Zeitschrift für Palliativmedizin 2017; 18(01): 28-35
DOI: 10.1055/s-0036-1584712
Perspektiven
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Trauerstörung

Johannes Albrecht
,
Norbert Mucksch
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Publication Date:
25 January 2017 (online)

Aktuell wird der ICD-Katalog (International Classification of Diseases), also die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme diskutiert und überarbeitet. Die ICD-11-Arbeitsgruppe, die an einer Neufassung arbeitet, die im Frühjahr 2018 erscheinen soll, schlägt die Aufnahme der anhaltenden Trauerstörung als neue eigenständige Diagnose („prolongued grief disorder“) unter der in der Infobox zusammengefassten Definition vor.

FAZIT

Trauer nicht pathologisieren, schweres Leid nicht normalisieren, gesellschaftliche Veränderungen auf den Weg bringen!

  • Betroffene müssen die individuelle Unterstützung bekommen, die sie benötigen, seien es Begleitungsangebote durch Ehrenamtliche, seien es professionelle (ggf. auch psychotherapeutische) Angebote. („Wer heilt, hat recht“).

  • Dafür bedarf es einer sorgfältigen Versorgungsforschung. Die derzeitige Studienlage scheint (noch) keine hinreichende Basis zu bilden, selbst wenn erste Anfänge gemacht sind.

  • Die bestehenden Angebote sind zu evaluieren und differenziert und bedarfsgerecht auszubauen. Zu einem solchen Ausbau muss zweifelsohne auch die finanzielle Förderung gehören.

  • Es bedarf sowohl einer multiprofessionellen als auch (hilfe-)systemübergreifenden Vernetzung.

  • Sorgfältiger und achtsamer Umgang mit Sprache ist unbedingt angezeigt. Ein systemübergreifender Konsens zu verbindlicher Sprachgestaltung wäre hilfreich. Sprache schafft Wirklichkeit!

  • Die Terminologie, die dafür derzeit in der Diskussion verwendet wird („anhaltende Trauerstörung“), scheint uns nicht geeignet. Wir halten es für angemessener, von einer „Belastungsstörung nach dem Verlust einer nahestehenden Bezugsperson“ zu sprechen, wie es die Fachgruppe des DHPV vorschlägt. Denkbar wäre auch eine umfassendere Bezeichnung wie „Belastungsstörung nach einem schwerwiegenden Verlust“.

  • Gleichzeitig muss Trauer zurückgeführt werden in die Mitte der Gesellschaft und vor allem in die Alltagswelt der Trauernden. Dies wird ein längerfristiger gesellschaftspolitischer Prozess sein, der jetzt angestoßen werden muss. Erfahrungen des Chartaprozesses könnten hier wegweisend sein.[5]

  • Ein erster Schritt dafür wäre: Die Suche von Initiatoren und Partnern in Betroffeneninitiativen, Fachverbänden (DGP, DHPV, BVT e. V.) und in politischen Systemen (Bundes-, Länder-, kommunale Ebene). Träger/Partner auf politischer Ebene könnte eine Einrichtung wie der Interfraktionelle Gesprächskreis Hospiz und Palliativmedizin im Deutschen Bundestag[6] oder eine adäquate Konstruktion sein.

  • Ziel ist eine langfristige konzertierte Aktion der Ministerien für Gesundheit, Arbeit und Bildung in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Institutionen und Fachreferaten der Länder und Kommunen und vieler weiterer gesellschaftspolitisch relevanter Strukturen im Gesundheitssystem und in der Arbeitswelt (z. B. Gewerkschaften, Handwerkskammern, Arbeitgeberverbände etc.).

  • Wir wünschen uns in diesem Prozess, dass Trauer wieder gesellschaftlich akzeptierter wird und die Begleitung Trauernder eine breitere Basis findet, sodass sie selbstverständlich geschieht. Wir sind uns sehr einig darüber, dass ein solcher positiv in die Gesellschaft hineinwirkender Prozess zu höherer Wertschätzung von Trauer und Trauernden führt und per se bereits ein adäquates und wirklich hilfreiches Angebot für Menschen in Trauer darstellt. Es geht um das Wiedergewinnen einer „not-wendigen“ Erinnerungskultur und um die Chance, das (wieder) zu entdecken, was in Krisen des Lebens trägt und zählt. Wenn wir uns dem nähern, dann wird es vermutlich seltener notwendig sein, dass Menschen eine professionell „therapeutische“ Hilfe im Sinne einer psychologischen oder medizinischen Behandlung benötigen.