Der Klinikarzt 2011; 40(9): 379
DOI: 10.1055/s-0031-1291951
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Priorisierung versus Rationierung

Matthias Leschke
Further Information

Publication History

Publication Date:
26 September 2011 (online)

Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Großbritannien – überall in Europa kriecht eine böse Finanzkrise durch die Gesellschaft. Die Börse gibt sich übernervös. Schwindelerregende Summen werden für ”Rettungsschirme“ von der Politik hervorgezaubert. Vergeudetem Geld wird gutes Geld nachgeworfen und keiner weiß, ob das sinnvoll ist und die Abwärtsspirale stoppt. Konsequenz dieses globalen Desasters ist eine neue Sparwut. Die angeschlagenen europäischen Staaten setzen die Schere auch bei den Ausgaben ihrer Gesundheitsleistungen an. In Deutschland spricht man noch ungern darüber. Fragt man einen Politiker, egal welcher Parteizugehörigkeit, so werden Priorisierung und Rationierung auf medizinischem Terrain empört verneint. Im Gegenteil, man bürdet der GKV noch weitere Leistungen auf. Wie das langfristig finanziert werden soll, auch unter dem Gesichtspunkt des demografischen Wandels und des rasanten medizinischen Fortschritts, darauf geht niemand ein. Wir Ärzte haben immer wieder darauf hingewiesen, dass bei kontinuierlich zurückgefahrenen finanziellen Ressourcen der bisherige Leistungskatalog für die gesetzlich Versicherten nicht mehr beibehalten werden kann.

Rationierung ist ein hässliches Wort, besser lässt sich mit dem Terminus Priorisierung agieren. Bislang sind jedoch alle Überlegungen, welche Leistungen man priorisieren kann, soll und darf, reine Theorie. Debattieren kann man viel. Sollte es aber plötzlich ernst werden, dann sieht die Welt schnell anders aus.

Was heißt das nun konkret: Priorisierung medizinischer Leistungen? Spielregeln sind gefragt, nach denen der Leistungskatalog der GKV eingeschränkt werden kann. Nicht willkürlich, sondern unter harten Kriterien wie Patientenalter, medizinischem Fortschritt, Lebensqualität, Wartezeiten und Willen des Patienten. Eingebunden in diese Debatte sind diverse gegensätzlich denkende Parteien, Mediziner, Gesundheitsökonomen, Juristen, Ethiker und vielleicht auch noch Vertreter der Patienten. Wenn man sich die Interessen der beteiligten Gruppierungen ansieht, wird rasch klar, dass eine Einigung in Sachen Leistungseinschränkungen eine wahre Sisyphusarbeit sein muss. Man muss sich nur vor Augen halten, wie sich die Vorstellungen der Ökonomen und der Patienten überhaupt unter einen Hut bringen lassen – und dazwischen noch die Ärzte, die sich von ihrem Ethos her eher auf Patientenseite schlagen sollten. Das Dilemma bleibt: Ab welchem Alter ist eine Hüftendoprothese obsolet, unter welchen Voraussetzungen gibt es noch einen ICD oder gar interventionell implantierte Aortenklappen? Darf einem 95-Jährigen bei einer Venenthrombose eine stationäre, gar intensivmedizinische Betreuung vorenthalten werden? Wann darf ein Klinikarzt einem betagten Patienten, der nicht mehr kurabel ist, die letzten Tage oder Stunden mit seiner ärztlichen Kunst ertragbar gestalten, ihm beim würdigen Sterben beistehen – ohne mit seinem Management bzw. dem MDK aneinander zu geraten, weil dafür kein DRG vorgesehen ist? Jede Leistungseinschränkung wird strittig bleiben, wenn sozialpolitische und ethische Argumente Sparwillen un derder Ökonomen aufeinanderprallen. Wo aber das Geld fehlt, kann man nicht mehr alles tun, was man aus humanen Gründen tun müsste und tun will.

Gerade ist in Hamburg der 7. Gesundheitswirtschaftskongress zu Ende gegangen. Dort war viel die Rede vom mündigen Patienten, gar von der Souveränität desselben. Patienten werden immer stärker als Verbraucher gesehen, die vor allem Qualität fordern. Keine Frage: die Gesundheitswirtschaft ist für unsere Volkswirtschaft von zentraler Bedeutung. Die Unternehmen (und nicht nur die Pharmabranche und Medizingeräteproduzenten, sondern auch Kliniken und Klinikketten) fordern Wettbewerb. Der Staat bremst aus. Beispielsweise die MVZs oder die integrierte Versorgung. Die Verfechter eines freien Wettbewerbs im Gesundheitswesen erinnern gerne daran, wie zäh sich der Telekommunikationsmarkt einst liberalisieren ließ. Man fürchtete, dass die Kommunikationsversorgung in den Ballungsräumen bevorzugt würde und dass ländliche Bereiche leer ausgingen. Doch es kam ganz anders: Leistungen und Kosten entwickelten sich dank des verschärften Wettbewerbs verbraucherfreundlich.

Nun lassen sich Gesundheit und Telekommunikation nicht gleichsetzen. Der Kampf gegen Krankheit und für Gesundheit wird immer von ethischen Grundsätzen geprägt bleiben. Und wie ließe sich vermeiden, dass die eine Patientengruppe alles bekommt, was medizinisch machbar ist, und dass einer anderen, aus welchen Gründen auch immer, bestimmte Leistungen verweigert werden. Es ist schon klar: Wer Geld hat, kann sich jedwede Leistung einkaufen, wer es nicht hat, kommt nicht in den Genuss medizinischer Hightech. Entweder wird priorisiert oder der Staat investiert Steuergelder in die Gesundheit seiner Bürger und zwar aller Bürger, wie er, mit Verlaub sei es gesagt, auch insolventen Staaten mit dem Steuergeld seiner Bürger unter den Arm greift.

Zum Schluss der Anstoß, einmal darüber zu reflektieren, ob eine Gesellschaft nicht am meisten davon profitiert, wenn ihre Bürger gesund sind oder schnell wieder gesund werden.