Allgemeine Homöopathische Zeitung 2013; 258(3): 18-21
DOI: 10.1055/s-0033-1334357
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© Karl F. Haug Verlag MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Die historische Entwicklung des Hahnemann’schen Hochpotenzkonzepts

Ein Interview mit Silvia Waisse
Silvia Waisse
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Publication Date:
16 May 2013 (online)

AHZ: Sehr geehrte Frau Dr. Waisse, kürzlich haben Sie die Ergebnisse Ihrer medizinhistorischen Forschungen über die Frage veröffentlicht, wie Samuel Hahnemann sein Konzept der Hochpotenzen entwickelt hat. Wie wurde Ihr Interesse an dieser Frage geweckt?

Dr. Waisse Zuerst einmal möchte ich der AHZ vielmals für ihr Interesse an meiner Arbeit danken!

Ich bin Ärztin der Homöopathie und seit der Teilnahme an meinem ersten Homöopathiekurs war ich unzufrieden, wie Homöopathen die Geschichte der Homöopathie erzählten. Daher machte ich meinen Master und anschließend einen Ph.D. Nach meiner Promotion beschäftigte ich mich dann mit Wissenschaftsgeschichte, wobei ich mich im Rahmen von verschiedenen Projekten der Geschichte der Homöopathie und Medizin im 18. und 19. Jahrhundert widmete. In diesen Jahren beschäftigte ich mich mit verschiedenen historischen Themen. Meine Master-Arbeit handelte von Hahnemanns Chinarindenversuch. Ich konnte zeigen, dass sich Hahnemann völlig innerhalb der zeitgenössischen Wissenschaft bewegte (das Buch wurde nur auf Portugiesisch veröffentlicht: Hahnemann: Um médico de seu tempo; „Ein Arzt seiner Zeit“).

Im Rahmen meines Ph.D. befasste ich mich mit dem Aufstieg und Niedergang des Vitalismus (The Science of Matter and the Autonomy of Life: Vitalism, Antivitalism and Neovitalism in the German Long Nineteenth Century. Saarbrücken: Lambert Academic Publishing, 2009; „Die Wissenschaft der Materie und die Autonomie des Lebens: Vitalismus, Antivitalismus und Neovitalismus im 19. Jahrhundert in Deutschland“).

Nach meiner Promotion widmete ich mich dann der Frage, wie die Ärzte in der Vergangenheit Anzeichen und Symptome von Patienten interpretierten und, ausgehend von diesen Daten, Behandlungen wählten (From Signs to Medicines; „Von Zeichen zu Medikamenten“, in Vorbereitung).

Zu diesem Zeitpunkt nahte der 200. Jahrestag des Organon der Heilkunst. Während meiner Forschungsreisen hatte ich genug Material gesammelt und darüber hinaus spezialisiert sich meine Universitätsabteilung unter der Leitung der Professoren Ana M. Alfonso-Goldfarb und Márcia H. M. Ferraz, international anerkannte Chemiehistoriker, auf die Geschichte der Theorien der Materie. Dieses und Anregungen durch meinen Kollegen Dr. med. Dr. phil. Gheorghe Jurj aus Rumänien, der damit begonnen hatte, sich mit diesem Thema zu befassen, führte zu diesem Projekt und diesem Artikel.

Wie haben Sie Ihren Forschungsgegenstand untersucht?

Die kurze Antwort lautet: aus der Perspektive der Theorie der Materie. Bei den von mir verwendeten Quellen handelte es sich um alle 6 Ausgaben des Organon, die Lesser Writings von Hahnemann (Ausgaben von Dudgeon und Kaiser & Schmidt) sowie die Krankenjournale (herausgegeben vom Institut für Geschichte der Medizin).

Ich habe diese Quellen analysiert und nach allen Hinweisen gesucht, in denen Hahnemann seine Ansicht über die Zusammensetzung sowie das Verhalten von Materie erläutert. Manchmal brachte er seine Ansicht an einer Stelle zum Ausdruck, die wie eine „Fußnote“ aussah, oder in den Vorworten, die meistens niemand liest! Ich verglich Hahnemanns Vorstellungen systematisch mit den Vorstellungen der Ärzte und Chemiker seiner Zeit, mit denen ich aufgrund früherer Studien sehr vertraut war. Hierdurch konnte ich die Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen den Vorstellungen Hahnemanns und den in seiner Zeit vorherrschenden Konzepten darstellen.

