PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(2): 216-221
DOI: 10.1055/s-2005-866826
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Meine Rolle sehe ich eher als die eines Bühnenarbeiters”

Jonathan  Shay im Gespräch mit Arist  von Schlippe
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Publication Date:
23 May 2005 (online)

Vorbemerkung: Aufmerksam wurde ich auf Dr. Shay durch das Buch „Achill in Vietnam”. Da vieles von dem Ansatz Dr. Shays im Gespräch indirekt auf dieses Buch Bezug nimmt, schicke ich eine Rezension des Buches an dieser Stelle dem Interview voraus. Meines Erachtens sind die Ausführungen Shays nicht nur für einen bestimmten Kulturkreis gültig, vielmehr sind sie mittelbar, über die Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges, mit denen wir in Therapien konfrontiert sind, oder auch unmittelbar, über die Arbeit mit kriegstraumatisierten Menschen aus allen möglichen Ländern, auch bei uns hochaktuell.

Jonathan Shay. Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Hamburg: Hamburger Edition, 1998.

Wenige Bücher haben mich in der letzten Zeit so aufgewühlt wie das von Jonathan Shay. Der Autor, als Psychiater seit Jahrzehnten mit der Therapie von Veteranen des Vietnamkrieges befasst, hat sich intensiv mit der Ilias des Homer auseinander gesetzt und erstaunliche Parallelen zwischen dem Kampf um Troja und dem Vietnamkrieg herausgearbeitet: Achill, einer der griechischen Helden entwickelt sich unter bestimmten Bedingungen zum „Berserker”, der „alles Erbarmen verloren” hat. Gefühllos und ohne Rücksicht vernichtet er den Feind Hektor und schändet seine Leiche. Wie können Menschen aus „gutem Hause” - und die authentischen Veteranengeschichten sind hier voller Beispiele - ihre scheinbar stabile Persönlichkeit verlieren und Dinge tun, in denen sie sich später selbst nicht mehr erkennen? Das Buch zeigt, wie zerbrechlich unsere Identität auch im Erwachsenenalter ist. Die Situation, existenziell total aufeinander angewiesen zu sein, setzt Bedingungen, die frühen familiären Bindungen ähneln. Gleichzeitig wird durch die systematische Erzeugung von Brüchen (dramatische Ungerechtigkeiten, die Unterbrechung von Bindung, die Unterbindung der Trauer über den Tod geliebter Kameraden usw.) ein innerer Zustand erzeugt, der außer rasender Wut nichts mehr übrig lässt. Am Beispiel des Kampftraumas zeigt Shay die Facetten des posttraumatischen Stresssyndroms: den Verlust allen Gefühls außer Zorn, das Ersetzen von Trauer durch Zorn (von Vorgesetzten und Generalität systematisch gefördert) mündet in einer für immer veränderten Persönlichkeit - erschreckend, dass wohl nach dem Krieg doppelt so viele Veteranen durch Suizid umgekommen sind wie durch die Kampfhandlungen. Die Zerstörung zur Fähigkeit an der demokratischen Teilhabe ist eine weitere Facette dieser spezifischen Traumatisierung, denn sie geht mit dem Verlust einher, sich irgendeine Art von Auseinandersetzung vorzustellen, die nicht mit dem Tod für den Verlierer und dem Leben für den Gewinner einhergeht.

Es gibt auch ein Kapitel über Heilung, nicht sehr optimistisch zwar - und das ist richtig: Es darf die Ungeheuerlichkeit des Kriegsgeschehens nicht auf therapierbare individuelle Pathologie reduziert werden. Und doch, so Shays These: Ein Trauma ist zu heilen, aber es braucht sehr viel Zeit und die Bedingung, dass in der Gemeinschaft darüber kommuniziert wird. Es hat ernste Konsequenzen, persönlich und kollektiv, wenn es keine Gelegenheit gibt, über traumatisierende Vorfälle zu sprechen und seine Geschichte zu erzählen. Shay als Psychiater musste dabei lernen, Krankheiten, „Syndrome” wieder zu dekonstruieren: „… unser Bildungssystem (bringt) Berater, Psychiater, Psychologen und Therapeuten hervor, deren ganzes Erleben sich darauf beschränkt, gebildet zu bemerken: ,Das ist ein Kubist! … Das ist ein El Greco!‘, die aber niemals das sehen, worauf sie ihren Blick richten. ,Hören Sie einfach zu‘, sagen die Veteranen, wenn sie Experten für geistige Gesundheit mitteilen wollen, was diese wissen müssen, um mit ihnen arbeiten zu können.” (S. 35)

