PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(2): 128-135
DOI: 10.1055/s-2004-834765
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„Ich glaube nicht, dass eine Richtung einen Wahrheitsanspruch stellen kann!”

Klaus  Grawe im Gespräch mit Steffen  Fliegel
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Publication Date:
23 May 2005 (online)

Steffen Fliegel: Herzlichen Dank, Herr Grawe, dass Sie sich am Sonntagnachmittag, allerdings mit einem wunderbaren Blick über die Altstadt von Zürich, Zeit für dieses Interview genommen haben. „Realitäten und Notwendigkeiten für Übergänge in der Psychotherapie” soll das Thema unseres Gespräches sein. Wie sieht aus Ihrer Sicht die heutige psychotherapeutische Landschaft aus?

Klaus Grawe: Zum einen muss man sagen, dass wir eine wirklich beeindruckende Entwicklung hinter uns haben. Wir haben ein sehr großes Arsenal an therapeutischen Möglichkeiten und von daher ist, auch im Vergleich zu anderen medizinischen Verfahren, die Wirksamkeit von Psychotherapie insgesamt sehr positiv zu sehen.

Auf der anderen Seite kann man auch wieder nicht zufrieden sein. Das Nebeneinander dieser vielen Möglichkeiten ist bisher nicht zufrieden stellend geregelt. Ich sehe einen großen Integrationsbedarf und es ist eine noch offene Frage, wie die Psychotherapie am besten weiterentwickelt werden kann.

Machen wir es so, wie wir es in der Psychotherapie ja auch machen würden, bleiben wir zunächst einmal bei den positiven Aspekten, bei den Ressourcen. Was sind aus der Sicht Ihrer Forschungsergebnisse die wirkenden Faktoren in der Psychotherapie?

Grundsätzlich muss man sagen, dass Psychotherapie immer anknüpft an das, was die Patientin oder der Patient mitbringen. Sozusagen von außen schieben können wir nicht. Wir können nur das Vorhandene als Motor oder Vehikel nutzen, um zu verändern. D. h., wir knüpfen grundsätzlich an den motivationalen Bereitschaften an, an den positiven Möglichkeiten, die ein Mensch mitbringt. Und deswegen muss unser Vorgehen auch darauf zugeschnitten sein, dieses positive Potenzial zu aktivieren. Auf der anderen Seite muss in der Psychotherapie natürlich das, was problematisch ist, behandelt werden. Ich denke, die Kunst der Psychotherapie besteht darin, beides gleichzeitig zu machen: das Vehikel, das den Patienten nach vorne bringt, immer wieder zu aktivieren, und auf der anderen Seite das Schmerzhafte, das Problematische in diesem Kontext zu behandeln.

Um die Ressourcen zu aktivieren, die ja vielleicht blockiert oder verschüttet sind, und um die Symptome zu behandeln, legen Sie ja großen Wert auf die Gestaltung einer guten therapeutischen Beziehung.

Auf der problematischen Seite würde ich nicht nur die Symptome nennen, sondern auch problematische motivationale Tendenzen, die Patienten und Patientinnen immer wieder in Schwierigkeiten bringen, auch problematische, interpersonale Muster usw., also nicht nur die Symptome. Aber Sie haben Recht, die Therapiebeziehung ist natürlich zunächst einmal das zentrale Mittel, die wichtigste Möglichkeit, um das positive Potenzial des Patienten zu aktivieren. Und nach meiner Meinung schlummert ein solches bis zu einem gewissen Grad in jedem Menschen. Und unter geeigneten zwischenmenschlichen Bedingungen, die Vertrauen und Sicherheit schaffen, kann einiges von diesem Potenzial aktiviert werden. Dann ist klar: Wir haben es ganz überwiegend mit Menschen zu tun, die eben aufgrund ihrer Lebensgeschichte nicht so leicht Vertrauen schenken können, die sich nicht so leicht anvertrauen, führen und anleiten lassen können.

Heißt das, die therapeutische Beziehung auch aktiv zu gestalten?

Ja, denn die Therapiebeziehung ist gleichzeitig auch das Feld, in dem die Ängste, die Menschen in ihren wichtigen Beziehungen im Laufe ihres Lebens erworben haben, aktiviert werden. Insofern ist die Therapiebeziehung etwas Zweiseitiges: Einerseits ist sie das zentrale Mittel, um das positive Potenzial zu aktivieren. Auf der anderen Seite können sich, gerade bei Menschen, die früh und schwer in ihren Grundbedürfnissen verletzt worden sind, diese Probleme auch in der Therapiebeziehung manifestieren und zu einem Risiko für den Therapiefortschritt werden. Deshalb glaube ich, dass eine reflektierte Gestaltung der Therapiebeziehung den Kern jeder Therapieausbildung darstellen sollte.

Sie haben eben die Lebensgeschichte des Patienten angesprochen. Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht die Biografie für die Entstehung psychischer Störungen?

Psychische Störungen entstehen nicht aus heiterem Himmel. Wenn man die ätiologische Forschung ernst nimmt, dann ist es bei fast allen schwerwiegenden psychischen Störungen so, dass man ganz gravierende frühkindliche Verletzungen des Bindungs- oder des Kontrollbedürfnisses findet. Das heißt, dass diese Menschen in ihren wichtigsten Bindungsbeziehungen Erfahrungen gemacht haben, die sie verletzt haben, wo sie versucht haben, sich zu schützen, ohne dass es ihnen gelungen ist. Sie haben Kontrollverlust-Erfahrungen gemacht. Nach dem neuesten Stand der Forschung entwickeln sich in den allerersten Lebensjahren auch noch die neuronalen Strukturen weiter. Das heißt, bei vielen Menschen mit psychischen Störungen hat sich früh in ihrer Lebensgeschichte durch Verletzungen ihr Nervensystem in eine ungünstige Richtung entwickelt. Zum Beispiel haben sie eine schlechte Fähigkeit, wenn starke negative Emotionen aktiviert werden, diese wieder herunterzuregulieren.

Was kann ich mir unter „Verletzung des Bindungsbedürfnisses” konkret vorstellen?

