Balint Journal 2009; 10(3): 92-93
DOI: 10.1055/s-0029-1224615
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Leserbrief zu A. Doering-Manteuffel, E. R. Petzold: Strukturwandel und die Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts

Balint 2009; 10: 6–10Letter to the Editor. Structural Change and the Erosion of Social CohesionBalint 2009; 10: 6–10R. Gunkel
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Publication Date:
18 September 2009 (online)

Selbst-Entfaltung durch Selbstversorgung

Die Arbeiten von Döring-Manteuffel und Petzold [1] zu „Strukturwandel und Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ haben etwas von einem Gesundbrunnen und animierten mich zum folgenden Leserbrief. Es geht schließlich darum, unser psychologisches Denkwerkzeug auf den Horizont des Gesellschaftlichen zu erweitern – dorthin reicht unser psychotherapeutischer Auftrag.

Womöglich spukte bislang ein „Ausläufer“ des Abstinenzgedankens in den Köpfen der Psychotherapeuten, der es erschwert(e), seelische Not über die dyadische oder die intersubjektive Perspektive hinaus wirklich bis hin zu den Quellen der Not, den anthropogenen Ur-Sachen der globalen Krise, des Zustandes unseres Planeten – unseres Ur-Körpers – zu befragen. Wo ist der Ausweg aus der Individualisierung mit ihren „Bindungsverlusten und Entwicklungsblockaden“?

Es gab und gibt reichlich Widerstände in uns, den analysierenden Blick also über den individuellen, familiären und sozialen Horizont hinaus gar auf Nachhaltigkeit, auf die ökologische Perspektive zu erweitern. Aber erst unter dieser Perspektive geht es um’s Ganze (nebenbei eben auch um das Ganze der Psychotherapeut-Patient-Beziehung). Wir Leute unseres Faches könnten es doch rasch sehen: Die in der Finanzwelt und Gesamtwirtschaft sichtbar gewordene Krise ist nur vordergründig eine Krise der Ökonomie oder der Politik: Im Hintergrund, also in der Tiefe unserer Psyche geht es um das Existenzbedrohende unserer unablässigen Natur-Ent-Bindung, unserer Art und Weise der Kultivierung, die uns eben das von ­Döring-Manteuffel [1] beklagte Veröden auf dem Weg der Individualisierung einbringt. Aber selbst wir Fachleute schauen oftmals nicht über den Schüsselrand unserer Abhängigkeiten, die wir uns mittels dieser fehlgehenden Individuation insbesondere seit der Industrialisierung angeschafft haben, ­hinaus. Wir lösen uns noch kaum von unserem Fehler im Bewusstsein, die Ur-Bindung als Ab­hängigkeit fehl zu deuten, von der wir uns via Kultivierung zu lösen hätten. Obwohl unsere Naturgebundenheit, so existenziell sie ist, immer brüchiger wird (gewissermaßen der Schwund der Artenvielfalt in unserer eigenen Psyche), setzen auch wir Psychotherapeuten ­ungebrochen Vertrauen in die moderne Sozialisation. Dieses Vertrauen aber trägt nunmehr die (bedrohliche) westlich-luxuriöse Lebensweise, erlernt über die letzten ca. 200 Jahre rabiater Ausbeutung globaler Ressourcen, erlernt über die mit dem (perversen) Wachstum möglich gewordene, westliche Kultivierung. Die Erfolge dieser Kultivierung, also die intrapsychisch unablässig bestätigenden Rückmeldungen dieser Sozialisa­tions­form, haben uns Schritt für Schritt und schier ­unbemerkt von ­unserer Naturgebundenheit „ent-bunden“, haben unsere (Primär-)Beziehungen ­geprägt, und wir haben uns perfekte Abwehr­mechanismen zum Schutze dieser Verwöhntheit, ja, Abhängigkeit angeschafft.

Sind wir Fachleute selbst bereit (oder in der Lage?), in der Todesfahrt eines Jörg Haider unsere eigene potenziell todbringende Risikobereitschaft zu hinterfragen, anhand des alpinen Tötens durch Dieter Althaus die Pistensau in uns selbst zu ­erkennen oder dem Fehler auf den Grund zu schauen, auf den uns die Piraten am Horn von Afrika so schmerzlich aufmerksam machen: Wir selbst sind die Piraten! Nicht die „Heu­schrecken“ an Banken- und Konzernspitzen sind das Problem, sondern das ganz alltägliche, normale Gefräßige in uns selbst: Längst haben wir uns (beinah gern) unsere Fähigkeiten zur Selbstversorgung, „abkaufen“ lassen und jagen nach zentralisiert und transport­intensiv hergestellten, möglichst billigen Sachen, so überflüssig dieselben vielfach sind. Das ist ­unsere Normalität, unsere kulturelle Selbstverständlichkeit, und genau damit machen wir (uns) kaputt.