Mir persönlich ist noch etwas deutlich geworden. Da steht der Satz: „Das Leid eines Soldaten ist nicht zu verstehen, wenn wir die menschlichen Bindungen nicht kennen, die der Kampf fördert und dann zerschneidet.” - Leid des Soldaten? Soldaten sind es doch, die das Leid über die anderen bringen, die „Universal Soldiers”, ohne die, wie Donovan sang, das Töten nicht weitergehen kann! Aus dem Buch habe ich gelernt, den Krieg als System zu begreifen, mit Gesetzmäßigkeiten, die auch die Soldaten entwürdigen und entmenschlichen. Eine Facette davon ist, die Uniformierten von außen nicht als erlebende, fühlende Wesen zu betrachten. So habe ich gelernt, hinter die Uniformen zu sehen - „Was geht mich das an?”, sagte mir eine Kollegin, „Ich arbeite ja nicht mit Menschen mit Kampftraumata - das ist vorbei!” - Vorbei? Abgesehen davon, dass in der Gegenwart täglich neue und lang andauernde Traumata produziert werden[1], haben wir es als Therapeuten oft mit mittelbaren Prozessen zu tun, mit Kindern und Verwandten von kriegstraumatisierten Personen[2], finden sich über Generationen weitergegebene, nicht ausgeheilte Traumatisierungen auch in der Gegenwart noch in den Sprechzimmern. Ich denke, dieses Buch geht TherapeutInnen an und eigentlich jeden. Gerade die einfühlsam gestaltete Verbindung zwischen der klassischen Tragödie und dem modernen Krieg zeigt die weit reichende Bedeutung der dort behandelten Themen. Inzwischen kann ich mich der Aussage Shays anschließen: „Ich hoffe, dass es nicht länger als unauflösbarer Widerspruch erscheint, wenn man den Krieg hasst, aber den Soldaten ehrt.” (S. 279)

Arist von Schlippe: Dr. Shay, Sie haben seit Jahrzehnten mit Personen gearbeitet, die im Vietnamkrieg gekämpft haben. Ihre Erfahrungen haben Sie in zwei Büchern zusammengefasst: „Achill in Vietnam” und „Odysseus in Amerika”. Was sind die Kernpunkte dieser Bücher?

Jonathan Shay: Ein psychologisches Trauma entsteht primär aus der Ökologie gesellschaftlicher Macht heraus. Die Kernfrage ist: Wie wird in einer Gesellschaft Macht benutzt? Menschen können auch durch einen Tsunami traumatisiert werden, aber die besondere Art von Trauma, mit dem ich mich beschäftige, ist eine, die aus sozialen Bedingungen heraus erwächst. Das gilt insbesondere, wenn wir über Traumata sprechen, die im Kontext militärischer Handlungen geschehen. Hier geht es um die Frage, wie sich andere Menschen in Situationen verhalten haben, in denen es um Leben und Tod ging. Wie sie ihre Macht benutzt haben, wie Situationen entstanden sind, die als „tödlicher Verrat” empfunden werden. Eine Kampfsituation in der Gegenwart ist eine besondere Form von Sklaverei und Folter für die beteiligten Soldaten. Und so ist es von enormer Bedeutung zu prüfen, wie ich selbst meine Macht im therapeutischen Setting benutze, das ist eine sehr kritische Frage: Beute ich die Patienten aus für meinen privaten Ehrgeiz, für meinen Gewinn? Sie müssen die Autorität über ihre eigenen Worte behalten.

Was bedeutet das für die Diagnosestellung?

