Lege artis - Das Magazin zur ärztlichen Weiterbildung 2012; 2(4): 216-217
DOI: 10.1055/s-0032-1325305
Forschung
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Nachrichten aus der internationalen Fachliteratur

Sebastian Schulz-Stübner
,
Anna Hecker
,
Hans-Georg Bone
,
Holger Baust
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Publication History

Publication Date:
24 September 2012 (online)

Vergiftungen durch alkoholische Händedesinfektionsmittel

Gormley NJ et al. The rising incidence of intentional ingestion of ethanol-containing hand sanitizers. Crit Care Med 2012; 40: 290–294

Alkoholische Desinfektionsmittel sind eine mögliche Quelle für Vergiftungen und sogar Suizidversuche. Dies zeigt eine Studie von Intensivmedizinern um Nicole Gormley aus Bethesda, USA. Sie beschreiben den Fall eines 17-Jährigen, der mit einer Angsterkrankung und Depression bei einem komplizierten Verlauf einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung stationär behandelt wurde. Während des Aufenthalts verabreichte er sich 500 ml eines 61 %-igen alkoholischen Händedesinfektionsmittels über die liegende PEG-Sonde. Nachdem er aus dem resultierenden Koma aufgewacht war, verneinte er eine suizidale Absicht: Sein Ziel sei ein Rauschzustand gewesen.

Die Autoren der Studie nahmen diesen Fall zum Anlass, die Zahlen des amerikanischen Vergiftungsregisters (National Poison Data System) hinsichtlich der Inzidenz von Vergiftungen durch Händedesinfektionsmittel zu analysieren. Außerdem suchten sie in der Literatur nach vergleichbaren Fällen. Ihr Ergebnis:

  • Von 2005–2009 wurden im Vergiftungsregister insgesamt 68 712 Vergiftungen mit Händedesinfektionsmitteln registriert.

In 80 % der Fälle hatten Kinder < 6 Jahren das Mittel versehentlich zu sich genommen. Unbekannt ist, ob diese Vergiftungen im häuslichen Umfeld oder innerhalb einer medizinischen Einrichtung geschahen.

  • In der Gruppe der 6- bis 19-Jährigen war die Vergiftung bereits in 16 % der Fälle ein Suizidversuch.

  • In der Gruppe der über 20-Jährigen wurden 13 % der Vergiftungen als Suizidversuch bewertet.

Aus diesen Angaben berechneten die Autoren die Rate der absichtlichen Vergiftungen: Im Jahr 2005 betrug sie demnach 0,68/1 Mio. Einwohner (95 %-Konfidenzintervall: 0,17–1,2) und stieg bis 2009 jährlich um 0,32/1 Mio. Einwohner (95 %-Konfidenzintervall: 0,11–0,53, p = 0,02).

In den publizierten 14 Fallberichten aus stationären Einrichtungen fanden sich psychiatrische Grunderkrankungen und Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit als wesentliche Risikofaktoren. In 4 Fällen handelte es sich um einen eindeutigen Suizidversuch, einer endete letal. Die Autoren raten, bei unklaren Vergiftungen von Risikopersonen mit Zugang zu Händedesinfektionsmittel auch an diese Quelle zu denken. Sie empfehlen ein Monitoring bzw. eine Restriktion des freien Zugangs zu alkoholischen Händedesinfektionsmitteln z. B. in psychiatrischen Einrichtungen.

Fazit Der Missbrauch alkoholischer Händedesinfektionsmittel ist eine reale, wenn auch insgesamt seltene Gefahr. Zur Prophylaxe sollte man z. B. in pädiatrischen Einrichtungen Spender außerhalb der Reichweite von Kleinkindern anbringen und ältere Kinder in den richtigen Gebrauch des Mittels einweisen. In psychiatrischen Kliniken mit hohem Gefährdungspotenzial sind z. B. Kitteltaschenflaschen eine Alternative zu Wandspendern.

PD Dr. med. Sebastian Schulz-Stübner, Freiburg

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Abb. 1 Öffentlich zugängliche Spender mit Desinfektionsmitteln sind eine Quelle potenzieller Vergiftungen. Besondere Vorsicht ist geboten in pädiatrischen und psychiatrischen Einrichtungen.