ZFA (Stuttgart) 2005; 81(3): 87-88
DOI: 10.1055/s-2005-836434
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Abgestürzt: Infusionstherapie beim akuten Hörsturz

W. Niebling1 , M. M. Kochen2
  • 1Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Lehrbereich Allgemeinmedizin, Titisee-Neustadt
  • 2Georg-August-Universität, Abteilung Allgemeinmedizin, Göttingen
Further Information

Publication History

Publication Date:
17 March 2005 (online)

„Nach derzeitiger Datenlage gibt es keinen Beleg dafür, dass eine ‚rheologische Infusionstherapie’ beim Hörsturz die Besserung durch Spontanheilung übertrifft.” Diese vernichtende Schlussfolgerung ist die Quintessenz einer systematischen Literaturrecherche von Kollegen aus dem Kölner Institut für evidenzbasierte MedizinÂ’und der KV Hessen, publiziert in der Dezembernummer 2004 des in Berlin erscheinenden „Arzneimittelbrief” (AMB; www.der-arzneimittelbrief.de). Die ZFA hat kaum jemals in ihrer Geschichte Artikel anderer Zeitschriften abdruckt. Die epidemiologische Bedeutung des akuten Hörsturzes und die Qualität des vorliegenden Textes hat uns aber dazu motiviert, eine Ausnahme zu machen, die aufgrund des freundlichen Entgegenkommens der AMB-Herausgeber auch realisiert werden konnte.

Bei dem gewählten Thema stellt sich zunächst die Frage, warum sich Hausärzte mit Behandlungsformen anderer Fachgebiete beschäftigen. Bisher war es doch umgekehrt: Spezialisten unterschiedlicher Couleur (oft diejenigen, die noch nie in ihrem professionellen Leben einen Fuß über die Schwelle einer hausärztlichen Praxis gesetzt haben) sehen es als selbstverständlich an, die Arbeitsweise von Hausärzten zu kritisieren. An einigen Orten dieser Republik sollen auch wesentliche Teile der Fortbildung immer noch so organisiert sein, dass ausschließlich Gebietsärzte ihren primärärztlichen Kollegen erzählen, wie der Hase zu laufen habe.

Die Zeiten haben sich geändert: Die Wiedergeburt der evidenzbasierten Medizin im 20. Jahrhundert ging von Primärärzten und primärztlich tätigen Epidemiologen (z. B. Archibald Cochrane) aus und findet heute Ihren Niederschlag u. a. in der weithin beachteten Leitlinienarbeit der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Hausärzte erleben Patienten mit Hörsturz aber auch in ihrer täglichen Praxis - und kommen bei deren Betreuung regelmäßig in ein Dilemma, das ein Kollege aus Hannover so beschreibt: „Vor 12 Monaten musste ich ein Gutachten anfertigen, bei dem es um die Schadenersatzforderung einer Hörsturz-Patientin an notdiensthabende Hausärzte wegen unterlassener Behandlung ging. Die HNO-Ärzte in Klinik und Praxis hatten der Frau mitgeteilt, dass „der Hörsturz eine Notfall sei und sofort stationär und ambulant durch HNO-Ärzte mit Infusionen versorgt werden” müsse - der Hausarzt aber hatte lediglich die richtige Behandlung eingeleitet, nämlich abzuwarten (Spontanremission ohne Therapie laut Literatur zwischen 50 und 68 %). Ich selbst sehe im Wochenend-Notdienst regelmäßig ein bis zwei betroffene Patienten, bei denen ich Infusionen anlegen soll. Ich bin jedes Mal ambivalent, kläre die Patienten auf, dass dies nicht sinnvoll sei und schicke je nach Fall auch mal jemanden wieder weg - zugegeben, mit einem mulmigen Gefühl”.

Das treffend geschilderte Dilemma weist darauf hin, dass die Wirkungslosigkeit der Infusionstherapie - trotz der Verdienste der AMB-Publikation und unbeschadet der Leitlinienempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde - nicht erst seit Dezember letzten Jahres bekannt ist. Warum aber, fragt man sich, zahlen die Krankenkassen (die eine Vielzahl in evidenzbasierter Medizin ausgebildeter Ärztinnen und Ärzte beschäftigen) immer noch für eine Behandlung, die laut AMB „weder notwendig noch wirtschaftlich” ist und zudem mit teilweise schwerwiegenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen verbunden ist?

