Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2001; 11(2): 39-40
DOI: 10.1055/s-2001-12650
EDITORIAL
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Evidence-Based Medicine und PM&R

Evidence-based medicine and PM&RK.-L. Resch
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 December 2001 (online)

Evidence-Based Medicine ist nach einer vielzitierten Definition von Prof. David Sackett, einem der Väter und wichtigsten Protagonisten dieses noch sehr jungen medizinischen Konzeptes, der „gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EBM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung” [1].

Im Grunde fordert also Evidence-Based Medicine nichts anderes als das, was verantwortungsvolle Ärzte bisher auch getan haben: neben der eigenen Erfahrung den „Stand des Wissens” in die Erwägung der therapeutischen Entscheidung mit einzubeziehen. Während aber traditionell ein gängiges Lehrbuch als „externe Evidenz” zu Rate gezogen wurde (dessen Wissensstand in der Regel mindestens 10 Jahre hinter dem „aktuellen Stand des Wissens” zurückliegt), fordert EBM, alle Quellen zu berücksichtigen, vor allem aber neue, aktuelle wissenschaftliche Originalarbeiten. Und, anstelle traditioneller, oft stark subjektiv geprägter Einschätzungen (gerade durch die Autoren von Lehrbüchern), gibt es eine inzwischen international als Goldstandard akzeptierte Systematik, die es ermöglicht, anhand wissenschaftlich valider Kriterien die Güte (Präzision, Verlässlichkeit, Richtigkeit) einzelner Quellen abzuschätzen [2]. Die prospektive, randomisiert kontrollierte Studie (RCT) nimmt dabei eine besondere, hervorgehobene Stellung ein (Tab. [1]), während retrospektiven Studien, vor allem solchen ohne Vergleichsgruppe und ausschließlich auf Expertenkonsensus basierenden Empfehlungen vergleichsweise untergeordnete Bedeutung zugemessen wird.

Tab. 1Glaubwürdigkeit von Studien in Abhängigkeit von der angewandten Studienmethodik (aus 2). Erkenntnisebene Art des Erkenntnisgewinns Ia Metaanalyse aus randomisiert kontrollierten Studien Ib einzelne randomisiert kontrollierte Studien IIa gut geplante, nicht randomisierte, kontrollierte Studie IIb gut geplante quasi experimentelle Studie III gut geplante, nicht experimentelle, deskriptive Studie (z. B. Vergleichs-, Korrelations- oder Fallstudien) IV Expertenmeinung, Konsensuskonferenzen etc.

Die Bemühungen im Rahmen der EBM konzentrieren sich derzeit in erster Linie auf die Identifizierung bereits durchgeführter und publizierter randomisiert kontrollierter Studien sowie anderen Materials und, nach Möglichkeit, der quantitativen Zusammenfassung (in Form sog. systematischer Übersichtsarbeiten bzw. Metaanalysen).

EBM versucht primär, für den klinisch tätigen Arzt in der individuellen Entscheidung die bestmögliche externe Hilfe anbieten zu können (siehe oben). Es bleibt aber nicht aus, dass Kostenträger die dadurch geschaffenen Möglichkeiten nutzen, um - vor allem bei vorhandenem parallelen Angebot verschiedener medizinischer Therapiekonzepte - über reine Kostenaspekte hinaus auch Informationen bezüglich der Wirksamkeit in die Entscheidung mit einzubeziehen, ob eine Therapie generell bezahlt wird. Grundsätzlich wird dabei angenommen, dass die Kosteneffektivität einer wirksamen Maßnahme in der Regel größer ist als einer weniger oder nicht wirksamen.

Eine kürzlich in Europas renommiertester medizinischer Fachzeitschrift, dem britischen Lancet, publizierte Untersuchung zeigte am Beispiel der Kniegelenkarthrose, dass in den letzten Jahren mehr als 80 % aller Studien zu diesem klinischen Problem Medikamentenstudien waren [3]. „Viele davon”, so befanden die Autoren, „befassten sich mit für aktuelle Behandlungsstrategien wenig relevanten Fragen.”

Experten wie Patienten waren sich in dieser Untersuchung einig, dass mehr Untersuchungen sich mit physikalischen, chirurgischen und nicht zuletzt edukativen Maßnahmen beschäftigen sollten. Die Autoren stellten fest, dass es „kaum Sponsoren für diese Art von Interventionen” gebe und dass „Studienfinanzierung durch die Industrie einen unangemessen großen Einfluss auf die Forschungsagenda habe”.

