PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(3): 313-314
DOI: 10.1055/s-2003-41842
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kommentar zu Broda/Senf: Denkanstöße für eine Veränderung der psychotherapeutischen Praxis (PiD 4, 2003, 100 - 101)

Klaus  Lieberz
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
03. September 2003 (online)

Mit den vorliegenden Denkanstößen mahnen die Autoren Veränderungen insbesondere in der Gestaltung der Psychotherapie-Richtlinien an. Diese Vorschläge bedürfen aus meiner Sicht eines Kommentars.

Es ist sehr wichtig, sich Gedanken über Veränderungen der Rahmenbedingungen zu machen, unter denen wir unsere psychotherapeutische Arbeit vollziehen. Insbesondere ist den Autoren zuzustimmen, wenn sie eine Angleichung mit den neuen klinischen und forscherischen Erkenntnissen fordern. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass solche Veränderungen keineswegs allein wissenschaftlicher Erkenntnis bedürfen, sondern vor allem auch eines politischen Konsenses.

Den Autoren ist in mehrerer Hinsicht zuzustimmen. Die Entwicklung der Psychotherapie hat in Deutschland einen enormen Aufschwung erfahren, sie ist ohne Frage ein beispielloses Erfolgsmodell. Dies nicht zuletzt allerdings auch aufgrund der klaren Bestimmungen in Verbindung mit einer auskömmlichen existenziellen Absicherung für die Leistungsanbieter.

Leider gehen die Vorschläge und Anregungen der Autoren etwas durcheinander. Die Einleitung des Beitrags weist darauf hin, dass im Mittelpunkt des Interesses der Autoren die Psychotherapie-Richtlinien stehen. Wesentliche Anregungen beziehen sich dann aber gar nicht auf die Richtlinien, sondern betreffen vielmehr Abrechnungsfragen. So sind z. B. kürzere Therapiezeiten und Änderungen in der Frequenz für bestimmte Patientengruppen, wie die Autoren selber darstellen, auch nach den derzeit geltenden Psychotherapie-Richtlinien heute schon möglich. Abgestellt wird insofern auf Veränderungen der Abrechnungsmodalitäten, was direkt nichts mit den Richtlinien zu tun hat. Zuzustimmen ist den Autoren hinsichtlich der Schaffung von Anreizen für Verkürzung der Dauer von Behandlung und - so möchte ich hinzufügen - Veränderungen der Abrechnungsmodalitäten für bestimmte Patientengruppen, um deren Behandlung zu fördern (schwer Kranke, Multimorbide etc.). Hier sind aber nicht die Richtlinien zu verändern, sondern ggf. wiederum Anreize über das Abrechnungssystem zu schaffen.

Erstaunlicherweise finden sich keine Vorschläge bei den Autoren z. B. zur Herausnahme bestimmter Patientengruppen aus der Richtlinien-Psychotherapie. Ich denke hier z. B. an Patienten mit PTSD oder auch an Patienten mit schweren körperlichen Erkrankungen, bei denen die Unterstützung der Krankheitsbewältigung eindeutig im Vordergrund steht und für deren Behandlung außerhalb der Richtlinien-Psychotherapie andere Versorgungs- und Abrechnungsmöglichkeiten geschaffen werden sollten.

Die Vorschläge der Autoren zur Veränderung der Bewilligungsschritte sind eher marginaler Natur, derartige Vorschläge sind immer wieder diskutiert und auch umgesetzt worden, ohne dass damit wesentliche Verbesserungen oder Verschlechterungen in der Versorgung verbunden gewesen sind.

Was bleibt ist denn auch der eigentliche Kernpunkt des Anliegens der Autoren, nämlich eine Veränderung der Richtlinien in Richtung Auflösung der sog. „Schulengebundenheit” und des Kombinationsverbots von Verfahren. Als Beispiel werden die Essstörungen genannt. Es ist zweifellos richtig, dass die positiven Erfahrungen aus dem stationären Bereich mit derartigen Kombinationen zu bedenken sind. Es ist aber fraglich, ob diese Erfahrungen ohne weiteres auf den ambulanten Bereich zu übertragen sind. Für eine erfolgversprechende Transferierung stationärer Behandlungskonzepte in den ambulanten Bereich bedürfte es jedenfalls weit mehr als einer Änderung der Psychotherapie-Richtlinien.

