PPH 2016; 22(03): 173
DOI: 10.1055/s-0042-107217
Rund um die Psychiatrie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für Sie gelesen: Haynert H, Kammeier H, Hrsg. Wegschließen für immer? Ethische, rechtliche und soziale Konzepte im Umgang mit gefährlichen Menschen auf dem gesellschaftlichen Prüfstand

Contributor(s):
Christoph Müller
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Publication Date:
20 May 2016 (online)

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(Pabst Science Publisher)

Selbstverständnis-Debatten haben in der forensischen Pflege eher Seltenheitswert. Fachliche Positionierungen gibt es kaum im Konzert der konkurrierenden und kooperierenden Professionen in der forensischen Psychiatrie.

Deshalb ist der Aufsatzband „Wegschließen für immer?“ so wichtig. Denn insbesondere der Pflegewissenschaftler Harald Haynert versucht, dass forensisch Pflegende ernster genommen werden (können). Wenngleich der Titel des Buchs auf den ersten Blick reißerisch erscheint und natürlich auch die Aufmerksamkeit des potenziellen Lesers auf sich zieht, inhaltlich hat es einiges zu bieten.

Es gibt ein Nachdenken über den „Schutzanspruch vor gefährlichen Personen und die Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Schutzgewährleistung“ (Heinz Kammeier). Es findet eine Beschreibung des „Spannungsfelds zwischen Autonomie und Fürsorge im Maßregelvollzug“ (Christian Prüter-Schwarte) statt. Es gibt eine Annäherung an eine „ressourcenorientierte Risikoeinschätzung bei Sexualstraftätern“ (Dahlnym Yoon).

Das Buch schafft es, auf der einen Seite die Bedürfnislagen einer gesellschaftlichen Skepsis gegenüber der forensischen Psychiatrie aufzugreifen. Auf der anderen Seite leisten die Autorinnen und Autoren des Bands, zeit- und situationsangepasste Perspektiven für das forensisch-psychiatrische Arbeiten zu entwickeln.

Mit der Konzentration auf die forensische Pflege kommt Haynert zu ernüchternden Schlüssen, wenn er konstatiert, dass das Potenzial der forensischen Pflege „bislang weder ausreichend systematisch erforscht noch entwickelt“ sei. Natürlich spricht sich Haynert in diesem Zusammenhang für eine verbesserte Pflegeforschung und Pflegeevaluation aus.

Etwas vernachlässigt er jedoch, die originäre Arbeit forensisch Pflegender an der Front in den Mittelpunkt zu rücken. Haynert beschreibt zu Recht: „Forensische Pflege leistet einen bedeutenden Anteil an der Gefährlichkeitsreduktion, der Bewältigung der psychischen Anlasserkrankung und der Wiedereingliederung in die Gesellschaft.“ Dies trifft natürlich zu.

Doch verliert er nur wenige Worte darüber, dass bei den forensisch Pflegenden eine Sensibilität für das eigene Handlungsfeld geschärft werden muss und auch ein grundsätzliches Nachdenken über so manchen Grundbegriff im Kontext der forensischen Psychiatrie stattfinden muss (Strafe, Therapie, Alltagsbegleitung et cetera).

Wenn sich die Psychologin und Psychiaterin Ute Hermann Gedanken über „optimierte Behandlungspfade in der forensischen Psychiatrie“ macht, so ist es natürlich zu begrüßen, wenn sie auch auf die forensische Pflege schaut. Dies ist einmal mehr ein Beleg dafür, dass Pflege sich einen Ruf erarbeitet hat.

Es ist geradezu ermutigend, wenn sie dann betont, was wichtig bei der Begleitung schwieriger Patienten in der forensischen Psychiatrie ist. Ute Hermann schreibt: „Die Behandlungsverantwortung in dieser Etappe der Konsolidierung liegt schwerpunktmäßig im Bereich der Pflege, die umfeldanalog den Alltag und das Milieu gestaltet, in dem sich der Patient überwiegend bewegt. Dies erfordert ein hohes Maß an fachlicher Kompetenz, professioneller Emphase sowie Distanz gleichermaßen und persönlicher Eignung […]“.

Das Buch „Wegschließen für immer?“ ebnet den Weg, entlang dem weitergedacht werden muss. Besonders die forensisch-psychiatrische Pflege kann davon profitieren.

Christoph Müller