Zahnmedizin up2date 2011; 5(6): 533-534
DOI: 10.1055/s-0031-1280380
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Menschenversuche

H. Herff, C. A. Schmittinger, V. Wenzel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
16. Dezember 2011 (online)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

eine Zahnmedizinstudentin, nennen wir sie Frau Müller, geht ihrem 5-jährigen Studium zielstrebig nach und beginnt im Verlauf ihres klinischen Studienabschnitts eine Doktorarbeit. Sie interessiert sich für mehrere zahnmedizinische Disziplinen, möchte sich im Hinblick auf eine eventuelle Spezialisierung aber noch nicht festlegen. Wie wird sich die Karriere dieser Kollegin möglicherweise weiterentwickeln?

Szenario I

Nach dem bestandenen Examen absolviert sie ihre strukturierte 2-jährige Basisweiterbildung, die vor einigen Jahren anstelle der weitgehend unstrukturierten KZV-Vorbereitungszeit eingeführt wurde, bei einem Zahnarzt, der eher generalistisch – mit einer gewissen Vorliebe für Chirurgie – orientiert ist. Sie promoviert während dieser ersten Assistententätigkeit auch erfolgreich zur Doktorin der Zahnheilkunde und überlegt sich, wie es weitergehen soll. Eine Universitätslaufbahn möchte sie nicht einschlagen, sie favorisiert eine Praxistätigkeit. Die Inhalte der strukturierten Basisweiterbildung erscheinen ihr zwar genauso lehrreich wie das Faible ihres Chefs für Chirurgie, da sie eine Kompetenz erwerben konnte, die im Studium in dieser Intensität noch nicht vermittelt wurde. Aber spezialisieren möchte sie sich auf dem Gebiet der Chirurgie eher nicht. Nach und nach kristallisiert sich heraus, dass die Endodontologie ein für sie anstrebenswertes Fachgebiet sein könnte. Für diese Disziplin gibt es – wie für einige weitere Fachgebiete – eine kammerbezogene Weiterbildungsordnung. Frau Müller erkundigt sich bei der Zahnärztekammer nach einer Liste entsprechend weiterbildungsermächtigter Zahnärzte und liest die für sie infrage kommenden Stellenangebote. Bald findet sie eine entsprechende Anstellung und beginnt das endodontische Weiterbildungscurriculum. Dies beinhaltet unter anderem die endodontische Diagnostik und Planung sowie die Vorbereitung, Durchführung und Nachsorge endodontischer Interventionen unter enger Supervision des Kollegen, der zur Erlangung der Weiterbildungsermächtigung einen umfangreichen Qualifikationskatalog nachweisen musste. Parallel dazu besucht sie Weiterbildungsveranstaltungen, studiert Fachliteratur, fertigt die vorgeschriebenen Falldokumentationen an und erfüllt die übrigen Inhalte des Weiterbildungsprogramms einschließlich fachübergreifender Fragestellungen. Mit dieser hochwertigen theoretischen und praktischen Expertise ausgestattet begibt sie sich zur Weiterbildungsprüfung, die sie mit Bravour besteht. Während der gesamten Weiterbildungszeit bezieht sie ein volles Assistentengehalt. Inzwischen hat sich auch in der privaten Situation einiges verändert. Sie hat geheiratet und die jungen Eltern erwarten Nachwuchs. Beide wollen ihren Nachwuchs gemeinsam aufziehen. Frau Müller sucht deshalb eine Teilzeitbeschäftigung. Aufgrund ihrer erfolgreichen Weiterbildung kann sie sehr wählerisch sein und ihre Vorstellungen hinsichtlich Arbeitsumfang und -zeiten zu ihrer Zufriedenheit erfüllen. Die Praxis, in der sie nun arbeitet, muss sich zwar in ihrer Organisation und dem Patientenmanagement erheblich umstellen, um ihren Wünschen gerecht zu werden. Auch die Praxisausstattung (Instrumentarium usw.) muss entsprechend erweitert werden. Andererseits ist man dankbar, dass es gelungen ist, eine so hochqualifizierte Kollegin gewinnen zu können.

So etwa könnte sich eine Karriere nach dem Zahnmedizinstudium darstellen, wenn es eine entsprechende Weiterbildung geben würde. Derzeit verläuft das aber bekanntlich anders.