Das reicht von ganz schweren Verletzungen, also starkem physischem oder sexuellem Missbrauch, über Vernachlässigungen, bis hin zu Beziehungsunfähigkeiten, die Eltern vielleicht aufgrund ihrer eigenen Bindungserfahrungen mitbringen. Dieser Bereich ist sehr groß. Er umfasst auch Familien, von denen man sagen würde, das sind jetzt ganz geordnete Beziehungen, Eltern, die sich sehr bemüht haben um ihre Kinder, die aber, weil sie selber als Kinder das nicht so mitbekommen haben oder in Lebenssituationen waren, wo das erschwert worden ist, ihren Kindern nicht eine ganz sichere Bindung geben konnten. Dann gibt es eben leider zu einem nicht unerheblichen Prozentsatz auch Kinder, die wirklich schlimm verletzt werden. Die Belege dafür häufen sich auf zu einer immer klareren Evidenz, dass, wer immer so ungünstige Erfahrungen gemacht hat, nur wenig Chance hat, psychisch gesund zu sein.

Wenn ich das noch einmal für mich zusammenfasse, was Sie gerade ausgeführt haben: die Symptomorientierung in der Therapie, die Bedeutung der therapeutischen Beziehung, die Notwendigkeit einer Ressourcenaktivierung, die frühkindliche Entwicklung als potenzieller Motor für die Entwicklung psychischer Störungen, dann fallen mir dazu Basiskonzepte unterschiedlicher Therapieansätze ein. Welche Wurzeln psychotherapeutischer Ansätze - wir führen das Interview ja für eine Zeitschrift mit den Untertiteln „Psychoanalyse, Systemische Therapie, Verhaltenstherapie und Humanistische Therapien” - würden Sie denn in Ihrem Ansatz vertreten oder wieder finden?

Eigentlich alle. Was ich über die Bedeutung der frühkindlichen Erfahrungen gesagt habe, hat die Psychoanalyse ja ganz stark in den Mittelpunkt gestellt, und auf einer abstrakten Ebene bestätigen die Forschungsergebnisse das sehr. Wenn auch das spezifische psychoanalytische Entwicklungsmodell von der Forschung nur wenig unterstützt wird, haben frühe Lebenserfahrungen in den wichtigsten Beziehungen sich als sehr bedeutsam für die spätere psychische Gesundheit erwiesen. Bestätigt wird übrigens auch, dass die allermeisten psychischen Prozesse ohne Bewusstsein ablaufen. Allerdings konzipiert man jetzt das Unbewusste wesentlich anders, als es ursprünglich in der Psychoanalyse konzipiert wurde. In 100 Jahren wird sich das sicherlich noch einmal sehr verändert haben.

Und andere therapeutische Ansätze …

Wenn wir die anderen Begriffe nehmen, die Sie eben erwähnt haben: Die Ressourcenorientierung finden wir in der Hypnotherapie und in der Systemtherapie. Das ist auch im Ansatz von Rogers relativ stark, das Positive, der Glaube an das positive Entwicklungspotenzial des Menschen. Die Symptomorientierung ist natürlich in der Verhaltenstherapie vorhanden, das Ernstnehmen der Symptomatik, der Eigendynamik der Symptomatik. Ich sehe all das schon verwirklicht. Aber jeder dieser Ansätze hat das natürlich noch umkleidet mit einem großen theoretischen Überbau. Und diese Überbauten sind manchmal nicht kompatibel miteinander. Und das behindert, dass all diese Dinge, die ja zweifellos wichtig sind für die Psychotherapie, zusammenwachsen können.

Wir sollten gleich darüber sprechen, welche Konsequenzen Ihr Modell für eine psychotherapeutische Versorgung der Zukunft hat. Ich würde gerne zunächst noch einmal auf das Thema „Bahnung psychischer Störungen” zurückkommen. Diese Bahnung muss sich ja an irgendeiner Stelle des menschlichen Körpers niederschlagen. Ihr neues Buch heißt „Neuropsychotherapie”. [1] Darin kommt dem Gehirn und neuronalen Prozessen eine ganz große Bedeutung sowohl für die Entwicklung psychischer Störungen, für die Manifestierung psychischer Störungen als auch für Veränderungen durch Psychotherapie zu.

Grundsätzlich muss man nach dem Stand der Neurowissenschaft sagen, dass jede kleinste innere Regung an ein spezifisches neuronales Erregungsmuster gebunden ist. Das bedeutet nicht, dass wir unser subjektives Erleben und alle psychischen Phänomene etwa reduzieren können auf neuronale Prozesse. Aber sie haben strikt ihre Voraussetzungen in neuronalen Prozessen. Es kommt dann natürlich eine neue Ebene hinzu, die Ebene des subjektiven Erlebens. Die Dinge, mit denen sich Kunsthistoriker beschäftigen, die werden wir schlecht auf neuronaler Ebene abhandeln können. Also wir haben das, was in der Systemtheorie als Emergenz bezeichnet wird. Alle Dinge, mit denen wir in der Psychotherapie zu tun haben, insbesondere auch psychische Störungen, sind in neuronalen Erregungsmustern begründet, die mit der Zeit gebahnt wurden. An ihnen sind jeweils ganz bestimmte Gehirnregionen beteiligt. Darüber wissen wir allmählich immer mehr.

Welche Rolle spielen dabei die Gene?

Wir wissen, dass die einen Menschen wegen ihres genetischen Potenzials ein höheres Risiko für die Entwicklung ganz bestimmter Störungen haben, andere haben ein geringeres. Es braucht aber immer ganz konkrete Lebenseinflüsse, die zur Bahnung der Störungen führen. Deswegen kann man die Existenz oder die Entwicklung einer Störung nicht trennen vom Gehirn, das die Störung hervorbringt. In dem Moment, in dem die Störung entsteht, ist das Gehirn des Menschen in einer Verfassung, die die Entstehung möglich macht. Deswegen sollte man sich nicht nur mit dem Resultat, der Störung, beschäftigen, sondern auch mit dem, was dieses Resultat hervorgebracht hat. Wenn wir uns nur mit den aufrechterhaltenden Bedingungen psychischer Störungen beschäftigen, wie es ja vorwiegend die Verhaltenstherapie tut, dann werden wir nicht der Tatsache gerecht, dass die Störung in ihrer Entstehung einen Kontext gehabt hat, nämlich den Zustand des Gehirns, der die Störung ermöglicht hat, und dieser Zustand des Gehirns repräsentiert gleichzeitig einen Lebenskontext. Unser Gehirn ist ja spezialisiert auf die Verarbeitung von sensorischen Erfahrungen, der Zustand des Gehirns ist daher der Niederschlag von Lebenserfahrungen.

