines großen Teils der Muskulatur und Areflexie führte. Vor der Medulla oblongata machte der Prozeß halt.

Viel schneller als bei der Landryschen Paralyse, ganz anders wie bei der Poliomyelitis, vollzog sich die Ausbildung der Lähmung und restlose Rückbildung der gelähmten Muskeln.

Von neuritischen Symptomen bestand, abgesehen von der Druckempfindlichkeit der Muskeln und Nervenstämme, nur die Hauthyperästhesie, da wir die anatomische Ursache der heftigsten Schmerzen zentraler verlegen. Wenngleich selten vorkommend, ist es doch allgemein bekannt, daß meningitische und neuritische Symptome den myelitischen Prozeß komplizieren können. Schon Oppenheim betont, daß in zweifelhaften Fällen das Hervortreten von Rückenschmerzen, ausstrahlende Schmerzen in die Extremitäten, Rückensteifigkeit, das Vorhandensein meningoneuritischer Symptome anzeigen. Interessanterweise faßt er diese neuritischen Symptome als Zeichen von relativ guter Vorbedeutung auf „wenn er berechtigt ist, aus wenigen Beobachtungen diesen Schluß zu ziehen”.

Wenn wir nach der Ursache dieser ganz schweren Erkrankung forschen, so dürfen wir wohl — besonders nach den eingangs erwähnten Ansichten, die schwere Durchkältung, im Verein mit großer körperlicher Anstrengung (beides sich innerhalb 8 Tagen wiederholend) und wohl zuletzt auch den Fall auf das Gesäß (Beginn im Sakralmark) als die letzten äußeren ursächlichen Faktoren ansprechen.

Was die Frage der Therapie anlangt, so ist es selbstverständlich bei strenger Kritik sehr schwierig, den günstigen Ausgang der Erkrankung allein oder vorzugsweise auf die Behandlung zurückzuführen. Dies um so mehr, als ja Fälle bekannt sind, die auch ohne alle Behandlung heilten. Blättert man in den Lehrbüchern, durchforscht man die Literatur[1)] und sucht nach Medikamenten, die in solchen Fällen empfohlen werden, so stößt man immer wieder auf die beiden, die vielleicht unseren Fall entscheidend beeinflußten: Chinin und Jod.

Das am 1. Tag verabreichte Chinin (3mal 0,1) hat nach unserer Erfahrung bei anderen Infektionskrankheiten (z. B. bei der Impfmalaria) nach etwa 24 Stunden seine Wirksamkeit, wenn es überhaupt wirkt, eingebüßt: 26 Stunden nach der letzten Chinindosis des 1. Tages setzt die unvermittelte Verschlimmerung ein. Am 3. Tag, dem Tag des rapiden Fortschreitens des myelitischen Prozesses, wird Chinin und Jod in großen Dosen gegeben: die Krankheit schreitet noch 12 Stunden fort und geht dann mit dem absinkenden Fieber zurück. Am 11. XII. an dem wegen der Gefahr eines Arzneiexanthems Chinin und Jod ausgesetzt werden, steigt die Temperatur deutlich an, um bei Wiedereinsetzen der Chinin-Jod-Darreichung weiterhin rasch abzusinken. Das alles mag ein Zufall sein, und ich selbst möchte mich keineswegs auf den Erfolg dieser Behandlung festlegen. Jedenfalls aber kann diese Art der Therapie doch eine Richtschnur sein für analog gelagerte Fälle. Darin stimme ich ganz mit Economo und den anderen zitierten Autoren auf Grund zahlreicher eigener Beobachtungen überein: das Medikament, das sich uns bei der Enzephalitisbehandlung am meisten bewährt hat (abgesehen von der gelegentlich bei akuten Fällen wirksamen Inunktionskur) ist das Septojod[2)]. Und zwar ist es viel wirksamer bei der akuten als bei der subakuten und chronischen Form der Enzephalitis, die ja einstweilen therapeutisch noch recht unbefriedigend ist. Selbstverständlich sah ich aber auch bei der akuten Enzephalitis Fälle, die jeder Behandlung trotzten. Vom Rekonvaleszentenserum halte ich nicht viel.

