Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2013; 45(1): 32-33
DOI: 10.1055/s-0033-1334348
Praxis
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

„Ernährung sollte passen wie ein guter Anzug“

Ernährung bei Krebs
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Publication Date:
25 March 2013 (online)

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Unsere Gesprächspartnerin:
Dr. med. Susanne Bihlmaier

Ärztin für Naturheilverfahren; Studium der Humanmedizin in Heidelberg; Seirin-Stiftungspreis für Nachwuchswissenschaftler für die Dissertation „Indikationen und Studiendesign der Akupunktur in der Frauenheilkunde“; Assistenzärztin in den Kreiskrankenhäusern Reutlingen und Balingen; seit 2000 privatärztliche Praxis in Tübingen; Schwerpunktgebiete: Traditionell Chinesische Medizin, Biologische Tumortherapie und Stress-Coaching; Buchveröffentlichungen: „Die Akupunktur“ (KVM Verlag) und aktuell „Tomatenrot + Drachengrün: Das Beste aus Ost und West“ (Hädecke Verlag).

DZO: Liebe Frau Dr. Bihlmaier, in den letzten Jahren haben Sie sich gesundheits-aktive Ernährungsempfehlungen der europäischen und chinesischen Medizinkulturen näher angeschaut, mithilfe von eigenen Kochrezepten in die Praxis umgesetzt und jetzt ein Koch- und Gesundheitsbuch darüber geschrieben: „Tomatenrot + Drachengrün. Das Beste aus Ost und West“. Wie kamen Sie dazu?

Dr. Bihlmaier::
Leckeres Essen ist entscheidend für den Therapieerfolg – das zeigten mir meine allerersten Patienten während meiner Ausbildung zur Kinderkrankenschwester: was den Kleinen nicht schmeckte, das landete im großen Schwall auf dem Boden! Jetzt als Ärztin lieferten mir Frauen mit Brustkrebs einen weiteren wichtigen Hinweis. Viele lassen sich anfänglich begeistern für Ernährungstipps. Dann jedoch folgt ein „Ja, ABER – was koche ich meinem Mann mit seinem Bluthochdruck, der Oma mit ihrem Typ-2-Diabetes und ihrem Rheuma?“ Mir wurde schnell klar: Ernährungsberatung funktioniert nur ganzheitlich, d. h. es muss schmecken und passen, zum erkrankten Menschen genauso wie zu den Angehörigen.

DZO: Stichwort asiatische Erfahrungsheilkunde: Wie kann ein von Krebs betroffener Mensch vom Ernährungswissen chinesischer Medizin profitieren?

Dr. Bihlmaier::
Ganz einfach: Die „innere Temperaturwirkung“ eines Nahrungsmittels verrät, ob uns ein Nahrungsmittel wärmt oder kühlt oder im neutralen Bereich liegt. Als Richtschnur gilt: je höher der Wassergehalt eines Nahrungsmittels (nicht der Speise!), desto kühlender. Deswegen empfehle ich einer frösteligen Krebspatientin mit Erschöpfungssyndrom eher einen gegarten Hirsebrei mit wärmenden Adventsgewürzen statt eines Rohkostsalates. Und eine Frau mit künstlichen Hitzewallungen während einer Anti-Hormontherapie kann sich innerlich kühlen mit mehr Obst und Salat statt frittierten Pommes oder Salami-Vesperbrot.

DZO: Die innere Temperaturwirkung nach TCM erscheint nachvollziehbar, wie aber ist es mit den „5 Elementen“?

Dr. Bihlmaier::
Hier ist es leichter zu verstehen, wenn man stattdessen die Bezeichnung „Symbol“ verwendet. So ist z. B. das Element Erde ein Symbol für alles, was uns bekömmlich ist und gut nährt – wie Mutter Erde. Dazu gehören einige Getreidesorten, nährende Gemüse wie Kartoffeln oder Möhren, aber auch Ei und Milch. Möchte ich einen ausgezehrten Menschen aufpäppeln, empfehle ich solche nährenden Nahrungsmittel wie (vollwertige!) Kohlenhydrate, Ei und (gesäuerte) Qualitätsmilchprodukte. Wenn hingegen ein bereits molliger Mensch viel ausgemahlenes Mehl zu sich nimmt, also einfache Kohlenhydrate wie in Kuchen, Weißmehlbrötchen, weißem Reis oder hellen Nudeln, so kann das bekanntlich negative Auswirkungen haben wie Übergewicht, aber auch Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes und sogar Krebs. Bei diesem Beispiel sehen Sie auch, wie differenziert die TCM die Nahrung sieht.

DZO: Das heißt, Sie halten auch nichts von Nahrungsmittelverboten?

Dr. Bihlmaier::
Da habe ich viel gelernt von der TCM. Sie kennt nur Empfehlungen für ein „mehr“ von individuell hilfreichen Speisen und ein „weniger“ von individuell gesundheitsbeeinträchtigenden Speisen.

DZO: Können Sie mir Nahrungsmittel nennen, die allzu häufig weggelassen werden?

Dr. Bihlmaier::
Aktuell häufig weggelassen werden komplexe Vollwertkohlenhydrate wegen der kohlenhydratfeindlichen „Ketogenen Diät“. Viele Menschen wissen dabei nicht, dass sie damit „das Kind mit dem Bade ausschütten“, denn: mit den krankheitsfördernden „bösen“ Kohlenhydraten sind die sogenannten einfachen Kohlenhydrate gemeint, also Weißmehl und Weißzucker wie in Burgerbrötchen, hellen Nudeln, weißem Reis. In den Vollwertkohlenhydraten hingegen stecken die krebsschützenden Ballaststoffe und sekundären Pflanzeninhaltsstoffe, und zwar nur dort. Außerdem sättigen Vollwertkohlenhydrate z. B. aus Vollkornnudeln und machen glücklich – das merken die meisten dann irgendwann, wenn sie versuchen, alle Kohlenhydrate zu verbannen.