Ich sehe es als meine Verpflichtung an, soweit es in meiner Macht steht, die Erfahrungen der Patienten „frisch” zu hören. Ich versuche nicht, ihre Worte zu nehmen, daraus dann etwas anderes zu machen und sie in Schachteln und Schubladen zu stecken. Ich stehe den diagnostischen Kriterien des DSM sehr kritisch gegenüber, auf die wir als Psychiater trainiert sind: eine Diagnose erstellen und auf der Basis dieser Diagnose dann eine Behandlung auswählen. Der Patient ist völlig passiv in diesem Prozess. Da ein Trauma aus dem Zustand völliger Hilflosigkeit entsteht, wiederholt ein solcher Prozess Elemente des Traumas: Man wird in einer objektivierenden Weise behandelt.

Würden Sie sagen, es geht um die Schaffung einer vertrauensvollen „Person-zu-Person-Beziehung”?

Ich würde es „Partnerschaft der Heilung” nennen. Es gibt noch eine andere Dimension, die ich wichtig finde: Ich sehe mich selbst als Gemeindepsychiater, als Sozialpsychiater und natürlich erfülle ich auch diese Funktionen. Ich stelle etwa Rezepte für Medikamente aus, wenn der Veteran zugestimmt hat, dass er sie nehmen will. Ansonsten sehe ich jedoch meine Rolle eher als die eines „Bühnenarbeiters”: Die eigentliche Arbeit wird von den Leuten der Gemeinschaft durchgeführt, nicht von mir. Ich mache nicht irgendwelche individuelle Psychotherapie, ich arbeite immer mit der Gruppe.

Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, Geschichten aus der Antike mit moderner Psychotherapie zu verbinden?

Als ich vor 17 Jahren begann, mit Menschen mit Kampftraumata zu arbeiten, da brauchte es nicht lange Zeit, bis ich erkannte, dass ich immer wieder eine alte Geschichte hörte: die Geschichte von Achill vor Troja. Er war von seinem eigenen Kriegsherren verraten worden, er hatte sich daher geweigert, an einem Kampf teilzunehmen, in dem dann sein bester Freund Patroklos fiel. Dieses Thema des „Verrats, was Recht ist” und die Schuldgefühle, überlebt zu haben, wo der geliebte Freund starb, gehören zu den zentralen Merkmalen des Kampftraumas. Was ich zu meinem Schrecken entdeckte, war, dass die Kliniker in der VA[3] nur sehr wenig darüber wussten, wie man eine „combat history” aufnimmt. So habe ich ein kleines Paper geschrieben, das im Journal of Traumatic Stress erschien, eine Art Lehrstück: Erinnere dich an die Geschichte von Achill und du wirst die wichtigsten Punkte in der Arbeit mit Kampftraumatisierten berühren! Professor Nagy, ein weltberühmter Spezialist für Homer, sagte: Diese Gedanken sind in der Form so noch nie ausgedrückt worden. Er schlug mir vor, daraus ein Buch zu machen. So wurde mir klar, dass das mein einziger Weg zur Unsterblichkeit sein würde: Etwas über Homer zu schreiben, was wirklich lesenswert ist. Dabei habe ich nur beschrieben, was jeder weiß: Die Ilias handelt vom Krieg! Es kam noch etwas dazu: Ich liebe einfach diese alten griechischen Gedichte und es war eine große Freude, sie mit meinen beruflichen Erfahrungen zu verbinden. Also, das Lustprinzip hat vorgeherrscht.

Was möchten Sie als zentrale Botschaft in Ihren Büchern vermitteln?

Die alten Geschichten können uns etwas lehren über die Realität von Kriegen, über die Erfahrungen der Soldaten und über ihre Versuche, wieder im Zivilleben Fuß zu fassen. Ich bin sicher nicht der Erste, der darauf hinweist, dass ein Trauma eine moralische Dimension hat, aber irgendwie ist das nicht richtig ins Bewusstsein gekommen: Das Trauma ist eine Form des Verrates an dem, was als „richtig” erlebt wird, in einer Situation, in der es um den höchsten Einsatz geht. Das ist ein zentrales Moment bei vielen Traumata. Diese Einsicht verdanke ich direkt Homer. Die dramatische Struktur der Ilias macht das sehr lebendig klar. Das Zweite - damit bin ich gar nicht so zufrieden, das ist mir ein bisschen zu berühmt geworden - ist meine Diskussion des „Berserkersyndroms”, was Homer auch mit großer Präzision schildert.