Der Zustand des Gehirns und Lebenskontext sind also eng verbunden miteinander?

Ja, wenn ich sage, psychische Störungen sind in einem Kontext entstanden, in dem das Gehirn sich in einem Zustand befand, dass es die Entwicklung der Störung möglich machte, dann meine ich gleichzeitig einen Lebenskontext. Denn das Gehirn ist immer verbunden mit dem konkreten Leben.

Welche Rolle kommt denn zukünftig noch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu, wenn wir uns jetzt so stark mit der neuronalen Ebene psychischer Störungen beschäftigen sollen?

Zuallererst könnte man denken, dass, wenn man psychische Störungen unter neuronalem Gesichtspunkt betrachtet, das zu einer biologischen Perspektive führt, zur Beeinflussung durch Psychopharmaka oder durch andere biologische Möglichkeiten.

Man könnte sogar an stereotaktische Eingriffe denken.

Ja. Das ist aber nur sehr eingeschränkt die Schlussfolgerung, die die Neurowissenschaftler selbst daraus ziehen. Denn im nächsten Schritt, nachdem man zunächst die Bedeutung des Neurotransmitterstoffwechsels für psychische Störungen entdeckt hatte, wurde die enorme Plastizität des Gehirns bemerkt. Plastizität bedeutet, dass neuronale Strukturen auch im Erwachsenenalter noch erstaunlich veränderbar sind, zum Guten und zum Schlechten.

Jetzt kommen die von Ihnen beschriebenen Annäherungs- und Vermeidungszentren ins Spiel.

Genau. Neuronale Plastizität bedeutet u. a., dass das Gehirn bis ins Erwachsenenalter Störungen ausbilden kann. Auf der anderen Seite bedeutet Plastizität, dass die Gehirnstrukturen auch im Erwachsenenalter in positive Richtung verändert werden können. Deswegen findet man heute am Ende vieler neurowissenschaftlicher Bücher Überlegungen, wie denn das geschehen könnte. Da kommen die Neurowissenschaftler dann auf die Psychotherapie. Es braucht aus neurowissenschaftlicher Perspektive Spezialisten, die dafür sorgen, dass das Gehirn der Patientin oder des Patienten Zustrom bekommt, sensorischen Zustrom durch gezielte Herbeiführung konkreter Lebenserfahrungen, die eine heilsame Wirkung ausüben. Ohne diese Lebenserfahrungen kann sich das Gehirn nicht dauerhaft verändern. Durch Vergabe von Psychopharmaka bilden sich keine neuen Gedächtnisinhalte, weil sie keine neuen neuronalen Bereitschaften ausbilden. Das muss durch konkrete Lebenserfahrungen geschehen. Wir werden vielleicht mit der Zeit durch Psychopharmaka das Gehirn ganz gezielt für einen bestimmten Zeitraum lernbereiter machen können. Aber dann ist es natürlich ganz besonders wichtig, wie das Gehirn in diesem sensibel gemachten Zustand beeinflusst wird. Dafür wird es immer Spezialisten brauchen und das sind vor allem Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

Dann sollten wir also nicht mehr von Löschung, zum Beispiel bei Angstreaktionen, reden, sondern eher von Hemmung?

Bekannte Hirnforscher vertreten ganz explizit die Auffassung, dass es keine Löschung von Angstreaktionen gibt, sondern dass die Bereitschaft zu einer spezifischen Angstreaktion in bestimmten Hirnregionen dauerhaft gespeichert bleibt, auch wenn der Patient keine Angst mehr erlebt, nicht mehr physiologisch mit Angst reagiert und auch nicht mehr vermeidet. In einer erfolgreichen Angsttherapie wird die Angst nicht gelöscht, sondern die Weiterleitung der Erregung gehemmt. Durch die Therapie muss ein neuronaler Kontext geschaffen werden, der eine so starke Hemmung auf die Weiterleitung der Angstsignale auf weitere Hirnstrukturen ausübt, dass die Entwicklung der Angstreaktion sozusagen im Ansatz blockiert wird. Wirksame Behandlung von Ängsten ist aus neurowissenschaftlicher Sicht also keine Löschung von Ängsten, sondern ist in Wirklichkeit eine Hemmung und das bedeutet, dass man sich dem hemmenden Kontext zuwenden muss.

Daraus könnte ich ja auch schlussfolgern, dass bei Patientinnen und Patienten, die mal eine psychische Problematik wie eine Angst, eine Zwangssymptomatik, eine depressive Symptomatik in der Psychotherapie gut bewältigen konnten, eine schwierige Lebenslage dazu führen kann, dass dieser Hemmungsmechanismus im Gehirn eben nicht mehr so gut funktioniert und sie wieder in ähnliche problematische Strukturen hineinkommen.

Ja, diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn das Gehirn durch die schwierige Lebenslage in einen Vermeidungsmodus gebracht wird. Es gibt einen neuen Begriff, der sich in der Psychologie in den letzten Jahren entwickelt hat, den des motivationalen Priming. Das heißt, dass das Gehirn durch bestimmte Erfahrungen vorgebahnt wird in einen Annäherungsmodus oder einen Vermeidungsmodus. Wenn man sich Schwierigkeiten in einem Annäherungsmodus stellt, zum Beispiel in Rollenspielen oder bei Konfrontationen mit der Realität, dann hat das eine ganz andere Wirkung, als wenn der Vermeidungsmodus vorgebahnt wäre. Dafür ist es so wichtig, dass eine Vertrauen gebende Therapiebeziehung besteht, durch die sich der Patient mit aktivierten Ressourcen, d. h. in einem auf Annäherung ausgerichteten Kontext, den Schwierigkeiten stellen kann.

Heißt das, wir müssen uns vor zu raschen Therapieerfolgen hüten?