DZO: Wie sieht Ihre individuelle Ernährungsberatung konkret aus?

Dr. Bihlmaier::
Ernährungstipps, so sagen die Chinesen, sollten passen wie ein guter Anzug. Das schafft man nicht in einem 5-Minuten-Gespräch oder mit einer unpersönlichen Nahrungsmittelliste. Zudem hat – wenn wir ganz ehrlich sind – kaum ein Mensch Lust auf „Diät“, schon gar nicht, wenn die heißgeliebte Brezel verteufelt oder die „Rohkostkeule“ geschwungen wird. Darum gebe ich zu maßgeschneiderten, wissenschaftlich belegten Tipps gleich auch kulinarisch überzeugende „fix & einfach“-Kochrezepte mit. Und als Drittes versuche ich, mit meiner eigenen Kochbegeisterung die Lust auf gesunden Genuss zu wecken.

DZO: Und worauf sollte bei Krebskranken besonders geachtet werden?

Dr. Bihlmaier (lacht)::
Die Erde ist eine Scheibe, und genauso verhält es sich mit Ernährungstipps bei Krebs. Es existieren viele gutgemeinte Tipps basierend auf Einzelergebnissen in Forschungslabors. Und es gibt den individuellen Menschen, mit wunder oder intakter Schleimhaut, mit gutem Appetit oder welche, die sich zum Essen zwingen müssen. Es gibt „Saumägen“ und es gibt empfindsame Mägen usw. Sie sehen, diese Frage ist nur mit einem intensiven Anamnesegespräch zu beantworten, dann erst kann situationsgerecht, stoffwechselgerecht und auf den einzelnen Menschen maßgeschneidert beraten werden.

Ganz praktisch empfehle ich nachweislich antikrebs-aktive Inhaltsstoffe wie z. B. Polyphenole, Carotinoide und Lignane. In wirksamer Menge warten diese heilkräftigen Substanzen z. B. in dunkler Schokolade [Abb. 1], grünem Tee, Brokkoli mit gegarten Tomatenzubereitungen oder mit Leinsamen, dazu noch Ingwer und Kurkuma als kleine Auswahl.

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Abb. 1: Die Autorin zusammen mit ihrem Chocolatier beim Herstellen von Pralinen aus dunkler Schokolade. Foto: Bihlmaier aus „Tomatenrot + Drachengrün“, Hädecke Verlag

DZO: Was raten Sie dem niedergelassenen Arzt? Wie kann man in der Praxis dieses Wissen am besten vermitteln und den Patienten zu gesunder Ernährung motivieren?

Dr. Bihlmaier::
Mit authentischer Begeisterung! Ernährung hat viel mit Gewohnheit zu tun und ist ein sensibles Terrain, ja biologisch betrachtet ist es sogar eines unserer Überlebenstriebe. Hier nehmen Menschen Empfehlungen viel leichter an, wenn sie von Herzen kommen und vorgelebt werden, wenn sie verständlich und vor allem alltagstauglich sind.

DZO: Sie werden bestimmt häufig hören, dass in unserer hektischen Zeit gesundheits-aktives Kochen fast kaum mehr möglich ist. Was entgegnen Sie diesen Kochmuffeln?

Dr. Bihlmaier::
Mit fixen, schnell & einfach-Kochrezepten, die auch noch ganz leicht zu kombinieren sind, geht das so schnell wie Tiefkühl-Fertiggerichte. So ergeben die Röschen eines Brokkoli einen warmen Salat, der Strunk eine fixe Suppe. Fast alle sind von mir selbst „praxiserprobt“ und haben den „Härtetest“ meiner Patienten bestanden. Und eines möchte ich nicht missen: den Genuss für alle Sinne, z. B. wenn Gewürze duften beim Anbraten. Das ist ein Stück Lebensqualität!

Testen Sie selbst: die Granatapfel-Himbeer-Tofu-Creme ist frei von tierischer, entzündungsfördernder Arachidonsäure, frei von Nahrungs-Cholesterin, dafür aber voller gesundheitsaktiver sekundärer Pflanzenstoffe, pflanzlichem Eiweiß und Omega-3-Fettsäuren – und: sie schmeckt köstlich! [Abb. 2]

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Abb. 2: Granatapfel-Himbeer-Tofu-Creme. Foto: © Johanna Gollek, Stuttgart aus „Tomatenrot + Drachengrün“, Hädecke Verlag

DZO: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wie ernähren Sie sich selbst? Und was ist Ihr persönliches Lieblingsrezept, bei dem einem das Wasser im Munde zusammenläuft?

Dr. Bihlmaier::
Ich bin eine „Vollwertbiogenusstante“. Mein Favorit momentan ist ein rundum gesunder Genuss, nämlich eine Knusperpraline, genannt „Drachensplitter“. Die haben Chocolatier Schell, ein Interviewpartner aus meinem Buch, und ich zusammen entworfen. Daher „protzt“ sie auch mit gesundheitsaktiven Zutaten wie Polyphenolen aus dunklem Edelkakao, knochenstärkendem Sesam, carotinoidreichen Gojibeeren, antikrebsaktivem und antientzündlichem Ingwer, wechseljahrsgesunden Mandeln und noch ein paar Köstlichkeiten. Das ist Genuss ohne Reue und tut auch noch Gutes: vom Erlös wird eine Kinderkrebsklinik unterstützt. Und das garantiert – so gut, wie sie mir selbst schon schmeckt…