Eine Kontraindikation gegen das Chinin besteht nicht. Die Chininidiosynkrasie ist ja glücklicherweise ungemein selten, wie all die Tausende von chininbehandelten Impfmalariafälle beweisen, die dieses Medikament anstandslos vertragen.

Ich empfehle im Interesse intensivster Wirkung des Septojods— nach einer probatorischen intramuskulären Injektion von 2,0 — bei akuten Fällen, wie bei dem unseren, das Septojod intravenös zu geben, je nach der Schwere des Falles 5, 8, 10, 20 ccm täglich, eventuell zweitägig. 48 Stunden nach intravenöser Septojodinjektion ist gewöhnlich Jod im Urin nicht mehr nachweisbar.

Gelegentlich sah ich bei täglichen Septojoddosen von 10,0 leichten Jodismus auftreten, der zu Reduktion der Dosis auf etwa die Hälfte, nicht aber zum Absetzen des Mittels zwang.

Schädliche Folgen des Septojods sah ich, wenn man es in diesen Dosen täglich bzw. zweitägig (bis zu 200 und 300 ccm Gesamtdosis) gab, bisher nur einmal bei einem Fall von subakuter Myelitis. Hier wurde eine latente, keine Erscheinungen machende und bei der Lungenuntersuchung nicht entdeckte Lungentuberkulose aktiviert. Es kam bereits nach der 5. Injektion zu akuten Lungenerscheinungen, Fieber, Auswurf mit Tuberkelbazillen. Diese höchst unerwünschte Provokation klang nur sehr langsam ab. Bisher sah ich aber nie, auch bei B. Typ-Kranken, nach Septojod thyreotoxische Symptome auftreten. Die Mög lichkeit der Provokation solcher Symptome ist aber gewiß nicht von der Hand zu weisen, und die Warnung bei latenter Tuberkulose und Thyreotoxikose, auch bei Patienten mit deutlicher Struma vorsichtig zu sein, ist wohl nur allzu berechtigt. Sonst aber kann ich auf Grund von Erfahrungen an einem relativ großen Material das Septojod bei akuten und subakuten „Enzephalitisfällen” als das wirksamste — und mit obigen Einschränkungen — auch ungefährliche Mittel empfehlen. Je akuter die Erkrankung, desto intensiver und schneller wird man das Septojod dem Organismus zuführen, das geschieht am besten auf intravenösem Wege. Ist keine unmittelbare Gefahr im Verzuge, dann kann man ebensogut das Septojod intraglutäal geben. Zumeist wird es auch so schmerzlos und glatt vertragen. Auch bei akuten Neuralgien hat sich mir das Septojod häufig sehr bewährt.

Bei chronischen Enzephalitisfällen versagt leider das Septojod nur allzu oft. Oft hört man von solchen Patienten, daß die Beschwerden unmittelbar im Anschluß an die Injektion nachlassen: Bald sind sie aber zumeist — auch bei prolongierter Behandlung — wieder im alten Umfange da. Bei solchen Fällen wird man nach anderen therapeutischen Wegen suchen müssen — soweit man überhaupt helfen kann. Vielleicht hilft uns hier die Erzeugung künstlichen Fiebers weiter.

1 Economo, W. m. W. 1921 Nr. 30. und Kongr. f. inn. M., Wien 1923; Dattner, W. kl. W. 1921 Nr. 26; Schramm, Arch. f. Psych. 1923, 70 H. I; Stiefler, W. kl. W. 1924 Nr. 39.

2 Das Septojod (in Ampullen und Flaschen, hergestellt von den Chemischen Fabriken Dr. Joachim Wiernik& Co., Berlin Waidmannslust) ist identisch mit der konzentrierten Preglschen Jodlösung (1:10). Konzentriertes Presjod = Septjod!

1 Economo, W. m. W. 1921 Nr. 30. und Kongr. f. inn. M., Wien 1923; Dattner, W. kl. W. 1921 Nr. 26; Schramm, Arch. f. Psych. 1923, 70 H. I; Stiefler, W. kl. W. 1924 Nr. 39.

2 Das Septojod (in Ampullen und Flaschen, hergestellt von den Chemischen Fabriken Dr. Joachim Wiernik& Co., Berlin Waidmannslust) ist identisch mit der konzentrierten Preglschen Jodlösung (1:10). Konzentriertes Presjod = Septjod!

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