Dtsch Med Wochenschr 2010; 135(38): 1851
DOI: 10.1055/s-0030-1263325
Editorial
Hämatologie, Onkologie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Personalisierte Krebsmedizin – Utopie oder Chance?

Personalized treatment of cancer: utopia or chance?E. Thiel1
  • 1Medizinische Klinik III, Charité – Universitätsmedizin Berlin
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Publication Date:
14 September 2010 (online)

„The right medicine for the right person at the right time” – dieses Motto des ASCO-Kongresses 2009 war der Startpunkt personalisierter oder individualisierter Medizin in der Onkologie, welche nunmehr in aller Munde ist. In Anbetracht einer gewissen terminologischen Unsicherheit und den hohen Erwartungen, welche eine personalisierte Krebsmedizin suggeriert, ist man gut beraten, wenn man sich an eindeutigen Paradigmen orientiert. Grundsätzlich nutzt personalisierte Krebsmedizin das Wissen um die molekulare Genetik des individuellen Tumors und gegebenenfalls auch die pharmakogenetische Konstellation des Patienten, um ein besonders gutes Ansprechen oder aber auch ein schlechtes Ansprechen auf zielgerichtete Therapien anzuzeigen. Diese zielgerichteten Medikamente sind dann therapeutisch wirksam, wenn sie mit den molekularen „Treibern” interagieren, von welchen die Tumorzelle gemäß ihrer genetischen Aberration in ihrem malignen Wachstum abhängig ist.

Paradebeispiele aus der Onkologie sind aktivierende Mutationen des epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptors EGFR bei einer Subgruppe von Patienten mit Bronchialkarzinom, die auf EGFR-Tyrosinkinase-Inhibitoren ansprechen, oder eine noch kleinere Gruppe von Patienten mit EML4-ALK-Fusionsgenen, welche mit einem oralen c-MET/ALK-Inhibitor hoch effektiv behandelbar sind. Andererseits ist beim kolorektalen Karzinom eine Mutation von K-RAS prädiktiv für ein Nicht-Ansprechen auf eine Chemotherapie-kombinierte EGFR-Antikörpertherapie, welche jedoch im Falle eines K-RAS-Wildtyps sehr wirksam ist. Diese Beispiele zeigen die Aufwertung der Grundlagenforschung im Kontext der klinischen Onkologie und die zunehmende Bedeutung qualitativ hochwertiger molekularer Diagnostik zur Subklassifikation bislang nur Organ-definierter Entitäten mit immensen therapeutischen Implikationen.

Die „One size fits all”-Gießkannen-Strategie zahlreicher Phase-III-Studien der letzten Jahre gemäß Tumorpathologie muss zunehmend geändert werden. Andererseits muss immer mehr realisiert werden, dass nunmehr wissenschaftlich begründete exklusive, manchmal nur wenigen Patienten zugängliche und auch noch kostenaufwendige Therapieoptionen mehr und mehr verfügbar werden mit erheblichen Allokations-, Gerechtigkeits- und Nachhaltigkeitsproblemen in einer Situation, wo sich die Gesundheitssysteme durch mehrere Ursachen in einer eher prekären Lage befinden.

Noch stehen wir am Anfang einer zukunftsträchtigen Entwicklung individualisierter Tumormedizin. Aktuell sollte man jedoch die Wirkchancen der Targettherapien insgesamt nicht überschätzen, wie anhand des breiten Einsatzes der aufwendigen Angiogenese-Inhibitoren erkennbar ist, welche bisweilen nur verlängerte Progressionsfreiheit vermitteln unter einer gewissen Mehrung von Nebenwirkungen und insbesondere immensem ökonomischem Aufwand für die Allgemeinheit der Patienten. Hier ist viel kritische Aufarbeitung notwendig, um nicht durch noch weiter ausufernde Kosten den prinzipiellen Fortschritt der Targettherapien zu gefährden: Zusätzlich zur gezielteren Tumorwirkung entfällt ja bei diesen Therapieformen das Risiko, die DNA nicht-tumorkranker Zellen zu schädigen, wie es bei der herkömmlichen zytostatischen Chemotherapie der Fall ist.

Das erste und immer noch beste Paradigma kommt aus der Hämatoonkologie, nämlich der Siegeszug der Tyrosinkinase-Inhibitoren bei Leukämien mit dem BCR-ABL-Fusionsgen. Diese Vorreiterrolle ist ein verpflichtendes Gebot für den diesjährigen Kongress 2010 der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie in Berlin, die spannende Thematik der individualisierten Krebsmedizin bezüglich ihrer verschiedenen Facetten zu diskutieren, aktuell zu gewichten und klinisch wie auch insbesondere wissenschaftlich voranzubringen.

Prof. Dr. Eckhard Thiel

Medizinische Klinik III
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Benjamin Franklin

Hindenburgdamm 30

12200 Berlin

Email: eckhard.thiel@charite.de

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