Es ist auf neurowissenschaftlicher Ebene gezeigt worden, dass eine gehemmte Angstreaktion voll wieder aufflammen kann unter Stressbedingungen. Und Stress ist ja nicht nur etwas, was von außen kommt, sondern was man mit seinen motivationalen Tendenzen selber mit herstellt. Wenn man in eine schwierige Lebenssituation kommt, dann können die zuletzt gebahnten hemmenden Strukturen zu schwach sein in diesem Moment und das alte, viel besser Gebahnte kann dann wieder dominanter werden. Da muss man nicht von Symptomverschiebung sprechen. Man muss sich klar machen, was immer einmal im Gehirn sehr gut gebahnt war, bleibt als Bereitschaft vorhanden und wird allenfalls durch neu Gelerntes überlagert. Und in diesem Fall bedeutet das Überlagern das Hemmen.

Hemmung hört sich ja nun nicht gerade nach Therapiefortschritt oder Erfolg an.

Hemmung spielt in unseren psychischen und neuronalen Prozessen eine ganz große Rolle. Und Hemmung hat hier keinen negativen Beigeschmack, sondern ist etwas sehr Positives. Gebahnte Probleme, besonders negative Emotionen, müssen durch etwas, was neu gelernt wird, gehemmt werden. Wenn es dann tatsächlich einmal zu einem Wiederauftauchen von Symptomen kommt, dann wäre es das Beste, das, was geschwächt wurde, das Hemmende, schnell wieder stärker zu machen.

Konfrontationsverfahren bringen ja oft ganz schnelle Erfolge für Patienten und auch unsere ambulante psychotherapeutische Versorgung in Deutschland geht in einer Kurzzeittherapie von 25 Sitzungen aus. Auch stationäre Aufenthalte werden immer kürzer, Psychotherapien sind kaum mehr in längerem Umfang möglich. Widerspricht nicht dieses Setting einer Psychotherapie, die diese doch im Regelfall sehr langsam und intensiv gebahnten Prozesse beeinflussen könnte? Müsste es nicht auch heißen, dass einerseits die Therapie sehr transparent für die Patienten sein muss, damit sie frühzeitig solche sich auflösenden Hemmungen auch erkennen könnten? Und müsste es nicht andererseits heißen, dass wir mit den Patienten und Patientinnen immer in Wiederholungen der therapeutischen Schritte eintreten müssten?

Ja, Sie haben vollkommen Recht. Bahnung braucht intensives Wiederholen. Es muss insbesondere auch unter den realen schwierigen Lebensbedingungen immer wiederholt werden. Wenn man eine sehr intensive Therapie macht, dann muss man Sorge dafür tragen, dass das, was in dieser kurzen Zeit massiv gebahnt wurde, dann auch später unter schwierigen, belastenden Lebensbedingungen gut genug hält. Das heißt, die Bahnung muss auch unter einem neuen stressvollen Kontext fortgeführt werden. Das spricht sehr dagegen, Therapien plötzlich abzubrechen, wenn ein erster durchaus beachtlicher Erfolg erkennbar ist.

Was würde das zum Beispiel für die Behandlung von Depressionen bedeuten?

Wenn wir Depressionen als Beispiel nehmen, dann ist es so, dass viele depressive Patientinnen und Patienten innerhalb von drei Monaten weitgehend symptomfrei sein können. Aber wir haben bei 60 - 80 % innerhalb von zwei Jahren einen Rückfall. D. h. bei Depressionen würde ich es geradezu als einen Kunstfehler betrachten, die Therapie abzubrechen, sobald der Patient nicht mehr depressiv ist. Das Risiko, wieder depressiv zu werden, ist wegen der gebahnten depressiven Netzwerke unter belastenden Bedingungen sehr groß. Erst wenn der Patient unter den belastenden Bedingungen das, was er neu in der Therapie gelernt hat, immer wieder einüben kann, entsteht ein wirksamer Schutz vor Rückfällen. Einüben ist dabei vielleicht ein Begriff, der missverstanden werden kann. Ich meine damit, dass der Patient das, was er gelernt hat, immer wieder unter stresshaften Bedingungen anwenden muss, damit es dann auch hält. Bei Depressionen ist die enge Begrenzung der Therapiedauer auf den Zeitpunkt, an dem der Patient symptomfrei ist, aus Forschersicht überhaupt nicht aufrechtzuerhalten.

Das heißt, man könnte mit einer kurzen intensiven Therapiephase beginnen, die durchaus zu Symptomreduzierung oder auch Symptomfreiheit führen kann. Dann sollte sich aber eine Therapiephase anschließen, in der nicht in jeder Woche eine Sitzung stattfinden muss, sondern vielleicht eine Sitzung in einem oder zwei Monaten, um unter zunehmend mehr Belastungen neue Lebenserfahrungen zu machen, also die neuen Erfahrungen in den Alltag, in den Beruf, in die Beziehung wieder zu integrieren und letztlich auch zu mehr Lebensqualität zu kommen. Für mich hört sich das so an, dass vor allem den psychotherapeutischen Verfahren Vorrang zu geben wäre, die übend, erlebnisaktivierend und emotionsstärkend sind. Wie würden Sie da die Verbindung sehen zu den eher verbalen Therapiemethoden?

Wenn wir von Bahnung sprechen, dann liegt die Gefahr eines Missverständnisses nahe, wenn darunter nur das verstanden wird, was wir mit „üben” benennen. Es sind natürlich auch neue Gedanken. Also wenn man einen Gedanken das allererste Mal denkt, eine neue Erkenntnis hat und so weiter, die immer wieder gebahnt werden müssen, bis sie zu einem festen Teil des Repertoires geworden sind. Alles neu Gedachte und Gefühlte muss immer wieder auf neue Lebenssituationen bezogen werden. Das wäre in etwa das, was die Psychoanalytiker als „Durcharbeiten” bezeichnet haben. Dazu gehören die Gefühle genauso wie die Gedanken.

Und wenn ich von „immer wiederholen” spreche, heißt das nicht einfach, wie etwa bei den verhaltenstherapeutischen Expositionstherapien, immer wieder Straßenbahn zu fahren. Sondern es bedeutet, immer wieder dann, wenn die relevanten Probleme auftauchen, das neu Gelernte ganz bewusst durchzugehen, es auszuüben und dadurch zu kräftigen.

