Z Sex Forsch 2015; 28(03): 282-294
DOI: 10.1055/s-0041-105637
Dokumentation
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Dialektik zwischen Lusterleben und Bindungsbedürfnis in der Sexualität

Innen- und Außenansichten des Sexuellen
Wolfgang Berner
a   Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (Psychoanalytiker), freie Praxis in Hamburg
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Publication Date:
07 October 2015 (online)

Sexuelle Wünsche enthalten, wie wir alle wissen, oft viele Teilaspekte und Facetten, die so konfliktbehaftet und widersprüchlich sein können, dass sich daraus besondere Hemmungen ergeben, oder im Gegenteil auch impulsives Handeln (um Hemmung erst gar nicht aufkommen zu lassen). Es soll im Folgenden versucht werden, Aspekte des sexuellen Erlebens in ihrer dynamischen Bezogenheit aufeinander zu untersuchen. So kann das große Bedürfnis nach körperlicher Lust ganz ohne Bindungswunsch an den „Anderen“ auftreten oder umgekehrt im Extremfall den Anspruch auf ewige Bindung enthalten („Wir wollen niemals auseinandergehen“). Wann tritt das Eine, wann das Andere auf? Gibt es Voraussetzungen, Regeln? Oder müssen wir es bei der guten alten Metapher belassen, dass eben Eros seine Pfeile verschickt, und wen sie treffen, der kann sich nicht dagegen wehren?

Schon im etwa 250 n. Chr. in Indien entstandenen Lehrwerk über Erotik – dem Kamasutra (vgl. Doniger und Kakar 2004) – wird zwischen dem Reiz einer Orgie, wo es um maximale Stimulierung möglichst vieler erotischer Zonen durch mehrere Personen geht und der Erotik des Liebespaares unterschieden, das im Blick des Gegenüber gebunden bleibt und Dauer anstrebt. Die Dialektik zwischen mitreißender Leidenschaft und einer nach Dauer strebenden Erotik beschäftigte seit jeher die Menschen und ist Thema unzähliger Kunstwerke und tiefgeistiger Abhandlungen in so gut wie allen bekannten Kulturen.

Ich möchte mich nun genau dieser Dialektik widmen und mich ihr aus zwei Perspektiven annähern. Aus der Perspektive der Psychoanalyse, die sich der Introspektion bedient und der Perspektive der empirischen Wissenschaften, die mit der Methode des objektivierenden Beobachtens Gegenständliches beschreibt. Die Perspektive der Introspektion nennt man die Erste-Person-Perspektive, weil sie eine Selbstreflexion repräsentiert – ich schaue in mich hinein (oder ein Psychoanalytiker schaut mit mir gemeinsam in mich hinein). Die Perspektive der empirischen Wissenschaft nennt man die Dritte-Person-Perspektive, weil sie ihren Blick auf ein äußeres Objekt richtet – ich betrachte mir gegenüber Stehendes, ich objektiviere es gewissermaßen.

Wenn ich nun meine Fragestellung aus der Sicht der beiden genannten Perspektiven formuliere, dann wird mich auf der Ebene der Introspektion das Erleben von Lust in ihren unterschiedlichen Facetten, von Begehren und entsprechender Getriebenheit beschäftigen, so wie das Bedürfnis des Gebunden- Bleibens bzw. das Gefühl der Abhängigkeit vom Anderen. Auf der Ebene der empirischen Wissenschaften suche ich hingegen nach materiellen Korrelaten für Lusterleben, das Gefühl der Getriebenheit und der Gebundenheit an Andere. Haben uns die Neurowissenschaften hier weiter gebracht? Finden wir Orte im Gehirn, bzw. physiologische Vorgänge dort, die mit dem angesprochenen Erleben einhergehen?

Wenn sich hier Parallelen zeigen lassen, bleibt noch die Frage, ob sie uns weiterhelfen. Beeinflusst ein mögliches Wissen um physiologische Vorgänge, die unser Erleben begleiten, vielleicht den therapeutischen Umgang mit Problemen unseres Erlebens? Oder kann aus Introspektion Gewonnenes weitere empirische Forschung anregen oder sogar anleiten?