Können Sie das kurz beschreiben?

Menschen, die Terror ausgesetzt sind, in dem sie sich auf elementarste Weise verraten fühlen und in diesem Zusammenhang den Tod eines nahen Freundes oder Kameraden erleben mussten, führen sich wie „Berserker” auf. Homer ist unglaublich genau in der Beschreibung der Phänomene. Er spricht von der „Vernichtungsbegierde” des Achill, der seine Menschlichkeit verloren hat. Es handelt sich um ein sehr klar abgrenzbares Zustandsbild von hoher Erregtheit, mit der Erfahrung totaler sozialer Isolation, Verlust des Schmerzempfindens usw. In einem solchen Zustand der Raserei nimmt der Betreffende keine Rücksicht auf seine eigene Sicherheit, wie „ein Tier”. Achill bezeichnet sich selbst als Löwen oder Wolf, von aller menschlichen Verbundenheit abgeschnitten.

Wie kommt es zu solch einem Verhalten?

Der Kern des Ganzen ist verletztes Vertrauen. Das ist der Schlüssel zum Verständnis und auch Aufgabe für die Therapie. Man kann die ganze Odyssee etwa reduzieren auf ein Thema: die Unfähigkeit von Odysseus, noch irgendjemandem zu vertrauen, außer sich selbst. Es gibt übrigens auch einen interessanten Effekt, den ich von meinen Auszubildenden rückgemeldet bekomme: Was ich über Trauma und Traumatisierung geschrieben habe, hat ihnen ein völlig neues Verständnis dieser klassischen Texte eröffnet. Sie kommen zu mir und sagen: Wir verstehen die Ilias und die Odyssee jetzt ganz anders. Wir verstehen, dass es um reale Menschen geht, wir verstehen, dass wir in diesen alten Texten eine Idee davon bekommen, was sie durchgemacht haben. Das hilft uns, unsere Patienten in der Gegenwart zu verstehen, eine wichtige Frage angesichts vielfältiger Kampftraumatisierungen auf der ganzen Welt. Ja, und deswegen bedaure ich auch so, dass das Erziehungssystem bei uns und wohl auch in Deutschland die Schüler nicht mehr dazu zwingt, diese Geschichten zu behandeln und zu lesen, und zwar möglichst im Originaltext!

Kampftrauma verstehen Sie zentral als Verletzung des Vertrauens?

Man muss zwei Formen der Traumatisierungen unterscheiden, das einfache und das komplexe Trauma. Das einfache Trauma ist wortwörtlich ein Bild von Verletzung, analog zur körperlichen Verletzung. Das einfache Trauma ist definiert als das Weiterbestehen einer Reaktion der Abwehr einer Bedrohung noch in der Zeit, wenn die Gefahr schon lange vorbei ist. Die korrekte Form der Anpassung an eine gefährliche Situation wird in die Zeit mit hinübergenommen, wenn die Gefahr schon vorbei ist: die Erfahrung, dass dich da jemand wirklich töten will und dass du mit all deinen Sinnen gespannt darauf achten musst, das zu vermeiden und dass Menschen, die du liebst, rechts und links von dir getötet werden. Wenn diese Adaptationen im Zivilleben weiter bestehen, entstehen Probleme. Aber sie zerstören nicht die Menschlichkeit der Person, sie zerstören nicht die Fähigkeit des Veteranen, ein gutes und ein menschliches Leben zu führen. Dagegen sind die charakteristischen Komplikationen einer tiefen Wunde, eines komplexen Traumas, definiert durch die Zerstörung der Fähigkeit zu vertrauen. Und dann kommen noch die sekundären Konsequenzen von Drogen und Alkoholmissbrauch dazu, und natürlich auch kriminelles Verhalten.