Dies ist der in der Geschichte der Wissenschaft, Medizin und Technologie derzeit übliche methodische Ansatz. Jede wissenschaftliche Richtung, Arbeit, Theorie oder Praxis ist stets auch das Ergebnis früherer Vorstellungen, die auf die eine oder andere Weise als eine Funktion bestimmter wissenschaftlich-historischer Kontexte neu konfiguriert werden. Auch im Fall von Hahnemann, der von sich sagte, er sei „der Erste, der …“, sind andere Ärzte zu finden, die 50 Jahre vor ihm genau das taten, von dem Hahnemann behauptete, er sei „der Erste“ gewesen. Und es ließ sich auch beweisen, dass Hahnemann Kenntnis von ihrer Arbeit hatte. Aber dadurch werden die Verdienste Hahnemanns nicht geschmälert. Und es ist auch nicht ungewöhnlich, da ein Großteil der damaligen Wissenschaftler und Ärzte sich selbst als absolute „Pioniere“ auf ihren Gebieten bezeichneten.

Daher ist es in der wissenschaftlichen Forschung von entscheidender Bedeutung, über solche selbst aufgestellten Prioritäten hinwegzugehen und wissenschaftliche Vorstellungen, Gegenstände und Methoden zu finden, um den besonderen Weg zu verstehen, wie Hahnemann bereits vorhandene Gedanken und Methoden neu konfigurierte, um das Konzept Homöopathie zu formulieren.

Welches waren Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Zunächst einmal, dass Hahnemann während seiner ganzen Laufbahn „ein Arzt seiner Zeit“ war. Er dachte die Gedanken seiner Zeit, er sprach die wissenschaftliche Sprache seiner Zeit. Und dies ist ein Problem: Ein Großteil der medizinischen und technischen Begriffe ist seit den Griechen fast gleich geblieben. Aber die Bedeutung dieser Begriffe hat sich stark verändert. Daher kann ein moderner Leser die Arbeiten Hippokrates ohne Probleme lesen und diese auch verstehen. Sie sind jedoch ein „Anachronismus“, wie Historiker sagen, d. h., sie liegen außerhalb der entsprechenden Zeit- und Raumkoordinaten.

Lassen Sie uns über den Fall der „Lebenskraft“ sprechen. Die Lebenskraft war ein bestimmter technischer Gedanke, der im 18. Jahrhundert nur innerhalb eines engen Newton’schen Rahmens entwickelt wurde. Kurz nach Newton entwickelten sich im 18. Jahrhundert 2 parallele Forschungskonzeptionen (und wurden große Mode): Eines gründete sich auf Newtons Principia Mathematica und versuchte, die Phänomene als Folge von Kollisionen von Atomen zu erklären, die sich im Äther bewegten. Dieser Ansatz wurde „Mechanik“ genannt. Das zweite gründete sich auf Newtons Query 23 („Frage 23“) in Optics und erklärte alles im Sinne von Kräften, durch die sich Atome gegenseitig anziehen oder abstoßen („zentrale Kernkräfte“). Dieser Ansatz wurde als „dynamisch“ bezeichnet und dies ist, was Hahnemann meint, wenn er den Begriff „Dynamik“ und die Ableitungen davon verwendet! Diese Newton’schen zentralen Kernkräfte vervielfachten sich exponentiell während des 18. Jahrhunderts: Affinität, Kohäsion … und eine Kraft, die nur lebender Materie innewohnt: die Lebenskraft! Dies ist die Vorstellung, die Hahnemann von der Lebenskraft hatte, wie aus dem Organon für jeden klar hervorgeht, der sich mit den Vorstellungen über Materie des 18. Jahrhunderts auskennt. Für diejenigen, die sich nicht auskennen, ergibt dieser Text trotzdem einen Sinn, wenn auch einen ungenauen und anachronistischen.

Dieses Beispiel ist besonders wichtig, da die Theorie der Lebenskraft 1848 widerlegt wurde, als das Gesetz von der Erhaltung der Kraft (mittlerweile Gesetz von der Erhaltung der Energie oder erster Hauptsatz der Thermodynamik) formuliert wurde. Daher muss ein Homöopath, der heute über die „Lebenskraft“ spricht, erklären, worüber er spricht, und zwar in wissenschaftlichen Begriffen, da Hahnemanns Vorstellung widerlegt wurde. Und jeder, der diese Vorstellung zurückbringen möchte, muss zuerst den ersten Hauptsatz der Thermodynamik widerlegen! (Ich möchte nochmals daran erinnern, Energie wird weder geschaffen noch zerstört, sie ändert nur den Zustand.)

