PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(4): 356
DOI: 10.1055/s-0031-1276970
Resumé
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Von der Fallsucht zur Fallkonzeptualisierung

Michael  Brünger, Michael  Broda
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Publication Date:
13 December 2011 (online)

Dieses Heft zeigt in eindrücklicher Weise die ganze Vielfalt des Phänomens „Anfälle“. Damit fühlen wir Heftherausgeber uns bestätigt, ein Heft über ein Spektrum von Störungsbildern, welches zwar phänomenologisch schwer zu differenzieren, aber nosologisch sehr wohl unterschiedlich ist, zu publizieren.

Was aber auch deutlich wird: Keine Profession kann alleine Anfallsleiden umfassend versorgen. Somit ist das Heft auch ein Plädoyer für die berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit von Neurologen, Psychotherapeuten, Sozialarbeitern und weiteren Berufsgruppen. Gefragt werden kann auch, ob die Unterscheidung in Behandlung von Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen, wie sie in der Psychotherapie nach den Psychotherapierichtlinien getroffen wird, hier noch sinnvoll ist. Viele der EpilepsiepatientInnen gelangen zu einem Zeitpunkt in die Erwachsenenpsychotherapie, an dem durch Veränderungen des Lebenskontextes eine besondere Gefährdung psychischer Kompetenzen entsteht und somit auch die Anfallswahrscheinlichkeit steigen kann. Sich gerade dann einen neuen Therapieplatz bei jemandem zu suchen, der die ganze Entwicklung der Erkrankung nicht verfolgt hat, scheint wenig Sinn zu machen.

Deutlich wird bei der Lektüre der Beiträge auch, dass große Unsicherheiten bezüglich der diagnostischen Einordnung bestehen und dass manche der seit Jahren auf Epilepsie Behandelten sich als PatientInnen mit psychogenen Anfällen herausstellen. Doch die ausschließliche Kategorisierung in „echt“ oder „psychogen“ scheint deswegen nicht hilfreich, da die psychische Komorbidität ein ganz häufiger Begleiter von Epilepsie ist.

Wir denken, dass das Thema „Anfälle“ gut geeignet ist, einerseits auf die Unabdingbarkeit der berufsgruppenübergreifenden Kooperation hinzuweisen, andererseits aber auch den Wissensstand der Psychotherapeuten bezüglich neurologischer, pharmakologischer oder chirurgischer Therapieansätze zu erweitern.

Wir verstehen diese Art der Kooperation, des Voneinander-Wissens, als eine Facette der in letzter Zeit so häufig beschworenen Inklusion. Wenn die hier angesprochenen Fachdisziplinen diese Patienten in die Gruppe derjenigen inkludieren, die von ihrem Wissen und Können profitieren können, wird dies dann nützlich sein, wenn sie ebenso deutlich machen, wo ihre Expertise endet und das Fachwissen anderer Disziplinen integriert werden muss. Je komplexer und vielschichtiger also das Krankheitsgeschehen ist, desto deutlichere Auswirkungen werden in der Arzt-/Patient-Beziehung oder der therapeutischen Beziehung erforderlich: Der Patient selbst kann zum maßgeblichen Mitgestalter seiner „Fallkonzeptualisierung“ werden, da er die Facetten seiner Erkrankung in den unterschiedlichen Erlebens- und Lebensbereichen am besten kennt.

Für die psychotherapeutischen Behandler ermöglicht es diese Form der Kontrasterhöhung zwischen kenntlich gemachter eigener Expertise und den eindeutigen Grenzen im unmittelbar benachbarten Gebiet auch, als Psychotherapeut in Teilbereichen dieses oftmals nicht klar zuordenbaren Störungsgeschehens sehr wirksam zu sein. Gleichzeitig zeigt es auch dem Betroffenen, wie komplex seine Gesundheitsstörung ist. Das muss ihn nicht entmutigen, kann aber verdeutlichen, wie notwendig es ist, dass er selbst zum Experten seiner Gesundheitsstörung wird. Dieses „den Patienten als Experten seiner Erkrankung sehen“ ist ein originäres verhaltenstherapeutisches Konzept und kann eine Befruchtung für andere Ansätze darstellen. Im besten Fall stärkt es auf jeden Fall den Patienten in seiner Rolle als Subjekt. Diese Haltung ist radikal anders als diejenige, die wir recht häufig gerade Anfallspatienten gegenüber finden: die angstmotivierte Abgrenzung: „ich überblicke nicht den Gesamtkontext, also halte ich mich lieber zurück.“

Als Herausgeber sind wir zufrieden, wenn Berührungsängste aufseiten der Psychotherapie nach Lektüre dieses Heftes abnehmen und interdisziplinär angelegte Betrachtungsweisen in den Vordergrund rücken.

Somit sind Epilepsie und dissoziativer Anfall keine „Fallsucht“, kein unkontrollierbares und weitgehend unerklärliches Geschehen mehr, das alle möglichen Spekulationen nährt, sondern ist einer differenzialdiagnostischen Betrachtungsweise und einem kombinierten Therapiekonzept zugänglich. Dass sich alle, die in der therapeutischen Versorgung um die Behandlung von Menschen mit Anfällen kümmern, zu einem solch kombinierten therapeutischen Vorgehen zusammenfinden, muss nach Lektüre der Beiträge in unseren Augen keine Zukunftsmusik mehr sein.

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