Und diese zweite Stufe nennen Sie komplexes Trauma?

Genau. Die beiden muss man unterscheiden.

Dabei geht es um die Verletzung des Vertrauens?

Wenn die Fähigkeit zu vertrauen verloren gegangen ist, dann entsteht kein Vakuum. Stattdessen entsteht die aktive Erwartung, verletzt zu werden, ausgebeutet zu werden oder erniedrigt zu werden. Bei jeder Person, der Sie begegnen, fragen Sie sich als erstes: Wie wird der versuchen, mich zu verletzten, zu kränken, auszubeuten oder zu erniedrigen? Manche Menschen bezeichnen das als Paranoia, okay, so kann man es nennen. Aber das erklärt überhaupt nichts. Das erschafft nur die Illusion, dass man irgendetwas über diesen Menschen verstehen würde, indem man ihm ein Etikett aufklebt. Es erzählt uns gar nichts darüber, wie man ihn behandeln sollte.

Gerade merke ich, dass ich etwas Wichtiges ausgelassen habe: die Zerstörung des Charakters, die mit einem komplexen Trauma einhergeht. Das komplexe Trauma, der tiefe Verrat an dem, was als „richtig” erlebt wird, führt dazu, dass der Charakter einer Person „schrumpft”. Die Ideale, die erstrebenswerten Ziele, die Bindungen einer Person „schrumpfen ein”, sie ziehen sich zusammen, sie werden nach innen gezogen. Der moralische und soziale Horizont einer Person, die so verletzt worden ist, wird beschränkt - es gibt im Englischen kein besseres Wort als das deutsche Wort „beschränkt”. Bei einem solchen beschädigten Charakter, einem Menschen, der komplexes Trauma erlebt hat, kann man von PTSD sprechen. Ich hasse allerdings die Bezeichnung, ich finde es besser von einer „psychologischen Verwundung” zu sprechen. Die Heilung einer solchen Verwundung kann nur in der Gemeinschaft passieren.

Also keine Einzeltherapie, sondern die Grundlage ist die Gemeinschaft?

Genau. Die kleinste Anzahl einer Gemeinschaft ist drei, nicht zwei! Und eine Gemeinschaft existiert auch dann, wenn einer von den dreien abwesend ist. Was passiert dann mit dieser abwesenden Person? Werden sie den Dritten verletzen, werden sie darüber sprechen, wie sie ihn ausbeuten können? Werden sie sich daran erinnern, dass er existiert? Werden sie in Sorge darum sein, ob es ihm gut geht? Das heißt, und das ist so eine Art Knackpunkt in der Frage der Verlässlichkeit einer Beziehung: Wie sieht die Gemeinschaft aus, wenn einer abwesend ist? Eine Gemeinschaft erweist sich dann als tragfähig, wenn einer nicht mehr da ist und wenn zwei übrig bleiben. Was tun sie dann, was denken sie, was sprechen sie?

Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe, Sie meinen, es kann sein, dass Sie nur zu zweit im Raum sind, mit einer Person sprechen, aber Sie gehen davon aus, dass dann die abwesende Person „virtuell” mit einbezogen ist?

Nein, jeder Veteran, mit dem ich arbeite, ist immer gleichzeitig Teil einer definierten Gemeinschaft, die in das Programm hineingehört. Ich bin Teil eines Behandlungsteams, das in sich selbst auch eine Gemeinschaft ist. Beide Gemeinschaften beziehen sich aufeinander, offen und explizit, sie treffen sich. D. h. es ist keine virtuelle dritte Partei im Raum, es gibt eben diesen Dritten mit im Raum! Das heißt nicht, dass ich niemals einen Veteranen allein sehe, das passiert natürlich auch, aber dann kann es sein, dass sie anschließend zurück durch die Halle gehen und wieder Kontakt mit der Gruppe aufnehmen. Der Grund, warum wir das so tun, ist nicht, um Geld für die VA zu sparen, sondern um klar zu machen, dass es hier nicht um Power, nicht um Machtausübung geht.

