Z Sex Forsch 2016; 29(02): 187-189
DOI: 10.1055/s-0042-108008
Nachruf
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

John H. Gagnon (22. November 1931 – 11. Februar 2016)

G. Schmidt
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Publication Date:
23 June 2016 (online)

An Unlikely Story – so beschreibt John Gagnon sein Leben in einem autobiographischen Essay (1990). Gagnon wuchs in der Zeit der großen Depression heran. Auf der Suche nach Arbeit zog die Familie von Arizona nach Massachusetts, dann nach Vermont, zurück nach Arizona, und schließlich, nach dem frühen Tod des Vaters, eines Bergarbeiters, nach Long Beach, Kalifornien. Hier besuchte er die High School. Wissensdurst und Neugierde stillte er in der Stadtbibliothek, in der er seine freie Zeit verbrachte und ohne Ziel und Richtung alles las, was er fand. Ein Scout der University of Chicago, der seine High School besuchte, riet ihm, in Chicago zu studieren. Gagnon, in dessen engerem sozialen Umfeld kein Studierter und keine Studierte war, folgte dem Rat. Er stand seinem universitären Umfeld über Jahre hinweg fremd und ambivalent gegenüber, brauchte fünf Jahre, um seinen Bachelor, und insgesamt 20 Jahre, um seinen Ph.D. zu erwerben. Damals, 1969, war er schon zum Professor berufen worden, musste aber auf die Ernennung noch einige Monate warten, bis die Promotion angenommen war. Für sein Postgraduierten-Studium war die Soziologie übrigens nicht seine erste Wahl; die Medizin lehnte ihn ab wegen nicht hinreichender Noten, die experimentelle Psychologie schreckte ihn mit ihren zahllosen Skinner-Boxen, die klinischen Psychologen gaben ihm zu bedenken, dass viele Bewerber mit einer Therapie besser bedient wären als mit einem Studium. So schrieb er sich schließlich bei den Soziologen ein. Während all der Studienjahre, so sagte er, „no particular idea and certainly no intellectual posture of these teachers became mine“. Zum Intellektuellen und Querdenker entwickelte er sich am Rande seines Studiums. Die Schnittstelle von Uni und Stadt war seine Welt, Musikkeller, Kinos, Theater, Kneipen. Allerdings entkam er der renommierten Chicagoer Schule der Soziologie nicht ganz: Er wurde in Maßen geprägt vom symbolischen Interaktionismus.

Während seines Graduiertenstudiums arbeitet Gagnon einige Jahre lang an einem Bezirksgefängnis. Dort lernte er Mitarbeiter des Kinsey Instituts, Indiana State University, Bloomington, kennen, die Interviews mit Inhaftierten erhoben. Sie boten Gagnon eine Stelle am Institut an, um an ihrer Studie zur Sexualität von Sexualstraftätern mitzuarbeiten. 1959 ging Gagnon nach Bloomington und wurde Co-Autor des sogenannten 4. Kinsey Reports Sex Offenders (1965). Für ihn war das Kinsey Institut dieser Zeit eine brache Institution, die nach seinem Eindruck ihre alten Routinen immer wieder installierte, ohne etwas Innovatives zu schaffen. Das wurde sehr schnell anders, als der Soziologe William Simon (1930 – 2000), den Gagnon aus dem Studium in Chicago flüchtig kannte, 1965 an das Kinsey Institut kam. Beide sollten einige Jahre lang wissenschaftliche Alter Egos füreinander sein. Umgeben von Studentinnen und Studenten, die auf dem idyllischen Bloomingtoner Campus gegen den Vietnamkrieg oder für gemischtgeschlechtliche Dormitories protestierten, schrieben sie in kurzer Zeit mit enormer Produktivität und Lust an innovativer Analyse eine Reihe von Aufsätzen, in denen sie die Sexualwissenschaft Thema für Thema neu vermaßen: Sexuelle Entwicklung, Sexualität in Kindheit und Jugend, Homosexualität bei Männern und Frauen, Gefangenensexualität, Prostitution, Sexualpädagogik, Pornographie, sozialer Wandel der Sexualität, usw. usf. Versehen mit einer theoretischen Einleitung versammelten Gagnon und Simon diese Aufsätze in ihrem Buch Sexual Conduct, das 1973 erschien. Aus Sexualverhalten wurde kulturell, interaktiv und „intrapsychisch“ (also biographisch) organisiertes sexuelles Handeln. Zu sagen, Sexual Conduct markiere die Erfindung der Skripttheorie der Sexualität, wäre richtig und kurzgriffig zugleich: Das Buch ist der Urtext des sozialen Konstruktivismus, der die Soziologie der Sexualität, Gender-, Queer- sowie Lesbian- and Gay-Studies nachhaltig prägte; es ist die Begründung einer postliberalen Soziologie der Sexualität; es ist der Abschied von den zuvor beherrschenden naturalistischen Konzepten der Sexualität, die von Freud bis Kinsey „Trieb“ und Gesellschaft als Widersacher postulierten. Drei Jahre nach Sexual Conduct publizierte Michel Foucault den ersten Band seiner Histoire de la sexualité (1976), in dem Konstruktion und Dekonstruktion sexueller Konzepte ebenfalls zentrale Themen sind (wenn auch in einem weiteren historischen Rahmen als bei Simon und Gagnon), ein Werk, das dieselben, gerade genannten Wissenschaftsrichtungen inspirierte wie Sexual Conduct. Auffällig bis verstörend ist, dass Gagnon und Foucault praktisch keine Notiz voneinander nahmen; Simon bezieht sich in seinen späteren Werken hier und da auf Foucault. Offenbar waren die angelsächsisch-pragmatische und die französisch-pathetische Version des Konstruktivismus nur schwer zu vereinen. Immerhin versuchten die britischen Soziologen Ken Plummer und Jeffrey Weeks, die kommunikative Kluft zwischen beiden Werken zu überwinden, Gemeinsamkeiten und Differenzen zu benennen.