Patient und Patientin wollen ja nicht einfach ihre Angst oder ihre Zwänge loswerden, sie wollen letztlich zufriedener leben, mehr Lebensqualität haben, sich wohler fühlen. Die Symptomreduzierung ist sicherlich ein wichtiger Beitrag auf diesem Weg, aber wenn sie vorhin von den Problemen in der Bedürfnisbefriedigung, den diesbezüglichen Defiziten, den Störungen, den Missbräuchen geredet haben, könnte es ja auch andere Wege geben, die eben an der Bedürfnisbefriedigung der Patienten ansetzen und ihnen helfen, dieses oberste Ziel, mehr Lebensqualität zu erreichen, auch zu schaffen.

Das würde ich genauso sehen. Wir können die in der Psychotherapie und in der Klinischen Psychologie sehr bekannten Stressbewältigungsmodelle gut darauf anwenden. Je öfter zum Beispiel ein Panikanfall stattgefunden hat, desto besser ist er gebahnt. Er ist im Gehirn gewissermaßen ein eigenes neuronales Erregungsmuster geworden, welches von immer mehr verschiedenen Punkten aus getriggert werden kann. Das müssen nicht die Aspekte der ursprünglichen Entstehungsbedingungen sein.

Und welche Rolle spielen die Stressbewältigungsmodelle?

Es wurden einerseits Techniken entwickelt, um die alten Muster zu durchbrechen bzw. zu überschreiben mit neuen neuronalen Erregungsmustern. Aber in aller Regel sind der Lebensstress oder der psychische Stress, der zur Herausbildung der Störung geführt hat, nicht einfach verschwunden. Nach meinem konsistenztheoretischen Denkmodell entstehen psychische Störungen in Lebenssituationen, in denen die Grundbedürfnisse eines Menschen in schwerwiegender Weise verletzt, frustriert oder blockiert werden. Wenn das über zu lange Zeit anhält, dann entstehen psychische Störungen als Kontrollversuche über eine Situation, in der zu wenig Kontrolle vorhanden ist. D. h. man müsste, wenn man einen dauerhaften Therapieerfolg herbeiführen will, auch dieser Komponente Rechnung tragen.

Jetzt bin ich auf Ihr Behandlungskonzept gespannt.

Ich bezeichne das als Inkonsistenzbehandlung, als eine Verbesserung der Bedürfnisbefriedigung. Man muss sich fragen: Was hat denn diesen Menschen so verletzlich gemacht, dass es zu dieser schlechten Bedürfnisbefriedigungssituation gekommen ist, die man auch als Stress bezeichnen könnte. Das kann z. B. eine schlechte Emotions- und Stressregulation sein, also eine Bereitschaft, auf Belastung sehr leicht und schnell mit negativen Emotionen zu reagieren, verbunden mit der Schwierigkeit, sie wieder herunterzuregulieren. Wenn wir in diesem Modell denken, dann hätten wir also drei Komponenten, auf die sich die Psychotherapie ausrichten sollte:

die Symptomatik mit ihrer Eigendynamik, die unmittelbaren Entstehungsbedingungen der Symptomatik, also der Inkonsistenz erzeugende Lebenskontext, in dem sich die Störungen entwickelt haben. wenn wir noch weiter zurückgehen in der Lebensgeschichte: die Verletzlichkeiten, die unsicheren Bindungsmuster, schlechte Emotionsregulation, schlechte Kontroll- oder Kompetenzerwartungen. Auch da können wir ansetzen, um einen Behandlungserfolg langfristig stabiler zu machen.

Meine Auffassung ist: Wenn wir alles drei machen, dann werden wir wirksamer sein, als wenn wir nur eines machen. Alle drei Aspekte werden bisher in keiner einzigen Therapierichtung verwirklicht. Deswegen glaube ich, dass irgendeine Form von Integration oder Zusammenwachsen der verschiedenen Möglichkeiten in der Psychotherapie die Zukunft sein muss.

Lassen Sie uns gleich noch einmal zu einem solchen optimalen psychotherapeutischen Modell kommen. Vorher bewegt mich aber noch eine andere Frage. Patienten mit lang andauernden psychischen Störungen sind ja eigentlich Experten für ihre Störungen, d. h. die psychische Störung hat das Leben erobert, das Alltagsleben wird um die Störung herumgebaut. Viele soziale Kontakte sind gestört, ihre Beziehungen und ihre Arbeit sind gefährdet. Das heißt, die Störung hat Oberhand im Leben und schützt möglicherweise vor sehr belastenden Defiziten, Verlusten, Krisen und Konflikten, - was offenkundig würde, wenn das Symptomatische behandelt würde. Die psychische Störung hat eine wichtige - motivationale - Funktion im Leben des Patienten bekommen. Wie würde denn dieser Gedanke des „dahinter liegenden” Defizits in Ihr Behandlungskonzept passen? Würde das nicht genau dafür sprechen, dass ich mich als Therapeut eben nicht nur auf die symptomatische Ebene konzentriere, sondern alle Bereiche in die Psychotherapie einbeziehe, die der Stärkung der Bedürfnisbefriedigung der Patienten dienen, sodass er auf verschiedenen Ebenen positive Aspekte in seinem Leben vorfindet, die ihm es dann leichter machen, die Störung loszulassen?

Letztlich ist das für mich eine empirische Frage. Es wird wahrscheinlich Störungen geben, zum Beispiel spezifische Phobien o. ä., wo das nicht nötig ist, wo die Probleme weitgehend verschwunden sind, wenn die Symptomatik behandelt ist, und vielleicht auch in sehr kurzer Zeit. Aber bei einer Depression ist das höchst unwahrscheinlich. Depressive haben angefangen, sich vor Verletzungen zu schützen und generalisiert zu vermeiden. Bei Depressiven sehe ich gar keine andere Möglichkeit, als das zu machen, was Sie eben gesagt haben. Auch bei Menschen mit generalisierter Angststörung oder ähnlich komplexen Störungen zeigen neueste Ergebnisse der Therapieforschung, dass, wenn man zusätzlich zu der Symptombehandlung auch interpersonal-klärungsorientierte Therapie macht, beides zusammen wirksamer ist als Symptomtherapie alleine. Je länger wir Erfahrung haben mit den rein symptombezogenen Interventionen, umso mehr sehen wir ja, dass diese Interventionen bei einem Teil der Patienten gut wirken. Aber der Anteil, bei denen diese Interventionen alleine nicht ausreichend wirken, liegt, wenn wir auch die Patienten einbeziehen, die sich gar nicht einlassen auf eine solche Therapie oder die die Therapie vorzeitig abbrechen, bei den komplexeren Störungen deutlich über 50 %.

