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DOI: 10.1055/s-0029-1237431
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Diagnoseorientierte Bezahlung – Honorarungerechtigkeit und Qualitätsverlust
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
01. August 2009 (online)

Die Formulierung einer Diagnose ist eine zentrale ärztliche Aufgabe, die viel Sachkunde und eine hohe Kunstfertigkeit verlangt. Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte jeder Arzt aus einer Diagnose wie ,Herzinsuffizienz' oder ,Diabetes' klare Konsequenzen hinsichtlich Diagnostik, Therapie und Patientenmanagement ableiten. Inzwischen weiß jedoch mancher Arzt nicht mehr, ob das was im Entlassungsbrief an Diagnosen aufgeführt wird, überhaupt noch Relevanz hat. Auch wir Hausärzte verwenden Diagnosen oft mehr als Leistungsbegründungen denn als korrekte Beschreibung der Gesundheitsprobleme von Patienten.
Die Nachteile der diagnoseorientierten Bezahlung für den Berufsalltag werden immer auffälliger. Krankenhausärzte klagen, sie hätten dank des Aufwands für Kodierung und Dokumentation immer weniger Zeit für den Patienten. Dass dies der Wahrheit entspricht, wies eine Dissertation am Universitätsklinikum Freiburg nach (www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/3574/pdf/Endversion.pdf). Durchschnittlich sprachen die Mediziner 4 Minuten 17 Sekunden mit einem Patienten (insgesamt 70 Minuten je Arbeitstag) bzw. 20 Sekunden mit einem Angehörigen (insgesamt 6 Minuten je Arbeitstag). Demgegenüber entfielen 11 Minuten pro Arzt und Arbeitstag auf die Diagnoseklassifikation.
Auch eine Studie der Abteilung Allgemeinmedizin Leipzig und der Sächsischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM) befasste sich mit diesem Thema. Demnach beträgt der Zeitaufwand für die Kodierung nach ICD-10 mithilfe der Praxis-EDV 54 Sekunden pro Code, für die manuelle Kodierung brauchen die Ärzte pro Code 60 Sekunden. Ähnliche Ergebnisse fanden Rae et al. (2005): Dauerdiagnosen waren zeitaufwendiger als akute Diagnosen, die ICD-10 deutlich aufwendiger als primärmedizinische Klassifikationen.
Doch sind die so klassifizierten Diagnosen für den weiterbehandelnden Arzt wirklich hilfreich? Selbst bei einer gründlichen und unabhängig von finanziellen Anreizen stattfindenden Klassifikation stimmen die Diagnosencodes verschiedener Ärzte bei 2- oder mehrstelliger Klassifizierungstiefe nur unzureichend überein, zeigt eine gerade publizierte Arbeit von Wockenfuß et al. Somit kann auch der niedergelassene Arzt wie sein Krankenhauskollege von sich behaupten, täglich bis zu einer Stunde mit unnützer Arbeit zu verbringen.
Je unsinniger allerdings die Diagnoseklassifikation unter den Bedingungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in der Praxis wird, desto mehr jedoch lieben Gesundheitsökonomen die diagnoseorientierte Leistungsvergütung. Angeblich soll der diagnosebezogene Ansatz die Versorgung von chronisch Kranken besser und gerechter gestalten. Selbst Barack Obamas Gesundheitsministerin liebäugelt mit einer Abschaffung der Vergütung von Leistungen zugunsten der Bezahlung von versorgter Morbidität. In unserem Land der DRGs („diagnosis related groups“) und DMPs (Disease-Management-Programme) müssten also multimorbide Patienten besonders gut versogt sein. Im internationalen Vergleich der Versorgung von chronisch Kranken in 8 Ländern nimmt Deutschland jedoch nur einen schlechten Platz im Mittelfeld ein (Schoen, 2009).
Die Klassifikationswut der Deutschen hat also keineswegs die Informiertheit von Arzt und Patienten verbessert. Wir verbringen viel wertvolle Zeit damit, einen ursprünglich genialen Begriff inhaltlich auszuhöhlen und zur Basis einer ungerechten Bezahlung zu machen. Darunter wird die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten weiter leiden. Es ist traurig zu sehen, dass der Umgang mit dem Begriff Diagnose in einer Autowerkstätte besser und intelligenter erfolgt als im Gesundheitswesen.