Die gemeinsame Zeit Gagnons und Simons am Kinsey Institut währte nur drei Jahre. Ende der 1960er ging Simon an das Institute for Juvenile Research in Chicago, wenig später als Soziologieprofessor an die University of Houston. Gagnon wurde 1969 Professor für Soziologie der State University of New York at Stony Brook. Nach dem Erscheinen von Sexual Conduct wurden Co-Produktionen Simons und Gagnons immer seltener. Ende der 1980er-Jahre publizierten sie noch einmal Synopsen und Erweiterungen ihrer Skripttheorie, sozusagen ihr letztes gemeinsames Wort in dieser Sache. Inhaltlich bewegten sie sich nun auf unterschiedlichen Pfaden. Simon näherte sich bei seinen Arbeiten über Postmoderne Sexualitäten (1996) psychoanalytischen Positionen an, insbesondere den Arbeiten Robert J. Stollers, für den, wie für Simon und Gagnon, Bedeutungen für das Verständnis sexueller Erregung, Handlungen und Fantasien wichtiger waren als Energiequanten. Gagnon schlug, wie er einmal anmerkte, eine durkheimische Richtung ein. Er wandte sich in der Aidskrise wieder der empirischen Sexualwissenschaft zu, weil er darin eine Chance sah, den gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Bedrohung rationaler zu machen. Zusammen mit drei renommierten Soziologen und Sozialwissenschaftlern der University of Chicago, nämlich Edward Lauman, Robert Michael und Stuart Michaels, initiierte, leitete und publizierte er eine (skript)theoretisch ausgerichtete, methodisch anspruchsvolle und umfangreiche Studie zum Sexualverhalten in den USA: The Social Organisation of Sexuality (1994) ist der erste große postkinseysche Survey in den USA.

Gagnon war in den 1970er- und 1980er-Jahren Gastprofessor am Churchill College in Cambridge, an der School of Education in Harvard und am Department of Sociology, University of Essex. Ende der 1990er-Jahre wurde er als „Distinguished Professor of Sociology at the State University of New York at Stony Brook“ emeritiert. Zusammen mit der Soziologieprofessorin und Fotografin Cathy Greenblat, seiner Frau, lebte er nun die meiste Zeit des Jahres in Südfrankreich. 2004 publizierte er eine Sammlung seiner (alleine verfassten) Aufsätze unter dem Titel An Interpretation of Desire. 2005 besorgte er die Neuausgabe von Sexual Conduct. Der „Urtext“ wurde unverändert nachgedruckt und reichhaltig ergänzt: um ein Vorwort Ken Plummers zur Aktualität, Bedeutung und Rezeption des Werks; um einen Essay Gagnons über den sexuellen Wandel seit den 1970ern; um Werkstattberichte von und Interviews mit Gagnon und Simon. 2007 wurde John Gagnon mit einer von Michael Kimmel herausgegebenen Festschrift The Sexual Self geehrt.

Ich lernte Gagnon und Simon im Herbst 1967 während eines Studienaufenthaltes am Kinsey Institut kennen. Es war die hohe Zeit ihrer Bloomingtoner Produktivität. Sie nahmen den noch recht unbedarften jungen Kollegen einige Male mit zum Lunch in der Cafeteria des Campus, tranken gelegentlich einen Kaffee mit ihm in ihren vollgepackten Arbeitszimmern. Ihre Beredsamkeit, ihre Lust am Assoziieren, Spekulieren und Probedenken, ihr Mut, sich auch mal zu verrennen, waren begeisternd und auch ein wenig einschüchternd. Sie erklärten, dass sie ihre Aufsätze so produzieren: Diskutieren, oft tagelang und auch in der Kneipe; wenn die Einfälle versiegen, schreibt einer das „draft“; der andere redigiert den Entwurf; fertig. Eine wundervolle und freie Art, wissenschaftlich zu arbeiten. Zurück in Hamburg wandte ich mich bald Fragen der „Triebdebatte“ und des sozialen Wandels der Sexualität zu. Ich brauchte lange Zeit, mir einzugestehen, wie stark ihr Einfluss auf mich gewesen ist – und ihnen dafür dankbar zu sein.

John H. Gagnon starb am 11. Februar dieses Jahres in Palm Springs, Kalifornien, er wurde 84 Jahre alt.