Sie sprechen gerade ein anderes wichtiges Thema an, die Therapieabbrecher.

Die Psychotherapieforschung vermittelt uns geschönte Bilder durch die eindrucksvollen Effektstärken. Die Effektstärken werden nur für die Patienten berechnet, die die Behandlung beendet haben. Aber nach allen Informationen nehmen 25 % im Durchschnitt die ihnen angebotene Behandlung gar nicht an. Wir haben gerade eine Metaanalyse gemacht: Die Abbruchraten liegen im Durchschnitt bei 37 %. Das wird meistens nicht mitgeteilt. Die Therapeuten schämen sich der Abbrüche, d. h. es gibt eine Dunkelziffer. Aber wenn wir die 25 %, die die Behandlung von vornherein ablehnen, und die 37 %, die sie abbrechen, und dann noch die 25 % Misserfolge, die auch bei den besten Therapien immer noch resultieren, zusammenrechnen, dann sieht das Bild gar nicht rosig aus. Es ist also noch viel, viel Entwicklungsspielraum da und auch eine dringende Notwendigkeit, dass Psychotherapie besser wird.

Lassen Sie uns jetzt zum Thema „Übergänge” oder „Grenzgänge” kommen. Ich gehe davon aus, Sie würden ein Konzept des Weiterlernens oder der Weiterentwicklung und nicht der Neuentwicklung propagieren. Es gibt vieles Bewährte in der psychotherapeutischen Landschaft, Wurzeln aus den herkömmlichen Verfahren, die weiter Bestand haben sollten, die weiter in einem modernen psychotherapeutischen Konzept Platz finden sollten. Welche Aspekte der bewährten und bekannten psychotherapeutischen Verfahren würden Sie mitnehmen in ein modernes psychotherapeutisches Behandlungskonzept?

Was ich auf jeden Fall ungeschmälert hinübernehmen wollte, ist das volle Arsenal von Techniken, von Interventionen, also all die vielen Vorgehensweisen, die sich bewährt haben. Denn das ist der Schatz, mit dem wir arbeiten. Da sind viel Erfindungsreichtum und viel Erfahrungswissen eingegangen. All das ist ursprünglich auf einer bestimmten theoretischen Grundlage entwickelt worden. Diese theoretischen Grundlagen, glaube ich, werden eines Tages losgelassen werden müssen. Natürlich meine ich damit nicht, dass sie einfach in den Mülleimer der Geschichte geworfen werden, sondern von diesen theoretischen Ansätzen sind ja sehr wertvolle Perspektiven herausgearbeitet worden. Zum Beispiel dass Konflikte eine sehr große Rolle spielen, die motivationale Perspektive, die lebensgeschichtliche Perspektive, die Ressourcenperspektive, die Beziehungsperspektive, die Störungsperspektive. Genau diese Perspektiven sollten, nein müssen in der Zukunft eine zentrale Rolle spielen. Die bisherige Verfasstheit der Therapieschulen trennt leider das, was eigentlich von allen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gemeinsam genutzt werden sollte. In meinen Augen sollte jeder Therapeut in der Lage sein, diese Perspektiven einzunehmen und zu schauen: Ist das relevant für meinen Fall? Nicht jede Perspektive wird in jedem Fall relevant sein. Aber wenigstens sollte der Fall auch unter dieser Perspektive betrachtet werden, damit sie nicht ausgeblendet wird.

Das würde bedeuten, dass das, was herausgearbeitet wurde in der Geschichte der Psychotherapie, irgendwie kompatibel miteinander gemacht werden müsste.

Ja, ich spreche von Perspektiven, die durchaus vereinbar miteinander sind. Die müssten auf einer neuen theoretischen Grundlage, die zu entwickeln wäre, zusammengeführt werden.

Also noch mal ganz konkret: Was gehört aus Ihrer Sicht in der Zukunft in den psychotherapeutischen Koffer hinein, der möglichst optimal die Bedürfnisse des Patienten für eine Veränderung seiner psychischen Problematik berücksichtigen kann?

Ich denke dabei an fünf Perspektiven:

Die Störungsperspektive ist in meinen Augen unverzichtbar, weil das als Therapieziel gewissermaßen gesellschaftlich vorgegeben ist und auch die Forschung der letzten Jahre in diesem Bereich enorme Differenziertheit erreicht hat und wir viele nachweislich wirksame störungsbezogene Interventionen haben. Diese Möglichkeiten sollte jeder Therapeut beherrschen. Ebenso unverzichtbar ist die Beziehungsperspektive. Damit meine ich einerseits die Therapiebeziehung, auf der anderen Seite aber auch Einbettung des Patienten in sein interpersonales Umfeld. Da kommt z. B. das zum Tragen, was die Systemtherapie entwickelt hat. Die ganzen interpersonalen Ansätze haben sehr viel dazu beigetragen. Die Beziehungsperspektive ist, wenn man alles zusammennimmt, wahrscheinlich ebenso umfangreich ausgearbeitet wie die Störungsperspektive. Dann ist nach dem Ergebnisstand der Therapieforschung von ganz großer Wichtigkeit die Ressourcenperspektive, d. h. dass man den Menschen nicht nur unter dem Gesichtspunkt seiner Probleme betrachtet, sondern unter dem Gesichtspunkt seiner positiven Ressourcen, sowohl unter dem Aspekt dessen, was er kann, als auch dessen, was er gerne möchte, wozu er motivational bereit ist oder nicht bereit ist. Dann käme die entwicklungsgeschichtliche Perspektive. Das ist ja für viele Patienten auch ein wichtiger Selbstzweck, der Wunsch, sich besser verstehen zu lernen: Wie ist es dazu gekommen? Es ist ein großes Bedürfnis der Menschen, sich orientieren zu können, um zu wissen: Was ist mit mir los, was kann ich tun? Die Entwicklungsperspektive ist aber auch empirisch sehr erhärtet. Die Grundlagen von psychischen Störungen im frühen Lebensalter gehören zum Wissen, das jeder Therapeut in seiner Praxis berücksichtigen sollte. Dazu käme die motivationale Perspektive. Wozu ist der Patient bereit, in welcher Phase, wenn wir an die Phasenmodelle der Psychotherapie denken, in welchem Stadium der Veränderung steht er mit seiner Motivation? Dann aber auch unter dem Gesichtspunkt der Konflikthaftigkeit im psychischen Geschehen, der motivationalen Konsistenz. Da kämen dann all die klärungsorientierten Ansätze ins Spiel. Die Frage nach dem Warum ist auch eine Frage, die viele Patienten als dringendes Anliegen in die Therapie mitbringen und der Therapeuten allein schon deshalb Raum geben sollten.

