PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(3): 217-218
DOI: 10.1055/s-2003-41851
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zwangserkrankungen

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Publication Date:
03 September 2003 (online)

Zu erkennen, dass das eigene Verhalten unsinnig ist, und gleichwohl Urheber und Zeuge eben dieses Verhaltens sein zu müssen, ohne darauf verändernd Einfluss nehmen zu können, kann ebenso quälend wie beschämend sein. In dieser Lage sieht sich der Zwangskranke: Wider alle Vernunft muss er noch ein zwölftes Mal kontrollieren, ob der Wasserhahn auch wirklich zugedreht ist, muss sich immer wieder die Hände waschen, obwohl seine Haut vom Gebrauch von Desinfektionsmitteln bereits erheblich angegriffen ist, und die obszönen und aggressiven Gedanken und Vorstellungen drängen sich auf, obwohl sie seinen Überzeugungen und Wertvorstellungen diametral entgegengesetzt sind. Der Zwangskranke ist nicht Herr seines Handelns und seines Denkens, sondern hat im Gegenteil das Gefühl, dass er von seinen Handlungen und Gedanken beherrscht wird.

Zwänge sind ubiquitär. Sie kommen bei Gesunden ebenso wie bei Kranken vor, sie können im Verlauf einer normalen psychosozialen Entwicklung ebenso auftreten wie im Zuge gestörter Entwicklungsverläufe, es gibt sie bei Kindern und Jugendlichen ebenso wie im höheren Lebensalter, sie manifestieren sich als isolierte Störungen ebenso wie in Verbindung mit anderen Krankheiten, insbesondere bei schizophrenen Psychosen und bei schweren depressiven Erkrankungen, aber auch bei hirnorganischen Erkrankungen wie postenzephalitischen Zuständen, Anfallsleiden oder degenerativen Erkrankungen.

Die Hoffnung, aus der Verbindung von Zwangsphänomenen mit hirnorganischen Beeinträchtigungen Erkenntnisse zur Ätiologie von Zwangserkrankungen gewinnen zu können, hat sich ebenso wenig erfüllt, wie sich bislang die Hoffnung erfüllt hat, dass im Zuge der neobiologistischen Wende der Psychiatrie gewonnene neurobiologische Befunde relevante Einblicke in die Ätiologie von Zwangserkrankungen vermitteln würden. Auch wenn inzwischen eine Vielzahl von neurobiologischen Befunden zu Zwangsstörungen vorliegt, spricht bislang nichts dafür, dass damit auch deren Ursachen oder auch nur Teilursachen identifiziert seien. Hier wird von neurobiologischer Seite nicht immer klar differenziert, dass die Darstellung neurobiologischer Äquivalente psychischer Phänomene weder etwas über deren Bedeutung noch über deren Ursprung aussagt. Tatsächlich ist die Frage, ob Zwänge eine „Bedeutung” haben oder nicht, aus neurobiologischer Sicht gar nicht zu beantworten. Der Umstand, dass Phänomene eine organische Grundlage haben, heißt nicht, dass sie nichts bedeuten. Darüber hinaus ist Bedeutung nicht gleichzusetzen mit Ursache.

Die Phänomenologie von Zwangsstörungen und die Konflikte - weniger psychodynamisch ausgedrückt: die Probleme -, in deren Kontext sie auftreten, werden seit jeher gleich beschrieben. Auch Psychotherapeuten, die psychoanalytischen und psychodynamischen Auffassungen zurückhaltend gegenüber stehen mögen, werden die klassischen Krankengeschichten von Sigmund Freud über den Rattenmann und den Wolfsmann mit Gewinn lesen - und sei es auch nur wegen ihrer unbezweifelbaren literarischen Qualität. Dort fehlt nichts, was auch heute noch zur Phänomenologie von Zwangsstörungen gerechnet wird, auch wenn in neueren Therapierichtungen manchmal neue Begriffe für seit jeher beschriebene Phänomene verwendet werden: Wird beispielsweise die Gleichsetzung von Gedanken und Handlungen, die für Patienten mit Zwangsstörungen so große Bedeutung hat, „thought-action-fusion” o. ä. genannt, ist damit noch keine neue Erkenntnis gewonnen.

Zwang verbindet sich mit Unterwerfung und Ohnmacht, mit Unfreiheit und Unterdrückung, aber auch mit Rebellion und Revolte, Macht und Hass, Schuld und Verantwortung. Und es sind diese Qualitäten, die auch das Erleben von Patienten mit einer Zwangsstörung bestimmen. Und so wie Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und Rebellion nicht nur individuelle Qualitäten des Erlebens bezeichnen, verweisen Zwangsphänomene immer auch auf gesellschaftliche Verhältnisse. Auch Wiederholung und Ritualisierung, wie sie in übersteigerter Form in der Zwangsstörung zum Ausdruck kommen, sind nicht nur pathologisch, sondern erfüllen wichtige gesellschaftliche Funktionen. Wiederholungen kennzeichnen Traditionen, sie vermitteln Orientierung und gewährleisten Sicherheit; rituelle Handlungen sichern soziale Ordnung und Integration, und aus der Sicht mancher Kritiker leiden moderne Gesellschaften gerade an einem Mangel an ritueller Ordnung und damit an einem Mangel an Möglichkeiten für ihre Mitglieder, sich stabil zu orientieren. Wir hatten geplant, auch die gesellschaftliche Funktion von Phänomenen, die in Verbindung mit Zwängen eine Rolle spielen, in diesem Heft darzustellen. Unsere intensiven Bemühungen, mit einem Vertreter einer Institution ein Interview zu führen, zu deren Aufgaben die Sicherstellung gesellschaftlicher Ordnung gehört, waren leider ebenso vergeblich wie der Versuch, mit dem Kassierer einer Bank oder Sparkasse zu sprechen, bei dessen Tätigkeit das Zählen und wiederholte Zählen zum Zweck von Kontrolle eine wichtige Rolle spielen.

Seit jeher gelten Zwangsstörungen als schwer behandelbar. Es hat Versuche gegeben, schwere Zwangsstörungen mit gehirnchirurgischen Eingriffen zu beseitigen. Neuerdings werden Diskussionen in dieser Richtung wieder aktualisiert. Vieles spricht jedoch dafür, dass die Möglichkeiten, Zwangsstörungen psychotherapeutisch zu behandeln, längst nicht ausgereizt sind. Schon heute können sich psychotherapeutische Behandlungsergebnisse sehen lassen. Unser Wissen darüber, welche Behandlungsverfahren und welche Therapiekombinationen bei welchen Patienten mit welchen Zwangsstörungen Erfolg versprechend sind, sind zwar beträchtlich, bedürfen jedoch der beharrlichen Erweiterung und Vertiefung.

Wir hoffen, dass das vorliegende Heft unsere Leserinnen und Leser dazu anregen kann, ihre Beschäftigung mit der Therapie von Patienten mit Zwangsstörungen zu vertiefen bzw. sich für diese in vieler Hinsicht noch geheimnisvolle Erkrankung zu interessieren. Und wir hoffen auch, dass Sie nach der Lektüre mit uns der Meinung sind, dass es viele gute Gründe gibt, unser Wissen und unsere Erfahrungen mit psychotherapeutischen Behandlungen dieser Patienten über die Grenzen der verschiedenen Therapierichtungen hinaus auszutauschen, um bestehende therapeutische Mittel und Möglichkeiten zum Wohl dieser von ihren Beeinträchtigungen oft schwer gequälten Patienten zu erweitern.

Ulrich Streeck
Michael Broda

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