Das erinnert mich an ein Zitat aus einer Ihrer Publikationen: „Was wir tun, ist politisch im wahrsten Sinne des Wortes.”

Genau, das ist eine andere Grenze, mit der sich vielleicht der eine oder andere auch ungemütlich fühlen könnte.

Dass Sie als „Grenzgänger” die Grenzen der klassischen Psychotherapie transzendieren?

Also so grandios möchte ich nicht sein, das Wort ist mir zu stark. Ich tue, was ich tue, aus den Gründen, weil ich denke, dass es getan werden muss. Ich denke einfach, dass es besser für die Patienten ist. Ich habe nicht die Idee, dass ich damit die Grenzen der Psychotherapie transzendiere.

Auf welche Weise hat diese Art von Arbeit Sie persönlich verändert? Ihre Haltung zu politischen Themen?

Also da gibt es verschiedene Dimensionen. Ich hatte immer schon eine sehr klare humanistische Haltung gegen die entsetzliche Praxis des Krieges. Ich glaube, dass wir Kriege wirklich beenden könnten, und ich denke, es ist verdammt noch mal Zeit, dass wir es wirklich tun! Das zweite politische Element ist, dass ich ganz stark daran glaube, dass ich genau das tue, was die Veteranen, denen ich diene, von mir möchten. Auch im Versuch, die amerikanischen militärischen Institutionen, ihre Politik, ihre Praktiken, ihre Kultur zu verändern. In „Odysseus in Amerika” habe ich eine Liste von wünschenswerten Punkten aufgeführt, die in militärischen und politischen Institutionen verändert werden sollten. Das sind Forderungen, die mit Parteipolitik nichts zu tun haben.

Ihre Arbeit versucht, Fehler auszugleichen, die von der politischen und militärischen Führung gemacht worden sind. Aus politischen Gründen ist Menschen etwas angetan worden und Sie korrigieren dies. Wo sehen Sie die Begrenzungen der psychologisch ausgerichteten Arbeit? Bis zu welchem Maße können solche Fehler korrigiert werden durch psychotherapeutische, psychiatrische Bemühungen?

Niemand kann jemals seine Unschuld zurückbekommen. Eine Verletzung hinterlässt lebenslange Spuren. Lassen Sie mich etwas sagen über meine Sicht des am meisten gebrauchten Diagnosesystems in Amerika, das DSM. Das diesem Modell implizit unterliegende Ideal ist das eines normalen Menschen. Normal in dem Sinn, dass es jemanden beschreibt, der niemals von einem der „Reiter der Apokalypse” niedergeritten worden ist, ja auch seinen Eltern und vielleicht sogar seinen Großeltern ist niemals so etwas passiert. Das heißt, wir sprechen von jemandem, der über mehrere Generationen die Erfahrung von Sicherheit, Fülle und Wohlbehagen gemacht hat. Vergleichbar ist das mit den Phäaken auf der Insel Scheria, auf die Odysseus sich gerettet hat. Ihrem König Alkinoos, der Prinzessin Nausikaa und der Königin Arete erzählt Odysseus seine Geschichte, das sind die „klassischen Bürger”. Niemals sind sie vergewaltigt worden, niemals beraubt, und sie haben sicherlich nie gehungert. Sie haben nie irgendeine Plage erlebt. Und so sehe ich das in dem DSM, die implizierte Nosologie, dass jemand als normal bezeichnet wird, der nie so etwas erlebt hat. Natürlich meine ich nicht, dass die Reiter der Apokalypse nötig sind, dass man sich als Mensch gesund entwickeln kann! Im Gegenteil: Ich habe meine Freude an dem Gedanken, dass wir weltweit vielleicht zwei der apokalyptischen Reiter tatsächlich im Begriff sind zu bannen, Hunger und Seuchen. Es käme mir kein Moment in den Sinn, dass die für irgendetwas gut sein könnten auf der Welt. Aber es ist ein Fakt, den z. B. auch Aristoteles sehr deutlich herausgearbeitet hat: Wir bleiben Sterbliche, wir sind nicht Gott und wir bleiben verletzlich und dem Tod ausgeliefert. Wir werden alle sterben.

