Balint Journal 2015; 16(01): 15-18
DOI: 10.1055/s-0035-1548795
Vorträge IBF Heidelberg 2013
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Patient im Opium Nebel [*]

Seeing the Patient Through an Opium Haze
J. Muench
1   Department of Family Medicine Portland, Oregon, USA
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
13 April 2015 (online)

Das Symptom

In den neunziger Jahren explodierte die Anzahl der Opiattodesfälle in den vereinigten Staaten von Amerika und das Problem verschlimmerte sich noch mit Beginn des neuen Jahrtausends, sodass das U.S. Center for Disease Control sich gezwungen sah, dieses Problem als neue Epidemie zu deklarieren [1]. Die Opiate, welche das Problem verursachten, kamen jedoch nicht von Straßendealern, sondern wurden von hoch angesehenen Ärzten in Kliniken und Krankenhäusern, einschließlich meiner selbst und meiner Assistenzärzte, verschrieben. 20 Jahren zuvor hatte sich ein deutlicher Wandel in unserem medizinischen Standard der medizinischen Behandlung in Bezug auf das Verschreibungsverhalten von Schmerzmitteln vollzogen. Im Jahr 1986 hatte ein einflussreicher medizinischer Autor die medizinische Gemeinschaft angegriffen und ihr vorgeworfen, Schmerzen nicht hinreichend zu behandeln und die potentiellen Neben- und Langzeitwirkungen von Opiaten zu hoch zu gewichten [2]. Dabei werde kein Unterschied gesehen, ob ein Patient an Knochenmetastasen oder an unklaren oder wenig abgeklärten Lendenwirbelsäulenschmerzen leide. Im Dezember 2000 formulierte die Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations (JCAHO) neue Leitlinien, um zu garantieren, dass die Patienten eine korrekte Einschätzungen und Behandlung Ihrer Schmerzsymptomatik erfahren würden. Sie behaupteten, der Schmerz sei „das fünfte Vitalzeichen“. So sollten alle Patienten, egal aus welchem Grund sie sich vorstellten, über eine eventuelle Schmerzsymptomatik seit der letzten Vorstellung befragt werden [3]. Die pharmazeutische Industrie unterstütze diesen Trend. Purdue Pharma bewarb in den neunziger Jahren ihren langwirksamen Wirkstoff Oxycodon als wirksam für fast alle Schmerzsymptome, während es beinahe kein Suchtpotenzial habe. Diese Aussage wurde erst 2007 zurückgezogen, als sie vor dem Gerichtshof eingestehen mussten, dass sie den Wirkstoff mit „der Absicht zu täuschen und die Öffentlichkeit in die Irre zu führen“ falsch beworben hätten.

So wechselten wir von der Atmosphäre vor 1990, in der es sehr selten gewesen war, dass Ärzte Opiate verschrieben (manchmal waren sie sogar zögerlich wenn es sich um das Endstadium einer Krebserkrankung handelte) zu einer Atmosphäre, in der der medizinische Standard die Verschreibung von Opiaten für fast jede Art von Schmerz vorsah, und zwar solange wie möglich und so viel wie nötig. Unter dem Druck des Wechsels in der öffentlichen und medizinischen Meinung und in der Absicht, die Belange des Patienten in den Vordergrund zu stellen, trugen so viele eigentlich wohlmeinende Ärzte zu diesem überschießenden Verbrauch von Opiaten bei.

* Übersetzung erfolgte durch: Dr. med. A. Kielstein Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Psychoanalytisch Interaktionelle Gruppentherapie Geschäftsführung der Deutschen Balint Gesellschaft, Jean-Burger-Str. 15, 39112 Magdeburg


 
  • Literatur

  • 1 Vital signs: overdoses of prescription opioid pain relievers – United States, 1999–2008. MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2011; 60: 1487-1492
  • 2 Portenoy RK, Foley KM. Chronic use of opioid analgesics in non-malignant pain: report of 38 cases. Pain 1986; 25: 171-186
  • 3 Lanser P, Gesell S. Pain management: the fifth vital sign. Healthc Benchmarks 2001; 8: 68-70 62
  • 4 Johnson AH, Brock CD, Hamadeh G, Stock R. The current status of Balint groups in US family practice residencies: A 10-year follow-up study, 1990–2000. Fam Med 2001; 33: 672-677
  • 5 International Association for the Study of Pain . Classification of Chronic Pain. Pain 1986; 24
  • 6 Bass C, May S. Chronic multiple functional somatic symptoms. BMJ 2002; 325: 323-326
  • 7 Epstein RM, Quill TE, McWhinney IR. Somatization reconsidered: incorporating the patient's experience of illness. Arch Intern Med 1999; 159: 215-222
  • 8 Cassell EJ. The relief of suffering. Arch Intern Med 1983; 143: 522-523
  • 9 Pittenger RA. Balint Seminars in a Family Practice Residency. American Balint Society web site, accessed January 28, 2013