Eine wichtige Lehre der Geschichte besteht darin, dass Hahnemann berechtigt war, sein ganzes System der Medizin auf der Vorstellung der Lebenskraft zu gründen, so wie er es auch tat. Und zwar weil in seiner Zeit genau so die Aktivität lebender Materie erklärte wurde. Hahnemann wurde nicht dafür kritisiert, ein Vitalist zu sein, wie viele Homöopathen glauben: Justus von Liebig (Gießen, 1802–1873), der Begründer der organischen Chemie, war genauso ein Vitalist wie Hahnemann und fand Homöopathie absurd. Johannes Müller (Berlin, 1802–1858), der sehr berühmte „Reformer der Physiologie“, war ein „unverbesserlicher Vitalist“, wie es Emil du Bois-Reymond (1818–1896), sein Schüler und Nachfolger, ausdrückte. Diese beiden Beispiele reichen aus, um zu zeigen, dass die Welt von Hahnemann eine vitalistische Welt war. Und Hahnemann bewegte sich mit Leichtigkeit in ihr.

Derselbe du Bois-Reymond erklärte viel später, als er Ständiger Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften war, worin das Problem mit dieser Sichtweise lag: Materie und Kraft wurden als 2 verschiedene und unabhängige „Dinge“ angesehen, wobei Kräfte an Materie gebunden und von dieser losgebunden werden konnten, „wie ein Pferd an einen Wagen“. Jeder, der auch nur ein bisschen mit der aktuellen Vorstellung vertraut ist, die aussagt, dass Materie und Energie (früher „Kraft“) das gleiche „Ding“ sind, wird sofort erkennen, dass es unmöglich ist, Hahnemann in diesem Punkt zu folgen.

Hier geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Wie jeder weiß, wird die Interkonvertierbarkeit von Materie und Energie durch Einsteins Gleichung dargestellt: E = mc2. Dies ist genau die Gleichung, die moderne Verfechter der veralteten Vorstellung der Lebenskraft anführen, um zu erklären, dass „durch das homöopathisch-pharmazeutische Verfahren Materie in Energie umgewandelt wird“! Das heißt, sie kombinieren 2 unvereinbare Paradigmen miteinander!

Auch hier war Hahnemann berechtigt, dies zu glauben. Jedoch nicht der moderne Homöopath. Der moderne Homöopath ist sich außerdem dessen bewusst, dass man einen Kernreaktor benötigt, um „Materie in Energie umzuwandeln“.

Ich hoffe ehrlich gesagt, mit dieser Studie dazu beizutragen, dass Homöopathen wieder über die Werkzeuge nachdenken, die sie zum Heilen verwenden. Und dass sie ebenfalls wieder darüber nachdenken, was sie sagen. Denn, wie jeder weiß, wird die Homöopathie ständig angegriffen und muss sich verteidigen. Und es ist traurig, anzusehen, dass Homöopathen ihren Angreifern auch noch die Waffen dazu liefern …

Wie wurden Hahnemanns Konzepte durch andere Denker und Philosophen beeinflusst?

Hahnemann wurde stark durch die wichtigen Professoren der Medizin des 18. Jahrhunderts beeinflusst, d. h. von Hermann Boerhaave (Leiden, 1668–1738), „Der Lehrer von ganz Europa“, Albrecht von Haller (Göttingen, 1708–1777), „Der Große“. Außerdem von Johann F. Blumenbach (Göttingen, 1752–1840): Heute weiß fast keiner mehr, wer er war, aber zu den Zeiten Hahnemanns war er der gefragteste Professor der Physiologie und inspirierte Kants Kritik der Urteilskraft. Alle 3 waren Newtonianer. Und Hahnemanns Vorstellungen von Materie waren definitiv von Newton beeinflusst.

Außerdem leitet sich die Vorstellung Hahnemanns von der Lebenskraft auch von dieser Tradition her. In dem angeführten Artikel zeige ich, wie Hahnemann exakt der Vorstellung Boerhaaves über die Kraft folgt, die das Leben bestimmt. Hahnemann erwähnt Haller und Blumenbach namentlich als die grundlegenden Referenzen in der Physiologie (die zu dieser Zeit „die Wissenschaft der lebenden Materie“ war). Haller ebnete den Weg für den Begriff Lebenskraft und prägte ihn, wohingegen Blumenbach die grundlegende Vorstellung der Lebenskraft formulierte. Dies ist eine sehr lange Geschichte und ich erzähle sie in The Science of Matter („Die Wissenschaft der Materie“).

