Diabetes aktuell 2016; 14(05): 221
DOI: 10.1055/s-0042-115262
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der alte Mensch und die Geriatrie

Alexander Friedl
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Publication Date:
02 September 2016 (online)

Die Bevölkerung in Deutschland wird immer älter, der demografische Wandel rückt zunehmend stärker ins Bewusstsein, und er macht sich in vielfältiger Art auch im Gesundheitssystem bemerkbar. Haben sich vor 1 bis 2 Jahrzehnten nur wenige Gesundheits-Profis für die Besonderheiten älterer Menschen interessiert, so findet derzeit eine zunehmende „Geriatrisierung“ des Gesundheitssystems statt. Immer mehr wird auch außerhalb der Geriatrie erkannt, wie wichtig für eine gute Behandlung und Versorgung älterer Menschen die Kenntnis und Berücksichtigung altersspezifischer Gegebenheiten ist. Wurden früher ältere Menschen als eine Nebengruppe im Gesundheitssystem gesehen, so rücken sie mittlerweile immer mehr ins Zentrum der Betrachtung, alleine schon durch ihre Menge.

Auch außerhalb des Gesundheitssystems wird das Thema „Altern“ medial mit immer größerer Selbstverständlichkeit diskutiert, fragen sich doch viele, wie unsere Gesellschaft in 10, 20, 30 Jahren aussehen wird – und wo man selbst sich dann vielleicht einmal wiederfindet. Vielleicht muss das Alter heute auch nicht mehr so verdrängt werden, sieht man doch immer mehr Beispiele von „fitten Alten“, die trotz fortgeschrittener Lebensjahre ihre körperliche und geistige Kompetenz in großem Ausmaß erhalten haben. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines 70-jährigen Mannes in Deutschland beträgt aktuell 14 Jahre, die einer gleichaltrigen Frau fast 17 Jahre, ein 80-jähriger Mann hat im Schnitt noch fast 8 Jahre vor sich, bei Frauen sind es über 9 Jahre. Die über Hundertjährigen bilden seit mehreren Jahrzehnten die am schnellsten wachsende Altersgruppe.

Diese Entwicklungen und Erkenntnisse helfen, sich auch im Gesundheitssystem rationaler und differenzierter mit dem Thema Altersmedizin zu beschäftigen. Immer besser wird verstanden, dass gerade im höheren Lebensalter die Unterschiedlichkeit der Menschen deutlich größer ist als in jüngeren Jahren, alleine was Erkrankungen, funktionelle und auch kognitive Defizite betrifft. Es wird mehr und mehr erkannt, dass es z. B. „den 70-jährigen“ eigentlich nicht gibt, dass vielmehr genau hingesehen werden muss, welche individuellen Gesundheitsprobleme und Einschränkungen von Bedeutung sind und wie sie Prognose, Möglichkeiten und Hilfsbedarf dieses Menschen beeinflussen.

Damit hat man ein wichtiges Grundprinzip der Geriatrie verstanden: das genaue und strukturierte Hinschauen und Hinhorchen, um daraus differenzierte Pläne für das weitere Vorgehen zu entwickeln.

Und gerade wegen dieser Komplexität hat man in der Geriatrie schon lange verstanden, dass das nicht ein Fach oder eine Berufsgruppe alleine kann, sondern wie wichtig es ist, dass die mit dem Patienten befassten Fachgebiete und Professionen gut miteinander arbeiten, gemeinsam nach guten Wegen des weiteren Vorgehens suchen im Sinne von Arbeitsteilung verschiedener Spezialisten und gleichzeitig Harmonisierung dessen, was getan wird. Geriatrie funktioniert nur richtig im multiprofessionellen Team und in enger Kooperation mit anderen Fachrichtungen und Institutionen. Auch davon können andere Fachrichtungen lernen, sie sollten, ja müssen es, wenn sie ihre immer älteren Patienten auch künftig gut und sinnvoll behandeln wollen.

Die Kooperationen von Hausärzten und Diabetologen funktionieren immer besser. Letztere arbeiten schon lange intensiv mit Diabetesberatern und -assistenten zusammen. Bei den älter werdenden Patienten spielen oft Angehörige und Pflegekräfte eine große Rolle. Der Austausch mit diesen ist für ein gut funktionierendes System sehr wichtig. Bei der Medikation kommen Apotheker ins Spiel, für diese ermöglicht die Weiterbildung „Geriatrische Pharmazie“ eine gewisse Spezialisierung, und sie können ihre besonderen Kenntnisse im Rahmen von Patientenberatungen, fachlichem Austausch mit Medizinern bis hin zu gemeinsamen Visiten hilfreich zur Verfügung stellen. Geriatrische Assessments können in bestimmten Fällen von speziell fortgebildeten Hausärzten und ihren Mitarbeiterinnen durchgeführt werden. Für komplexere Fragestellungen gibt es die Möglichkeit von Kooperationen mit Geriatern und deren Teams. Seit kurzem gibt es eine gesetzliche Regelung, die Geriatrischen Kliniken die Einrichtung einer Geriatrischen Institutsambulanz ermöglicht, die dann in reiner Beratungsfunktion für Patienten von niedergelassenen Ärzten genutzt werden kann.

In 3 Artikeln werden Besonderheiten von älteren Menschen mit Diabetes und der Umgang damit ausgeführt. Die Definition von Therapiezielen ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit, und gerade bei geriatrischen Patienten unterbleibt dies vermutlich sehr oft. Wie man bei älteren Diabetikern dennoch zu sinnvollen Zielen kommen kann wird im ersten Artikel dargelegt. Die Besonderheiten der aktuellen Therapie geriatrischer Diabetiker sind im darauf folgenden Artikel aus Sicht eines Geriatrischen Pharmazeuten zusammengefasst. Im letzten Beitrag wird die Frage behandelt, welche Zusammenhänge zwischen Diabetes und Demenz bestehen und was in der diabetologischen Betreuung dabei zu berücksichtigen ist.

Versuchen wir mit diesem Wissen die medizinische Betreuung und Behandlung älterer Menschen mit Diabetes mellitus ein weiteres Stück zu verbessern.