Sterblichkeit haben Therapeuten und Patienten auch gemeinsam - eine Gelegenheit, zu der Frage nach der stellvertretenden Traumatisierung zu kommen. Wenn man mit jemandem arbeitet, dessen Vertrauen verletzt worden ist, dann wird er oder sie ja auch damit konfrontiert, dass das eigene Vertrauen verletzbar ist.

Unsere Arbeit birgt ein enormes Berufsrisiko. Und wieder ist die Frage der Gemeinschaft entscheidend! Therapeuten brauchen eine vertrauenswürdige Umgebung, auf die sie sich verlassen können, eine Gemeinschaft, die gut funktioniert, um sich gegen sekundäre Verletzungen zu schützen.

Könnte es auch sein, dass ein Teil der sekundären Traumatisierung die Erfahrung ist, dass man letztlich zu einer Art Helfer wird, die Fehler einer verfehlten Politik und verfehlter Strategie auszubügeln?

Eher wird einem dies von den Patienten zugeschrieben. Der Überlebende eines Traumas kann sich eigentlich nur noch vier Charaktere vorstellen: Täter, Opfer, desinteressierter Bystander oder Retter. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Und so wird ein Überlebender eines Traumas zu Beginn die Frage stellen: Wer von diesen vier Leuten bist du? Bist du ein anderer Täter? Wirst du mich verletzen, ausbeuten, mir wehtun? Bist du ein Opfer wie ich? Oder bist du vielleicht mein Opfer? Wird es vielleicht mir sogar möglich sein, dich zu verletzen, zu kränken, auszubeuten? Einige unserer Patienten haben jeden aus dem Team getestet, ob sie sie zu Opfern machen können. Oder du bist nur ein Unbeteiligter: „Du bist hier ja bloß, weil du auf dein Gehalt wartest!”, „Du hast überhaupt kein Interesse an mir!” Wenn ich 10 Cent für jedes Mal bekäme, wo ich diesen Vorwurf gehört habe, hätte ich keine finanziellen Sorgen. Wenn ein Veteran beginnt, sich überhaupt nur vorzustellen, dass der andere ein Kooperationspartner sein könnte, ist er bereits auf dem Weg der Heilung.

Ich komme noch mal auf die Frage zurück, ob stellvertretende Traumatisierung auch damit zu tun haben kann, dass der Therapeut sich als Helfer einer verfehlten Politik sieht.

Ja, es kann sein, dass man beginnt zu denken, dass alles, was man tut, nur eine Korrekturarbeit ist, den Dreck wegzumachen, der von der Regierung produziert worden ist. Die Sorge kann auch sein, dass man, indem man all diese Dinge beseitigt, sie auch vor der Öffentlichkeit versteckt und dafür sorgt, dass sie versteckt bleiben. Aber zumindest in unserem klinischen Team befassen wir uns weniger damit. Wir versuchen, dafür zu sorgen, dass diese Menschen wieder besser leben. Wie schon gesagt, um stellvertretende Traumatisierungen zu vermeiden, ist das wichtigste, dass niemand diese Arbeit alleine tun kann. Egal wie gut ausgebildet du bist, ob du eine komplette Psychoanalyse durchgemacht hast, es spielt keine Rolle: Wenn du es ohne Hilfe einer Gemeinschaft versuchst, wirst du verletzt werden! Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, das ist ein Kernpunkt unseres Berufes, was unsere Gesundheit und auch unsere Sicherheit anbetrifft. Man braucht dafür Strukturen innerhalb seines Arbeitsplatzes, das darf nicht nach außen verlagert werden durch externe Supervision usw. Das muss ein integraler Bestandteil der Alltagsarbeit sein!

Sie verwenden in Ihren Büchern Begriffe, die einem modernen Leser unvertraut vorkommen: „Thymos”, „Arete”, „Philos” und „Philia”. Was können diese Worte einem Psychotherapeuten der Gegenwart sagen?