Ich erwarte einige Einwände von den Lesern im Hinblick auf die Rolle des „Lebensprinzips“ von Paul-Joseph Barthez (1734–1806) in Hahnemanns Konstruktion der Lebenskraft. Einerseits erwähnte Hahnemann nie die Arbeit oder das Modell von Barthez und andererseits zeigt eine genaue Untersuchung der Arbeit von Barthez, dass die Schule Montpelliers keinen Einfluss auf Hahnemanns Vorstellungen hatte (siehe meinen Artikel mit A. Alfonso-Goldfarb et al. Roots of French Vitalism; „Wurzeln des französischen Vitalismus“: http://www.scielo.br/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S0104–59702011 000300002&lng=en&nrm=iso&tlng=en). Letztlich war auch Barthez ein Newtonianer.

Ebenso wurde das Buch eines anderen Newtonianers, Friedrich K. Medicus (1736–1808), das erste, das je das Wort Lebenskraft im Titel trug (Von der Lebenskraft, 1774), von allen deutsch sprechenden Autoren ignoriert; es wird nur von Barthez erwähnt.

Die epistemologischen Ansichten Hahnemanns sind stark von Paul-Henri Thiery, Baron d’Holbach (1723–1789, siehe meinen Artikel mit G. Jurj: Hahnemann in Sibiu: http://www.feg.unesp.br/~ojs/index.php/ijhdr/article/view/53/344) und später von Immanuel Kant (1724–1804) beeinflusst, ebenfalls ein Newtonianer und privilegierter Gesprächspartner von Blumenbach, was die Autonomie des Lebens anbelangt.

Durch Holbach kam es bei Hahnemann zu einer naturalistischen und ziemlich materialistischen Wendung, die für viele überraschend sein mag. Von Kant übernahm er zweifellos die Vorstellung, dass es unmöglich ist, das Ding-an-Sich zu kennen, den ontologischen Status der Dinge in der Welt sowie das eigentliche Herangehen an Wissen. Gegenwärtig untersuche ich mit einem Studenten den Einfluss der deutschen Aufklärung auf die anthropologischen Vorstellungen Hahnemanns.

Wie waren Hahnemanns letzte Ansichten über Materie?

Voll und ganz von Newton beeinflusst. Hahnemann gibt solch eine lebendige Beschreibung, wie man (mit wenigen Worten) durch Zerkleinern, Verdünnen und Schütteln von Materie die Kräfte freisetzt, die in ihr „schlafen“, dass es keinen Raum für Zweifel gibt. Unter Verwendung der vorstehenden Analogie von du Bois-Reymond war Hahnemann der Meinung, er hätte herausgefunden, wie man „das Pferd vom Wagen losbindet“.

Hat Ihre Forschung Auswirkungen auf heute lebende Homöopathen?

Ich habe zuvor schon etwas dazu gesagt. Unglücklicherweise besteht eine der Aufgaben moderner Homöopathen darin, die von ihnen verwendeten Heilmittel zu erklären: Den Patienten, Kollegen, Medien und sogar Parlamenten und Regierungen! Daher glaube ich, dass es überaus wichtig ist, deutliche Vorstellungen von diesen Angelegenheiten zu haben. Auch in der klinischen Praxis geschieht es, in Brasilien und vermutlich auch anderswo auf der Welt, dass jedes Mal, wenn die Homöopathie in einen „Skandal“ verwickelt ist, sich unsere Patienten in dem Dilemma befinden, mit dem Druck von Freunden, Verwandten und Kollegen umgehen zu müssen, die ihnen sagen, sie seien verrückt, sich von Quacksalbern (den Homöopathen) sowie mit Mitteln behandeln zu lassen, die aus nichts hergestellt werden und nichts bewirken. Unsere Patienten zu beruhigen, ist Teil unserer medizinischen Aufgabe. Und um sie beruhigen zu können, müssen wir Vorstellungen haben, die so klar wie möglich sind.

Ein großes epistemologisches Hindernis in der Homöopathie ist die traditionelle Beschwörungsformel „Hahnemann hat dies gesagt!“, die unglücklicherweise bis heute überlebt hat. Einerseits zeigt diese Studie, dass einige der Dinge, die Hahnemann sagte, nur für seine Zeit galten. Andererseits, was noch wichtiger ist, dass Hahnemann das Argument der Autorität in der Wissenschaft verabscheute! Daher schließt mein Artikel mit der Frage: Wie ehren wir Hahnemanns Vermächtnis am besten? Indem wir an den Buchstaben seiner Schriften kleben oder indem wir seinen Schritten folgen und danach streben, Homöopathie zu einem zuverlässigen medizinischen Ansatz unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu machen?

