intensiv 2004; 12(6): 300-301
DOI: 10.1055/s-2004-813570
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Köberich S. Darf man einen Patienten gegen seinen Willen mobilisieren? Intensiv 2004; 12: 134 - 138

Further Information

Publication History

Publication Date:
09 November 2004 (online)

Der Autor greift in seinen ethischen Überlegungen ein tatsächlich alltägliches, fast allgegenwärtiges Problemfeld praktischer Intensivpflege auf mit einer seltenen, aber wichtigen Fragestellung. In der Entscheidungszuspitzung kann die beschriebene Dilemmasituation auch modellhaft auf andere ähnlich ge­lagerte Situationen übertragen werden.

Umso elementarer erscheint mir eine präzise, nachvollziehbare und sachliche ethische Betrachtung solcher Dilemmata, wie sie z. B. Kliesch et al. im Sinne einer hierarchisierenden Werteanalyse in dieser Zeitschrift 2001 vorgestellt haben [1]. Letztlich spitzt sich auch die von Köberich beschriebene Situation auf die Werteabwägung von Wohl und Wille, also von Lebenserhaltung und Autonomie zu.

Mir hat sich nicht erschlossen, warum der Autor in seiner Entscheidungsfindung gegen die Autonomie der Patientin, aber zum Wohl ihrer Gesundheit und mit einem eher diffusen Respekt vor einem wage beschriebenen Lebenswillen votiert. Diese Entscheidung scheint mir eine expertokratische, fremdbestimmende und paternalistische Handlungsalternative aufzuzeigen, für deren Rechtfertigung es in der Pflegeliteratur - mit Abstrichen allenfalls bei D. Orem - wenig Rückhalt gibt.

Das Selbstbestimmungsrecht und die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde stellen m. E. den höchsten Wert in einer Wertehierarchie da, sogar wenn damit mutmaßlich unvernünftige Entscheidungen getroffen werden. Die verfassungsmäßige Wertordnung und die Rechtsprechung, insbesondere auch zu Gesundheitsfragen wie Einwilli­gungsanforderungen und Aufklärungspflichten, aber auch die abendländisch-christliche Tradition unserer Gesellschaft lassen keinen anderen Schluss zu.

Hofmann kommt in einem ganz anderen inhaltlichen Zusammenhang zu einem ähnlichen Ergebnis: „... wird deutlich, wie es durch Tabuisierung peinlicher Gefühle zu ethisch und rechtlich nicht rechtfertigbarer Gewaltanwendung kommt. Hier wird die Selbstbestimmung der Patientin, ihre Autonomie, in unzulässiger Weise beschnitten” [2].

Eine Priorisierung anderer Werte kommt nur in Betracht, wenn eine eindeutige Willensidentifikation nicht gelingt. Dieses ist allerdings in der intensivmedizinischen Wirklichkeit häufig anzutreffen, wird allerdings in Köberichs Bericht explizit ausgeschlossen.

Dann aber bedürfte es der sorgfältigen Abwägung weiterer Aspekte im Hinblick auf den mutmaßlichen Willen und anderer ethischer Werte wie Fürsorgepflicht des Fachpersonals, Nichtschadensprinzip bis hin zu wirtschaftlichen Überlegungen.

Zum Schluss hat mich noch eine ganz praktische Überlegung beschäftigt: Wie gelingt eigentlich eine Mobilisation gegen den Willen und u. U. gegen den Widerstand eines Menschen? Das stelle ich mir zumindest kraftaufwändig vor. Interessant ist auch die Frage, wie man mit eventuellen Komplikationen aus der Mobilisation umgeht, wie sie ja nicht selten passieren, sei es der Verlust sog. Life-lines, Verletzungen o. Ä.

Trotz allem gestehe ich aber zu, dass es auch in meinem pflegerischen Alltag zu Grenzüberschreitungen kommt. Mir scheint es aber wesentlich, diese auch so zu benennen und allenfalls als Ausnahme zuzulassen. Eine konstruierte Rechtfertigung von Übergriffen in die menschliche Selbstbestimmung wird den Menschen nicht gerecht und verändert unsere berufliche Identität. Darüber tröstet auch der Hinweis auf die ethischen Prinzipien des ICN nicht hinweg.

Dieser Artikel hat also viele Anregungen zum Nachdenken für mich bereitgehalten und für Diskussion gesorgt, die vielleicht auf diesen Seiten noch eine Fortsetzung findet.

Literatur

  • 1 Kliesch S, Markmeyer I, Pope M. et al . Schließlich wird den wenigsten ein Tod ohne Sterben zuteil! - Ethische Reflexion und Entscheidungsfindung eines intensivpflegerischen Fallbeispiels.  Intensiv. 2001;  9 176-182
  • 2 Hofmann I. Konstitutive Grenzüberschreitung im Pflegealltag - eine Refle­xion über den Zusammenhang zwischen unvermeidbarer Grenzüberschreitung einerseits und Autonomieverletzung andererseits.  Intensiv. 2001;  9 254

Martin Pope

Fachkrankenpfleger für innere Medizin und Intensivpflege Klinikum Osnabrück

Bruchdamm 37

49084 Osnabrück

Email: m.pope@osnanet.de

    >