Psychiatr Prax 2001; 28(7): 335-336
DOI: 10.1055/s-2001-17784
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Kommentar
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Patientensuizide in einer psychiatrischen Klinik: Eine Nachfrage

Patient Suicides in a Psychiatric Hospital: An InquiryAsmus Finzen1 , Ulrike Hoffmann-Richter2
  • 1Psychiatrische Universitätsklinik Basel, Schweiz
  • 2SUVA, Luzern, Schweiz
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Publication Date:
15 October 2001 (online)

Hübner-Liebermann et al. [1] legen in ihrem Beitrag folgende Zahlen zum Suizid psychisch Kranker während der Behandlung im psychiatrischen Krankenhaus vor. Sie haben ihre Ergebnisse gewonnen, indem sie die Basisdokumentation (BADO) über 39 372 Handlungsepisoden ausgewertet haben während derer sich 30 Suizide ereigneten. Herausgekommen ist eine außerordentlich niedrige Suizidrate [2] [3]. Sie haben außerdem gefunden, dass die Diagnose Schizophrenie mit einer Odds Ratio von über acht deutlich überrepräsentiert ist, dass andere Diagnosen einschließlich der affektiven Psychose sehr viel niedriger sind - in absoluten wie in relativen Zahlen. Nur die Suizidrate bei paranoiden Syndromen, die quantitativ aber relativ gering vertreten sind, liegt höher. Sie verweisen aufgrund der Basisdokumentation gleich auf Anteile von Suizidversuchen in der Vorgeschichte (43 %) die im Vergleich zu anderen Untersuchungen [4] erstaunen. Am überraschendsten allerdings bleibt die niedrige Suizidrate bei Patienten und Patientinnen mit affektiven Psychosen, zumal dort nicht mit kleinen Zahlen operiert wird. Vielmehr machen die affektiven Psychosen nach den schizophrenen Psychosen den zweitgrößten Anteil unter den Patientendiagnosen aus [5].

Die vorgelegten Daten geben nicht Anlass, an der Solidität der Untersuchung zu zweifeln. Sie bieten allerdings Anlass, die Frage zu stellen, ob die Basisdokumentation mit Registrierung von Daten bei der Aufnahme und bei der Entlassung ein taugliches Instrument für die wissenschaftliche Untersuchung von Suiziden darstellt, die sich in der Klinik bzw. während der Behandlung in der Klinik ereignen. Für diese Zweifel gibt es gute Gründe. Untersuchungen, die sich nicht auf die Basisdokumentation stützen, sondern auf die sorgfältige Auswirkung von Krankengeschichten und Untersuchungen, die sich auf die direkte Befragung von Patienten stützen, finden eine wesentlich höhere Rate von Suizidversuchen in der Vorgeschichte von allen Patientinnen und Patienten als die Regensburger Untersuchung bei den Suizidenten finden; sie finden aber eine drastisch höhere Suizidversuchsrate in der Vorgeschichte von Patienten, die sich das Leben genommen haben, nämlich bis zu 80 % [5]. Ähnliches gilt für die Suizidrate von Kranken mit affektiven Psychosen. Hier stellt sich die Frage, wie breit das Erfassungsinstrument BADO depressive Störungen als affektive Psychosen erfasst. In unseren Untersuchungen beispielsweise [5] liegt der Anteil der Patientinnen und Patienten mit affektiven Psychosen, die sich das Leben genommen haben gegenüber einer Kontrollgruppe viermal so hoch wie der Anteil derjenigen, die schizophrene Psychosen erlitten haben.

Es kann gut sein, dass wir es hier immer noch mit Schwankungen zu tun haben, die auf das Problem der kleinen Zahl zurückzuführen sind. In der Regensburger Untersuchung wurden 30 Suizide in 10 Jahren erfasst, in unseren Untersuchungen blicken wir inzwischen auf 100 Suizide in 23 Jahren zurück. Dennoch sollten Daten, die aus Basisdokumentationen, die allgemeinen statistischen Zwecken dienen, gewonnen werden, mit größter Zurückhaltung betrachtet werden. Die Suizidforschung, insbesondere die Erforschung des Suizides von psychiatrischen Patienten während der Behandlung, verlangt subtilere und tiefer greifende Methoden. Dazu gehört die gründliche Analyse jedes einzelnen Krankenblattes eines Patienten oder einer Patientin die sich das Leben genommen haben und angesichts der kleinen Zahlen ist dies möglich. Sie verlangt die semiprospektive Untersuchung: die gründliche Datensicherung unmittelbar nach dem Suizidgeschehen. Sie verlangt heute im Grunde auch eine Kontrollgruppe, obwohl dies bei einem Phänomen, wie dem Suizid psychisch Kranker nach der Behandlung, während der Behandlung problematisch bleibt. Auf jeden Fall aber können die Patientinnen und Patienten, die in der Basisdokumentation erfasst sind und sich nicht das Leben genommen haben, nicht als Kontrollgruppe herhalten. Es ist zu befürchten, dass bei beiden Gruppierungen die Erfassung der Daten eher an der Oberfläche verharrt. Dennoch sind auch solche Untersuchungen wichtig. Sie sollten aber weitere Aspekte berücksichtigen [6] [7] [8] [9] wie sie in den letzen Jahren von einer reichhaltigen Suizidliteratur bearbeitet wurden.

Literatur

  • 1 Hübner-Liebermann B. et al . Patientensuizide in einer psychiatrischen Klinik.  Psychiat Prax. 2001;  28 329-333
  • 2 Finzen A, Hoffmann-Richter U, Oesterreich C. Sind Suizide im psychiatrischen Krankenhaus wirklich häufiger geworden.  Psychiat Prax. 1999;  26 303-304
  • 3 Wolfersdorf M, Keller-Ferdinand A G. „Suizidalität und psychiatrisches Krankenhaus”. Patientensuizide während stationärer psychiatrischer Therapie.  Psychiat Prax. 2000;  27 277-281
  • 4 Brendebach S M. Suizidversuche, Suizidgefährdung, Suizidgedanken. Eine Untersuchung über 200 nacheinander aufgenommene Patientinnen und Patienten der allgemeinpsychiatrischen Abteilungen der Universitätsklinik Basel. Basel; Dissertation 2001
  • 5 Hügli N J. Suizid in Wunstorf, 100 aufeinander folgende Suizide während der Behandlung in einem psychiatrischen Versorgungskrankenhaus. Basel; Dissertation 2001
  • 6 Steinberg H. Der „Werther-Effekt”.  Psychiat Prax. 1999;  26 37-42
  • 7 Frühwald S. et al . Gefangenensuizide: Hinweise zur Abschätzung der Suizidgefahr.  Psychiat Prax. 2000;  27 195-200
  • 8 Hummel P. et al . Suizidversuche durch männliche und weibliche Jugendliche im Vergleich.  Psychiat Prax. 2000;  27 14-18
  • 9 Wurst F M. et al . Substanzabhängigkeit und Suizid im stationären Rahmen.  Psychiat Prax. 2000;  27 11-13

Prof. Dr. Asmus Finzen

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