Also, in Umkehrung des Üblichen, die Abhängigkeit des Natur­gebundenseins könnte Salutogenese, die Individuation Patho­genese sein. Oder ist das alles weit weg von Psychologie und ­Psychoanalyse? Rudolf Bahro, Th. Rosszak, J. Macy, H. E. Richter, W. Schmidbauer, Til Bastian, Erich Fromm und Rainer Funk, die Autoren der hier kommentierten Artikel und andere stehen nach meinem Verständnis für diese „gewendete“ Perspektive.

Der Klimawandel ist vorrangig Ergebnis der Fehlentwicklungen der Industriegesellschaft – zentralisiertes, transportintensives Herstellen weithin nutzloser „Sachen“ einerseits und an deren Billigpreis und der beworbenen Attraktivität orientiertes, im Grunde suchtartiges Konsumieren andererseits. Und der Klimawandel wird unserer Lebensweise wahrscheinlich noch vor dem Ende der Bodenschätze Einhalt gebieten. Er zwingt uns schon jetzt, den Blick auf das Leben NACH dem Öl (der Kohle, dem Uran, dem Eisen usw. usf.) zu richten. Das ist der Fokus für die ­Zukunft einer „entwickelten Industriegesellschaft … als offene Gesellschaft“ (S. 10), nämlich das Herstellen und Verbrauchen ­unter dem ökologischen Dogma des Erhalts der natürlichen Lebens­grundlagen. Ob wir Zeit haben für diesen Wandel, bis das Öl (die Kohle usw.) ausgebeutet sind, wissen wir nicht (siehe Klimawandel). Aber wir wissen, dass das Leben NACH den Res­sourcen, nach der Phase der fossilen (Verbrennungs-)Wirtschaft erneut alter Tugenden bedürfen wird: der Fähigkeiten zur Selbstversorgung! Dieser Fähigkeiten haben wir uns (nahezu unbemerkt, aber überaus effektiv) beraubt. Das andere Leben NACH den Ressourcen wird uns zum Neulernen zwingen. Je später wir damit beginnen, umso riskanter, je früher, umso erfreulicher, umso bereichernder bis in die Tiefe unserer Psyche hinein.

Ein afrikanisches Sprichwort sagt sinngemäß: Das Kind braucht ein Dorf, um sich zu entwickeln. Aber kein Dorf, in dem es popkorn-kauend vor dem Fernseher sitzt, bis die Eltern argentinisches Rinderfilet und neuseeländische Bio-Äpfel aus dem Supermarkt bringen, sondern ein Dorf, in dem Eltern, Kinder und Alte mit anderen Eltern, Kindern und Alten dabei sind, für ihr Obst und Gemüse und andere alltägliche Sachen zu sorgen.

Neben vielen Versuchen rund um den Globus hat 2006 eine britische Gruppe von Fachleuten für Permakultur, Ökonomie, alter­native Energie und Psychologie um Rob Hopkins den Weg zur kommunalen Selbstversorgung konsequent begonnen [2]. Das davon ausgehende „Transition Network“ breitet sich gerade wie ein Virus aus.

Die Zukunft ist selbstversorgend – oder gar nicht. Die Hoffnung auf wissenschaftlich-technische Wunderwerke, mittels derer wir nach Ressourcenende immer weiter so machen können, wird zusammenbrechen. Die „Überlebenskompetenz der Völker“ [1] dürfte darin liegen, sich – auf’s Neue – selbst versorgen zu lernen anstatt sich dieser Fähigkeit immer weiter berauben zu lassen.

Bis in die Individualpsychologie hinein gelten: Selbst-Erhaltung, ja, Entfaltung des Selbst durch Selbstversorgung, der (mentale) Auszug aus der Stadt in das Sozialgefüge des Dorfes, weithin entwöhnt von fremd-versorgenden Abhängigkeiten, als Basis für Resilenz und Nachhaltigkeit.

Ob wir uns vom Virus „kommunale Selbstversorgung“ anstecken lassen, wir Psychotherapeuten, und ob wir damit unsere Patienten anstecken?

Literatur

  • 1 Doering-Manteuffel A, Petzold E R. Strukturwandel und die Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts.  Balint. 2009;  10 6-10
  • 2 Hopkins R. Energiewende – Handbuch für zukünftige Lebensweisen. Verlag Zweitausendundeins; 2008

Dr. phil. R. Gunkel

Suhler Straße 109

98528 Suhl-Goldlauter

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