PPH 2012; 18(05): 277
DOI: 10.1055/s-0032-1329123
PPH|Info
Rezension
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Marie Boden / Doris Feldt: Krisen bewältigen, Stabilität erhalten, Veränderung ermöglichen

Rezensent(en):
Martin Lenz
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. Oktober 2012 (online)

Ratschläge können auch Schläge sein. Davon können Menschen ein Lied singen, die sich durch Krisen quälen, die vielleicht unglaubliche Kraft aufwenden, um sich professionelle Hilfe in psychischen Notsituationen oder Krankheitsschüben zu holen oder die in der Familie oder im Freundeskreis endlich den Mut finden, sich als ausgebrannt zu outen. Besonders Menschen in einer depressiven Krise dürfen sich dann die absurdesten Ratschläge anhören, die von „schau Dir doch mal einen lustigen Film an“ bis zu esoterischen „Lebensweisheiten“ reichen. Ganz besonders schwer aber haben es Menschen, die von anderen nicht verstanden werden, weil sie an einer Psychose erkrankt sind und deshalb auf noch weniger Verständnis in ihrem Umfeld treffen.

Gerade für diese Menschen haben Mitarbeiterinnen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bielefeld/Bethel ein Gruppenangebot entwickelt, das überhaupt nichts mit guten Ratschlägen zu tun hat, sondern mit einem sehr einfühlsamen aber klaren Angebot, individuelle Krisenbewältigungsmöglichkeiten zu finden, psychische Stabilität zu erlangen und das Leben wieder zu bewältigen. Marie Boden (Dipl. Designerin, Erzieherin, als Primary Nurse arbeitend) und Doris Feld (Sozial- und Milieupädagogin und Dipl. Sozialpädagogin) haben vor 11 Jahren eine entsprechende Gruppe für stationäre und ambulante Patienten und Patientinnen aufgebaut und schon vor 4 Jahren ein Handbuch veröffentlicht, in dem sie das gemeinsam mit den Betroffenen entwickelte Konzept darstellen, nachvollziehbar machen und für andere eine Arbeitshilfe bieten, die ihresgleichen sucht.

Inzwischen haben beide Kolleginnen auch die Ausbildung zur DBT-Therapeutin für Sozial- und Pflegeberufe abgeschlossen und können auf eine fundierte Arbeit mit den Themen Stabilisierung, Achtsamkeit, Genießen, Krisen, Stresstoleranz, Radikale Akzeptanz und Goldener Mittelweg im Rahmen der Dialektisch-Behavioralen Therapie nach Marsha Linehan auch außerhalb der speziellen Therapie für Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen zurückschauen.

Da immer neue Erfahrungen hinzukommen und weil inzwischen auch ehemalige Teilnehmerinnen diese Gruppe moderieren, liegt nun eine stark erweiterte Neuauflage dieser Psychosozialen Arbeithilfen vor, die nach wie vor die Sehnsucht und Fähigkeit der Autorinnen zeigt, Menschen in seelischer Not immer ehrlich, respektvoll, ressourcenorientiert, sinnlich und mit einer guten Portion Lebensfreude zu begegnen.

Heute wird jede Therapeutenminute kostbarer und Praktiker sind darauf angewiesen, auf qualitativ gute Materialsammlungen und Arbeitsunterlagen zurück zu greifen. Das hier angebotene Material lässt manualisiertes Arbeiten zu, ist aber von Grund auf immer flexibel hinsichtlich der gerade anliegenden Bedürfnisse in einer Gruppe. Es werden Strategien und Fertigkeiten zum besseren Umgang mit Krisen und persönlichen Schwierigkeiten angeboten, die den Wunsch nach Veränderung voraussetzen. Erkennen – Akzeptieren – Verändern, das ist der Dreiklang, der jeder Gruppenstunde zu Grunde liegt. Dies aber nicht im nüchtern verhaltenstherapeutischen Sinne, sondern sinnlich, erlebnisreich, von gegenseitigem Respekt getragen und möglichst mit einem hohen Maß an gelebter Freude.

Das schöne an dem Handbuch ist, dass es eben keine Gebrauchsanleitung ist und doch einen hohen Gebrauswert hat, auch für Menschen, die sich selbst etwas Gutes tun wollen. Und sei es, in der über 80- seitigen „Schatzkiste“ nach Achtsamkeitsübungen, Gedichten, Imaginationsübungen, Meditationen, Texten, Zitaten, Atem- und Körperübungen zu suchen.

Zu den inhaltlich erweiterten Themen gehört „Stabilisierung“. Sich immer wieder in Balance zu bringen, wenn in Krisenzeiten mit Schicksalsschlägen und existenziellen Verunsicherungen zur Bewältigung des Alltags auch neue Strategien und Fertigkeiten erlernt werden müssen, ist das Ziel mehrerer Arbeitsblätter. So ist z. B. ein Arbeitsblatt mit „Balance & Gegengewichte schaffen“ überschrieben. Es geht davon aus, dass eigene Stabilität eine gute Balance erfordert und um in ihr zu bleiben, es gute Gegengewichte braucht, damit sich die „innere Waage“ gut auspendeln kann. In diesem Fall wird eingeladen, sich Gedanken zu machen, welche Gegengewichte es zu folgenden Phänomenen gibt: Anspannung (als Beispiel vorgeschlagen wird Entspannung), Leere/„Hunger“ (als Beispiel wird vorgeschlagen Auffüllen, Sättigen) Streit, Ärger, Schuld, Dunkelheit, Hektik, Hilflosigkeit, Überforderung, Härte, Verletzung, Wut, Arbeit, Lärm, Pannen, Alkohol, Einsamkeit, Schmerz, Mutlosigkeit und Genervtheit.

Solche Arbeitsblätter zur individuellen Reflexion und zur Anregung des Austausches in der Gruppe sind ein wichtiger Bestandteil des Handbuches. Es gibt auch immer wieder Arbeitsblätter, die das Spannungsfeld von Gefühlen beleuchten. So stehen sich z. B. die als Sonnen symbolisierten Felder „sich Trauer erlauben“ und „Trauer Loslassen“ im Themenschwerpunkt „Krise“ gegenüber und laden ein, Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Assoziationen zum Thema Trauer wahrzunehmen und zu benennen. Als nächster Schritt käme dann, sich der traurigen Momente im Leben zu erinnern, die die Teilnehmer gut bewältigt haben, um Ansatzpunkte für den Ausweg aus der gegenwärtigen Krise zu finden.

Wer ein Freund von Aphorismen kleinen Geschichten und Sprüchen ist, wird bei diesem Buch immer wieder versucht sein, etwas für den Alltag – auch für den beruflichen Alltag – zu finden. Ich stolpere heute über das Zitat „Lieber auf neuen Wegen stolpern, als auf alten Bahnen auf der Stelle treten“. (S. 390)

Das ist doch auch eine Einladung, die eigene professionelle Arbeit mit Menschen in Krisen zu bereichern. Und wer zusätzlich zu dem Handbuch auch gedrucktes Material für die Arbeit in Gruppen braucht, kann sich das aus dem Internet downloaden. Das Handbuch ist insofern medial modern, von der Haltung her entschleunigend, weil auf Wachstum vertrauend und inhaltlich sehr professionell.

Martin Lenz

Dipl.-Musiktherapeut, Bielefeld