Die eigentlich nahe liegende Annahme, dass wissenschaftliche Evidenz alle Krankenkassen dazu veranlassen würde, Vergütungsstrukturen entsprechend anzupassen, trifft leider nicht zu. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Im Januarheft der HNO-Mitteilungen schreibt der Göppinger HNO-Arzt Michael P. Jaumann bedauernd, dass „… in den letzten Wochen und Monaten des letzten Jahres - insbesondere bei den Vertragsverhandlungen mit den Krankenkassen und dem MDK - klar (wurde), dass nicht überall der Inhalt und die Empfehlungen der Leitlinie Hörsturz bekannt sind”. Im Anschluss daran wird der Inhalt dieser Leitlinie kurz beschrieben und festgestellt, dass „trotz vielfältiger und kontroverser Diskussionen … die Therapieprinzipien der Hämodilution … zur Behandlung des Hörsturzes gut belegt” seien und leider „auch der MDK nachhaltig die Wirksamkeit von Infusionen bei Hörstürzen bezweifle”.

Und jetzt kommt der Knaller: „Angesichts der oben geschilderten Situation ist es besonders erfreulich, dass der MEDI-Ärzteverbund Baden-Württemberg, die IKK Baden-Württemberg und der BKK Landesverband Baden-Württemberg zum 15. Dezember 2004 einen neuen Versorgungsvertrag im Rahmen der integrierten Versorgung unterzeichnet haben”. Im Vertragstext werden dann die diagnostischen und therapeutischen Leistungsinhalte für die Versorgung von Hörsturzpatienten aufgezählt: Die Behandlungsindikation wird vom HNO-Arzt gestellt (u. a. mit Ohrmikroskopie, Tonaudiogramm, Vestibularisprüfung, Tympanometrie und ohrakustischen Emissionen, Blutdruck, kleinem Blutbild, „evtl. Fibrinogenspiegel”). Dieser entscheidet auch, ob die Therapie während der ersten drei Tage mit oraler Medikation oder mit Infusionen erfolgt. Danach setzt die „strukturierte Behandlung” mit HNO-Behandlungskomplex I ein (3 Tage mindestens 250 mg Prednisolon täglich, „ggf. zusätzlich Infusionen, z. B. 500 ml HES 6 % pro Tag”). Bei ausbleibender „deutlicher Besserung” folgt dann Behandlungskomplex II mit 7-tägiger Infusionsbehandlung und absteigenden Kortisondosen oral - sechs dieser Behandlungstage erfolgen beim Hausarzt (der den Patienten auch bez. vaskulärer Risikofaktoren untersucht), der Siebte beim HNO-Arzt. Selbstverständlich besteht „jederzeit die Möglichkeit bei besonders schweren Fällen, den Patienten stationär einzuweisen”.

Die ausgehandelten Vergütungen können sich sehen lassen: Der HNO-Arzt erhält für seine Leistungen im Komplex I zwischen 175.- und 280.- € pro Fall und für seinen Anteil am Komplex II nochmals 60.- € (der Hausarzt für Komplex II rund 250.- €). Als Fazit dieses Artikels wird am Schluss dann noch bemerkt, „der Deutsche Berufsverband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte sei sehr erfreut, dass diese seit Jahren uns HNO-Ärzte bedrängende Problematik der angemessenen Hörsturzbehandlung hier eine elegante und zukunftsweisende Lösung gefunden hat”.

Noch Fragen?

Wilhelm Niebling Michael M. Kochen

Prof. Dr. Wilhelm Niebling

Facharzt für Allgemeinmedizin, Lehrbereich Allgemeinmedizin · Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Schwarzwaldstraße 69

79822 Titisee-Neustadt

Email: wniebling@t-online.de

Prof. Dr. Michael M. Kochen,

MPH, FRCGP, Facharzt für Allgemeinmedizin · Abteilung Allgemeinmedizin · Georg-August-Universität

Humboldtallee 38

37073 Göttingen

Email: mkochen@gwdg.de

    >