Diese Perspektiven halte ich für unverzichtbar. Sie sind heute empirisch und theoretisch so gut begründet, dass eine Therapieausbildung, die eine diese Perspektiven unterschlägt oder nicht aktiv in ihr ausbildet, nicht den Anspruch erheben kann, eine wirklich empirisch begründete Therapieausbildung zu sein.

Bei dieser Aufzählung der verschiedenen Perspektiven bzw. ihrem Zusammenspiel dürften sich nicht alle unsere fachkundigen Leserinnen und Leser wieder finden. Die heutige Situation ist ja dadurch geprägt, dass im Regelfall eine Ausbildung in einem Therapieverfahren durchlaufen wurde und dann mit mehr oder weniger Freiheitsgraden Öffnungen erfolgt sind, Orientierungen, was andere Therapieansätze zur Ergänzung des eigenen therapeutischen Handelns beitragen können. Wie würden Sie das denn für die zukünftige Generation sehen? Brauchen wir denn noch die herkömmlichen psychotherapeutischen Verfahren als Standbein der Perspektive der Öffnung?

Also in einer kurzfristigen Perspektive werden wir sie brauchen. Gerade die Leserinnen und Leser Ihrer Zeitschrift sind ja ein sehr gutes Beispiel dafür, dass sehr viele Psychotherapeuten dann, nachdem sie eine solide Erstausbildung erfahren haben, das Gefühl haben: Ich sollte mich noch weiter umtun, ich sollte mich noch vervollkommnen. Und das ist ja ein möglicher Weg, sich von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus zu erweitern und aufeinander zu zu bewegen.

Und das Ausbildungsmodell für die Zukunft?

Für die weitere Zukunft denke ich, wäre es doch eigentlich vernünftiger, man würde von Anfang an Therapeuten in all diesen Perspektiven solide ausbilden. Da wären dann viele Elemente der einzelnen therapeutischen Ansätze drin, nicht nur die tiefenpsychologischen und die verhaltenstherapeutischen. Die verschiedenen Therapieansätze würden sich in diesen Perspektiven eingekleidet wieder finden, aber in einem umfassenderen Kontext. Wir haben in Bern und in Zürich in den letzten Jahren angefangen, Therapeuten konsequent von Anfang an so auszubilden. Die sollen auch ein solides Standbein haben, aber das soll nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Das ist die Mitgift, die sie für die Zukunft mitkriegen, nicht ein spezielles Verfahren, sondern fünf Perspektiven. Aber ich gehe davon aus, dass sich das zur Zukunft hin erweitert. Sie sind nicht endgültig ausgebildet und werden auch weiterhin über den Tellerrand hinausschauen müssen. Gerade, wenn ich an die Bedeutung der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse denke, die auf uns zukommen werden in den nächsten 20 Jahren. Die Psychotherapie wird davon nicht unberührt bleiben. Nie ist das letzte Wort gesprochen. Und ob es immer bei diesen fünf Perspektiven bleiben muss, die ich eben aufgezählt habe, das ist natürlich auch dahingestellt.

Das wäre ja dann auch ein Plädoyer dafür, nachdem wir gerade unseren PiD-Untertitel um die Humanistischen Therapieverfahren erweitert haben, irgendwann dazu zu kommen, diesen Untertitel ganz wegzulassen?

Ja das ist meine Auffassung.

Ein Psychotherapieforscher wie Sie, der so viele Meilensteine auf dem Weg der Psychotherapieentwicklung gelegt hat, hat auch eine persönliche Entwicklung. Darf ich Sie am Ende unseres spannenden Interviews danach fragen, wie Ihr anfänglicher psychotherapeutischer Standpunkt war und welche Überlegungen und Erfahrungen Sie zu den Übergängen verleitet haben, die ja Ihr heutiges Forscherleben prägen?

Wenn ich ganz zurückdenke, war ich noch vor Beginn des Studiums der Psychologie fasziniert von Freuds Schriften. Ich habe, glaube ich, fast alles gelesen, was Freud geschrieben hat, noch vor meinem ersten Semester und in das erste Semester hinein. Während ich so in den Statistikvorlesungen saß und die Methodenausbildung in Psychologie machte, kam mir immer wieder die Frage, die ich mir beim Lesen der Freud-Bücher schon stellte: Woher weiß der das eigentlich? Woher weiß der, dass das richtig ist? Ich habe damals nicht daran gezweifelt, ich war fasziniert davon. Aber diese Frage hat mich eigentlich nie losgelassen. Auch bei den Ansätzen, die ich dann später kennen gelernt habe, habe ich, auch wenn sie mich persönlich sehr angesprochen haben, mich immer wieder gefragt: Ist das eigentlich wirklich so?

Wofür die viele Studenten quälende Statistik im Psychologie-Studium doch gut sein kann …

Mich hat in der Psychologie dieser methodische Aspekt sehr angesprochen. Ich habe das wie eine Art von Befreiung erlebt. Man könnte auch sagen, Aufklärung. Dass man an nichts glauben muss, dass man alles bezweifeln kann. Dieses Zusammenspiel habe ich immer außerordentlich faszinierend gefunden. Einerseits sich anregen zu lassen und auf der anderen Seite die Freiheit zu haben, nicht daran zu glauben, sondern zu prüfen, ob es wirklich so ist. So war es mehr oder weniger zufällig, was ich als erstes kennen gelernt habe.

Mit welcher Therapierichtung haben Sie sich dann ausführlicher beschäftigt?