An diesem Beispiel wird zwanglos klar, dass Mittel für die Finanzierung der vergleichsweise teuren RCTs als „Investition” vornehmlich dann zur Verfügung gestellt werden, wenn sich im Erfolgsfalle der „Return of investment” kalkulieren lässt. Dies impliziert, dass die gewonnenen Erkenntnisse patentierbar oder in anderer Form schützbar sind. Darüber hinaus lassen sich direkte, monokausale Zusammenhänge vergleichsweise einfach untersuchen, klassischerweise also Arzneimittel mit einer direkten, definierten Wirkung. Anders ist dies z. B., wenn es um komplexe therapeutische Konzepte geht, etwa im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme oder der Metaphylaxe chronischer Erkrankungen. Obschon mit der wichtigste Kostenfaktor im Gesundheitswesen, gibt es hierzu kaum gute Studien, ja es fehlen zum Teil sogar adäquate methodische Konzepte bzw. sie sind kaum bekannt [4]. In einem Gutachten zu den Gesundheitsausgaben für chronische Krankheiten aus dem Jahr 1998, das der Vorsitzende des Sachverständigenrates des Bundesgesundheitsministeriums, Prof. F. W. Schwartz, federführend erstellt hat [5], ist denn auch zu lesen: „Die dominante Denkfigur des Medizinsystems ist die Akutmedizin, orientiert sowohl auf akutmedizinische Ersterkrankungen als auch akutmedizinische Ereignisse auf dem Boden chronischer Krankheitsbilder. Auf diese Akutmedizin konzentrieren sich wissenschaftliche, industrielle und politische Anstrengungen.”

So muss festgestellt werden, dass die grundsätzlich vorbehaltlos zu bejahenden Prinzipien der EBM derzeit nur für vergleichsweise wenige, umgrenzte Bereiche der akademischen Medizin bereits in relevantem Umfang Anwendung finden und Anwendung finden können (z. B. Arzneimittel, Akutmedizin). In weiten Bereichen gibt es bisher fast ausschließlich Evidenz der Stufen III und IV (Tab. [1]). Dies gilt für die Psychotherapie ebenso wie für die gesamte Chirurgie und für weite Bereiche der Inneren Medizin. Dass sämtliche therapeutische Angebote im Handumdrehen auf der obersten Evidenzebene quantitativ untersucht werden, ist eine Forderung, die für diesen Bereich der Medizin ebenso unrealistisch wäre wie etwa für die Chirurgie. Wichtig ist aber, dass hier nicht an einzelne Bereiche andere, strengere Maßstäbe angelegt werden als an andere (Chirurgie, Innere Medizin). „Faire” Entwicklungsbedingungen vorausgesetzt, wird die PM&R mit ihren wissenschaftlichen Aktivitäten Schritt halten können auf dem Weg zu einer patientenzentrierten Evidence-Based Medicine.

Die Physikalische und Rehabilitative Medizin haben sich schon immer vorrangig mit einem besonders komplexen Bereich, nämlich dem der Prävention sowie der Metaphylaxe und Rehabilitation chronischer Erkrankungen, auseinander gesetzt. Hier bedarf es in besonderem Maße der feinfühligen und ausgewogenen Synthese aus externer Evidenz, klinischer Erfahrung und auf den individuellen Patienten zentrierter kontextbezogener Aspekte. Für einen besonders schwierigen Bereich, den Rückenschmerz, bietet der in Heft 1/2000 abgedruckte Beitrag von A. Nachemson [6], einem der international renommiertesten Experten zum Thema (vorgestellt im Rahmen eines Hauptvortrages auf der letzten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation in Jena), wertvolle externe Informationen, deren Einbeziehung in die therapeutische Entscheidung in dem einen oder anderen Fall vielleicht das Zünglein an der Waage darstellen könnte. Zum Wohle des betroffenen Patienten, würde ich mir wünschen.

Literatur

  • 1 Sackett D L, Rosenberg W MC, Gray J AM, Haynes R B, Richards W S. Evidence-based medicine what it is and what it isn't.  Br Med J. 1996;  312 71-72
  • 2 Cook D J, Guyatt G H, Laupacis A, Sackett D L. Rules of evidence and clinical recommendations on the use of antithrombotic agents.  Chest. 1992;  102, Suppl 4 305S-311S
  • 3 Dieppe P, Chard J, Tallon D, Egger M. Funding clinical research.  Lancet. 1999;  353 1626
  • 4 Resch K-L. Pragmatic randomised controlled trials for complex therapies.  Forsch Komplementärmed. 1998;  5, Suppl 1 136-139
  • 5 Schwartz F W, Bitzer E M, Dörning H, Grobe T G, Krauth C, Schlaud M, Schmidt T, Zielke M. Gutachten. Gesundheitsausgaben für chronische Krankheiten in Deutschland - Krankheitskostenlast und Reduktionspotentiale durch verhaltensbezogene Risikomodifikation. Lengerich u. a.; Pabst Science Publishers 1999
  • 6 Nachemson A, Jonsson E. Back Pain - A Scientific Enigma in the New Millennium.  Phys Med Rehab Kuror. 2001;  11 2-8

Prof. Dr. med. Karl-Ludwig Resch

Forschungsinstitut für Balneologie und Kurortwissenschaft Bad Elster

Lindenstraße 5

08645 Bad Elster

    >