Welches sind die Auswirkungen Ihrer Erkenntnisse auf die moderne wissenschaftliche Diskussion über die Wirksamkeit hoch potenzierter homöopathischer Heilmittel?

Diese Seite meiner Forschung wird in dem angegebenen Artikel nicht erwähnt. Das Thema ist ziemlich komplex, aber ich will versuchen, es zu erklären: Die westliche Wissenschaft gründet sich seit ihren Anfängen auf einer anscheinend unschlagbaren Identität. So unschlagbar, dass sie im Verlauf von mehr als 2000 Jahren zu erstaunlichen Ergebnissen kam! Sie wurde von Aristoteles (4. Jahrhundert vor Christus) formuliert und besagt, dass das Sein der Welt (Ontologie) sich mit dem Weltbild deckt, das sich uns in unserem Denken und unserer Sprache (Logik) sowie in unserem Wissen (Epistemologie) erschließt. Die Hauptkategorie des Systems von Aristoteles ist die Substanz, die Gegenstand einer Behauptung ist („Ein Subjekt ist [ein Prädikat]“ = S ist P). Die Formel „S ist P“ ist das grundlegendste Urteil, das wir über die Realität (Epistemologie) und die elementare Einheit der Logik treffen können.

Darüber hinaus ist Substanz materiell. Darum denken wir, „Substanz“ sei ein Stück Materie, obwohl der Begriff in Latein nur „das, was darunter liegt“ bedeutet (sub-stare). Und darum können wir die homöopathischen Präparate nicht benennen! Sie sind keine „hohen Verdünnungen“, da per Definition über der Avogadro-Zahl hinaus kein Stoff mehr gelöst werden kann. Sie sind keine „Dynamisierungen“ oder „Potenzen“, wie Hahnemann sie genannt hat, da keine „Kraft“ aus der Materie extrahiert wird.

Wir können stundenlang damit fortfahren, zu sagen, was homöopathische Präparate nicht sind, aber wir können nichts darüber sagen, was sie sind! Der Grund hierfür ist die aristotelische Identität zwischen Ontologie, Logik, Epistemologie und Materie. Aus diesem Blickwinkel sind die homöopathischen Mittel nichtig. Man kann sie an sich weder gedanklich erfassen, noch etwas über sie aussagen oder wissen. Dieses Modell war so unglaublich widerstandsfähig, dass es bis zum 19. Jahrhundert nicht angezweifelt werden konnte. Dann schlug der Universalgelehrte Charles Sanders Peirce (1839–1914) ein auf der Kategorie Relation basierendes Modell vor und ersetzte Substanz durchweg durch das Zeichen als den Eckpfeiler von Realität, Logik und Epistemologie. Sein System ist als Semiotik bekannt und deren Anwendung auf die Biologie als Biosemiotik. Interessanterweise bewegten sich Madeleine Bastide (2007) und Agnès Lagache (2010) mit ihren Erläuterungen von homöopathischen Mitteln als körperliche Zeichen („signifiants corporels“) genau in die gleiche Richtung. Auch die Hauptströmung der biomolekularen Forschung hat sich vollständig in diese Richtung bewegt, sodass jeglicher biomolekulare Prozess jetzt im Sinne von Signalen (Zeichen) beschrieben wird. Dies verträgt sich sehr gut sowohl mit der Gesellschaft, in der wir leben, bei der es sich um eine „Informationsgesellschaft“ handelt, als auch mit den neuesten Modellen, die für die Wirkung von homöopathischen Mitteln vorgeschlagen wurden, darunter Nanopartikel, Epitaxie usw.

In dieser Hinsicht arbeite ich mit der GIRI (Groupe International de Recherche sur l’Infinitésimal = Internationale Forschungsgruppe zum Thema Infinitesimalsubstanzen) – der internationalen Gesellschaft, die Forscher auf dem Gebiet der homöopathischen hohen Verdünnungen zusammenbringt – zusammen, indem ich theoretische Unterstützung für den Paradigmenwechsel in der Erforschung hoher Verdünnungen leiste.

Frau Dr. Waisse, wir danken Ihnen für diesen äußerst interessanten Einblick in Ihre Forschung!

Das Interview führte Michael Teut

Das Originalforschungspapier wurde veröffentlicht in:

Waisse S. The science of high dilutions in historical context. Homeopathy 2012; 101: 129–137