Szenario II

Frau Müller absolviert ihre 2-jährige unstrukturierte KZV-Vorbereitungszeit bei einem Zahnarzt, der in die fachliche Weiterqualifikation seiner Assistentin eher wenig involviert ist, ihr aber zahlreiche wertvolle organisatorische und abrechnungstechnische Hinweise geben kann.

Nach den 2 Jahren hat sie eine nachweisbare fachbezogene Zusatzexpertise noch nicht erworben. Sie hat aber in dieser Zeit ihre zahnmedizinische Promotion zum Abschluss gebracht. Sie erwägt nunmehr eine endodontische Weiterqualifikation, ist sich aber nicht schlüssig, wie dies vonstatten gehen könnte. Sie hat von einem postgradualen Masterstudium gehört, kann sich die sehr hohen Ausbildungskosten allerdings finanziell nicht leisten, da sie keine zahlungskräftigen Eltern oder Verwandten hat. Außerdem hat sie von einer Kollegin, die einen solchen Studiengang belegt, erfahren, dass dort eher die theoretische Wissensvermittlung im Vordergrund steht, intensives Arbeiten am Patienten unter engmaschiger Supervision von Spezialisten findet nur sehr begrenzt statt. Eine Tätigkeit an einer Universitätsklinik oder bei einem Spezialisten für Endodontologie, die ein Spezialisierungsprogramm gemäß den Richtlinien einer Fachgesellschaft anbieten, steht ihr aufgrund des in dieser Hinsicht sehr eingeschränkten Stellenangebots in absehbarer Zeit nicht offen. Außerdem weiß sie, dass Spezialistenprogramme von Fachgesellschaften seitens der Kammern nicht als Weiterbildung anerkannt werden. So entscheidet sie sich schließlich für eine Tätigkeit als Entlastungsassistentin bei einem Zahnarzt, der sich auf Implantologie und Prothetik konzentriert und jemanden sucht, der ihm Behandlungsmaßnahmen, die nicht in seinem Fokus stehen, abnimmt. Sie kann dort, wie schon während der KZV-Vorbereitungszeit, auch endodontische Eingriffe vornehmen. Die Fertigkeiten dazu eignet sie sich vorwiegend autodidaktisch nach dem Prinzip „Trial and Error“ an. Sie hat anfangs etliche Misserfolge und muss dadurch viel „Lehrgeld“ bezahlen, das für ihre Patienten nicht selten mit dem Verlust des einen oder anderen Zahnes endet. Inzwischen hat sie etliche Fachliteratur gelesen und ein endodontisches Fortbildungscurriculum besucht, dem sie gute Anregungen entnimmt. In der Umsetzung ist sie aber nach wie vor auf sich allein gestellt. Als sich Familiennachwuchs ankündigt, hat sie zwar eine gewisse Routine entwickelt, steht aber weitgehend ohne nachweisbare Weiterqualifikation da. Bei der Suche nach einer Teilzeittätigkeit kann sie kaum Ansprüche stellen und ist deshalb froh, dass sie ihr bisheriger Chef mit reduzierter Stundenzahl weiterarbeiten lässt.

Fazit

In beiden Szenarien hat die Kollegin nach einigen Jahren ihre Fachkompetenz erweitert. Szenario I ist allerdings in Deutschland noch nicht möglich, da Zahnärztekammern einen Ausbau der Weiterbildung bedauerlicherweise bislang vehement ablehnen. Etliche Standesvertreter sind der irrigen Auffassung, der Examensabschluss nach 5-jährigem Studium sei bereits einer Facharztweiterbildung gleichzustellen. Ein weiterer, häufig vorgebrachter Einwand ist die Behauptung, die Zahnmedizin sei für die Differenzierung in weitere Fachgebiete zu klein.

Verbleibt also leider derzeit fast nur Szenario II, das ein beträchtlicher Teil von Zahnärztinnen und Zahnärzten in der beschriebenen Form – naturgemäß mehr oder weniger abgewandelt – durchläuft. Glücklicherweise geht es bei vielen zahnmedizinischen Interventionen nicht um Leben und Tod. Man stelle sich vor, ein Herzchirurg würde seine Kompetenz analog Szenario 2 erlangen.

Herzlichst
Ihr

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Hans Jörg StaehleMitherausgeber der Zahnmedizin up2date

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