Ich habe im Studium mit einer Gesprächspsychotherapieausbildung angefangen, weil es das gab. Als ich in der Psychiatrie arbeitete, habe ich dann den Wunsch verspürt, aktiver etwas für die Patienten zu tun. Da war die Verhaltenstherapie gerade das Richtige. Aber auch an sie habe ich nie „geglaubt” in dem Sinne. Ich habe immer gedacht: Das ist für viele Fälle eine gute Sache. Und ganz früh habe ich schon eine Vergleichsuntersuchung gemacht zwischen Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie. Ich bin nie identifiziert gewesen mit einer Therapierichtung. Aber ich habe viel Gutes gefunden.

Welche Einflüsse gab es noch?

Ich habe später Selbsterfahrung in Gestalttherapie gemacht. Ich habe eine Systemtherapeutin geheiratet und von ihr viele Inputs bekommen. Ich habe eigentlich die Ansätze alle aus persönlicher Erfahrung kennen gelernt. Ich habe zehn Jahre lang mit Psychoanalytikern sehr eng zusammengearbeitet und habe gemerkt, dass da überall etwas wirklich Wichtiges und Wertvolles dran ist. Gleichzeitig war mir immer vollkommen klar, dass das wissenschaftlich gesehen noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist, dass alles noch revisionsbedürftig ist. Das ist keine abschätzige Kritik. Für mich ist grundsätzlich jedes theoretische Gebäude auch dazu da, um bezweifelt zu werden, im Sinne einer Herausforderung, sich dem zu stellen.

Können Sie an etwas glauben?

Ich habe keinen glaubenden, sondern einen wissbegierigen Bezug zur Psychotherapie. Ich verspüre kein Bedürfnis zu glauben. Die Konsistenztheorie, die ich in meinem neuen Buch versucht habe, möglichst gut zu begründen, ist für mich ein nützliches Denkgebäude. Sie kann in meinen Augen heute eine sehr nützliche Funktion erfüllen. Aber ich denke, auch sie sollte nicht ewig existieren, sondern eines Tages durch ein noch besseres Konzept ersetzt werden. Wenn ich mich einmal zu der einen oder anderen Therapierichtung kritisch geäußert habe, beruht das auf einer ganz grundlegenden Einstellung, nämlich darauf, dass ich nicht glaube, dass in einem so frühen Stadium der Entwicklung der Psychotherapie irgendeine Richtung schon einen Wahrheitsanspruch stellen kann. Dass ich dadurch gelegentlich z. B. mit der Psychoanalyse in Konflikt geraten bin, liegt mehr an der dominierenden Stellung, die die Psychoanalyse innehatte, als an ihren Inhalten. Wenn ich keinem einzigen Ansatz einen Wahrheitsanspruch zubillige, dann ist das gegenüber dem, der am deutlichsten einen solchen Wahrheitsanspruch vertritt, natürlich am konfliktträchtigsten. Inhaltlich habe ich keine besondere Gegnerschaft zur Psychoanalyse. Ich sehe durchaus die vielen positiven Anregungen, die auf sie zurückgehen. Ich sehe solche aber auch bei anderen therapeutischen Ansätzen. Fast alle Ansätze haben wirklich etwas Positives beigetragen. Aber alle haben auch wirklich ihre Grenzen. Wenn wir die Grenzen erkannt haben, müssen wir über diese Grenzen sprechen, sonst können wir nicht vorankommen.

Gibt es irgendeine berufliche Erfahrung in Ihrem Leben, die Ihre psychotherapeutische Arbeit besonders geprägt hat?

Besonders hat mich die Zeit geprägt, als ich täglich Gruppentherapien durchführte. Das war die Zeit, in der ich hauptsächlich verhaltenstherapeutisch gearbeitet habe und in der für mich ganz unmittelbar erfahrbar wurde, dass die Ausklammerung der Beziehungsperspektive in der Verhaltenstherapie nicht haltbar ist. Was sich auf der Beziehungsebene abspielte, war als Verstärkungsgeschehen nicht erklärbar. Es war für mich sehr eindrücklich, dass diese aus der klinischen Erfahrung resultierende Sicht durch die Ergebnisse, die ich gleichzeitig in meinen empirischen Therapiestudien gewann, mehr als bestätigt wurde. Das enge Wechselspiel zwischen klinischer Erfahrung und empirischer Forschung hat mich seitdem stetig begleitet. Für mich ist Therapieforschung nie von der klinischen Praxis losgelöst gewesen, sondern hat immer unmittelbar dazu gedient, die Praxis zu verbessern, Neues auszuprobieren und im Hinblick auf seine tatsächliche Wirkung zu prüfen. Die konzeptuellen Weiterentwicklungen, die man in meinen Schriften der letzten drei Jahrzehnte nachverfolgen kann, sind letztlich ein Produkt dieses damals begonnenen Wechselspiels zwischen klinischer Erfahrung und empirischer Forschung einerseits sowie zwischen Neues entwickeln, umsetzen und es empirisch prüfen andererseits. Es ist für mich damals früh zu einer sehr konkreten Erfahrung geworden, dass man durch veränderte Vorgehensweisen veränderte Wirkungen erzielen und so schließlich zu objektiven Verbesserungen gelangen kann. Diese früh gemachte Erfahrung hat meine weitere Entwicklung sehr beeinflusst.

Inwiefern beeinflusst?

Von da an habe ich angefangen, mir einen theoretischen Vers darauf zu machen, dass das Interaktionelle, das Interpersonale eigentlich im Zentrum von Psychotherapie steht. Von da ausgehend hat sich dann mein Denken so entwickelt, dass ich über die Plananalyse und die Schemaanalyse heute bei den Grundbedürfnissen des Menschen gelandet bin. Ich habe niemals Menschen nur von ihren Symptomen her verstehen können oder wollen, sondern bin immer davon ausgegangen, dass der Mensch nur als ein nach etwas Strebender verstanden werden kann. Da bin ich sicher auch beeinflusst von humanistischen Gedanken.

Herr Grawe, das Interview ist für mich ein Plädoyer gegen Monopolansprüche und für die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Disziplinen. Und damit meine ich sowohl die Berufsgruppen, als auch die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Therapieschulen. Ich danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg für Ihre Therapieforschungen und alles Gute für Sie persönlich.

1 Grawe K. Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe, 2004

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