Zum anderen kann es nicht im Sinne klarer Rahmenbedingungen liegen, wenn man nun - unabhängig von theoretischen Schwerpunktsetzungen und daraus abgeleiteten Verfahren - den allgemeinen „Wildwuchs” oder Eklektizismus befördert, nur weil man annimmt, dass es ohnehin so gemacht wird. Abgestufte Behandlungspläne und Zusammenarbeit verschiedener Therapeuten unterschiedlicher Schwerpunkte könnten hier wahrscheinlich mehr bewirken als das Motto: Alles ist erlaubt.

Was ich vermisse, ist ein Hinweis auf die (eher bescheidene) wissenschaftliche Datenlage, die die Basis für solche Veränderungen abgeben könnte. Welche Kombinationen in welcher Form sind denn nachgewiesenermaßen im ambulanten Bereich einem einseitig „schulenorientierten” Vorgehen überlegen? Wo sind die Untersuchungen zur Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit analytischer Psychotherapie bei schweren körperlichen Erkrankungen (z. B. Karzinomen)? Sind hier wirklich nachhaltige Verbesserungen zu belegen - und sei es nur der Lebensqualität -, die mit weniger aufwändigen Verfahren nicht zu erreichen wären? Wo sind die Untersuchungen zur Differenzialindikation für verschiedene Therapieverfahren oder ihre Kombination?

Da derartige Untersuchungen - wie wir alle wissen - außerordentlich schwer zu realisieren sind und entsprechende Ergebnisse so schnell nicht zu erwarten sind, schiene mir vorerst der von Rüger gemachte Vorschlag der Einordnung einzelner Vorgehensweisen in einen „Gesamtbehandlungplan” mit klarer Schwerpunktsetzung oder Grundkonzeption sinnvoll und konsensfähig zu sein.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis der Autoren auf gleichartige Bewilligungsschritte im verhaltenstherapeutischen und im tiefenpsychologisch/analytischen Bereich. Dies führt nun gerade nicht zu einer Kombinationsbehandlung, sondern fördert eher die Tendenz, dass der Patient mit dem behandelt wird, was der jeweilige Therapeut anzubieten hat. Da wo Differenzierung geboten ist, wird aus meiner Sicht „Gleichmacherei” aus politischen Gründen (der Gleichbehandlung verschiedener Therapieansätze) gefordert. Dies führt zu einem undurchschaubaren Mischmasch therapeutischer Praxis, in der jeder macht, was er will. Die Beförderung von Willkür kann aber jedenfalls nicht im Interesse von gesetzlichen Vorschriften liegen. Was fehlt, ist eine für politische Entscheidungen notwendige und hinreichende wissenschaftliche Datenlage zu den z. B. oben aufgeworfenen Fragestellungen ambulanter Psychotherapie, sonst reklamiert jeder für sich alles und wir bewegen uns gerade wieder im politischen Feld, welches die Autoren doch gerne vermeiden möchten.

Der Ärger über das Gutachterverfahren ist auch bei den sicher wünschenswerten und in Diskussion befindlichen Veränderungen nicht völlig aus der Welt zu schaffen. Zum einen liegt das daran, dass die Kassen für die Qualitätssicherung und damit auch für das Schreiben der Anträge nicht genügend Mittel bereitstellen (und zudem keine Anstrengungen zur Modernisierung der Abläufe erkennen lassen). Dieser Ärger führt dann immer wieder zu einer Verquickung mit inhaltlichen Fragen. Zum anderen wird es immer Psychotherapeuten geben, die diese Art weitsichtiger Qualitätssicherung als Eingriff in ihre Autonomie und als Kontrolle erleben und deshalb dagegen aufbegehren. Bedauerlich ist jedenfalls, dass bisher keine Daten zum Verlauf und Outcome in Verbindung mit der Richtlinien-Psychotherapie gesammelt worden sind, denn damit läge natürlich ein weltweit einmaliger Datenpool vor, der dazu beitragen könnte, viele der heute offenen Fragen zu beantworten.

Zusammenfassend lässt sich zu den Anregungen von Broda und Senf also sagen, dass zunächst einmal starker Forschungsbedarf besteht und dass vor „Schnellschüssen” zu warnen ist. Diese führen (im Zusammenwirken mit anderen Interessen) leicht dazu, dass ein international beispielhaftes und erfolgreiches Qualitätssicherungsmodell untergraben wird und Regelungen dieser Art überhaupt überflüssig werden. Die Überlegungen der Autoren gehen sicher in eine bedenkenswerte Richtung, sie scheinen aber noch zu wenig bedacht und begründet.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Klaus Lieberz

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI)

J 5

68159 Mannheim

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