Sie haben als Erstes das Wort „Thymos” erwähnt und damit möchte ich beginnen. Ich denke, das ist das wichtigste Phänomen in diesem Bereich. Sie kennen das Konzept des Narzissmus aus der psychoanalytischen Tradition, z. B. bei Kohut. Man kann sagen, dass „Thymos” das bezeichnet, was dort als Narzissmus beschrieben wird. Aber das Wort Narzissmus ist so missbraucht und verwischt worden, dass es sehr schnell mit pathologischen Konnotationen gehört wird. In meinen Augen ist Narzissmus einfach nur ein Begriff für etwas, was eine lange philosophische Tradition hat. Ähnlich wie Homer, der von „Thymos” sprach, benutzten auch Platon und Aristoteles das Wort „Thymos” ausgiebigst, Hegel spricht von der Sehnsucht nach Anerkennung, „Amour-Propre” heißt es bei Rousseau, Hobbes sprach von „Pride or Vainglory”, „Stolz und Prahlerei”, bis hin zu Freud und den klassischen Narzissmuskonzepten.

Der Thymos, d. h. der normale Narzissmus, wird in der Traumatisierung zerstört?

So ist es, die Ideale und das Interesse schrumpfen, alles zieht sich ganz weit in sich zurück. Beziehungen werden explosiv und gefährlich.

Ich denke noch an einen anderen alten Begriff, den Sie eingeführt haben, den Begriff der Sühne. Warum glauben Sie, dass es so wichtig ist, dass die Patienten mit Kampftraumata sich dem Sakrament der Sühne und Beichte hingeben?

Nun das ist ein römisch-katholischer Begriff, gerade wenn man ihn im Zusammenhang mit dem Begriff Sakrament verwendet. Ich sehe es eher als ein Reinigungsritual. Das kirchliche Ritual von Beichte und Sühne ist ein möglicher Ausdruck davon. Ich kann das nicht beweisen, aber ich denke, es gibt gute Gründe, davon auszugehen, dass das Wichtigste, wenn man sich in einem Kampf befunden hat, wenn man Menschen getötet hat oder erlebt hat, dass andere Menschen getötet worden sind, die Sehnsucht danach ist, zu einem friedlichen, ruhigen, zivilen Leben zurückzukehren. Die Frage ist, ob man die Möglichkeit hat, einen Übergang zu schaffen von dem einen Zustand zu dem anderen, verbunden mit einer Reinigung.

Also um den „Thymos” zu reinigen?

Ehrlich gesagt, bin ich nicht ganz sicher, was da eigentlich gereinigt wird. Für manche ist es einfach auch, den Körper zu reinigen. Das Reinigungsritual ist etwas sehr Körperliches, Körpernahes und damit auch spirituell.

Da gab es noch andere griechische Worte, die Sie erwähnt haben. „Philos” z. B. und „Philia”.

Dafür haben wir bei uns kein richtiges Wort. Gemeint ist eine Mischung aus Freundschaft, Kameradschaft und nicht-erotischer Liebe. Ich bin ganz sicher, wenn wir darüber nachdenken, wie gesunde Militäreinrichtungen in unserem Land aussehen können, dass wir den Menschen in diesen Institutionen erlauben müssen, die ganze Bandbreite der Bedeutung, die mit dem Wort Freundschaft, „Philia”, verbunden ist, wahrzunehmen und zu spüren. Das bedeutet, dass Kameraden einander lieben, ohne die Angst vor Sexualität in den Einheiten. Es gibt eine riesige Homophobie in der Armee.

Zum Abschluss eine nahe liegende Frage: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie jetzt mit dem Irakkrieg konfrontiert sind?

Nun, der Irakkrieg bringt natürlich die Erinnerungen an den Vietnamkrieg mit sich. Man kann sagen, dass die Situation im Irak sich in eine sehr bedenkliche Richtung eines Aufstands zuspitzt und da sehe ich viele Parallelen zu Vietnam. Ein sehr, sehr schwieriger und destruktiver Krieg für jeden, der sich darin befindet. Sehr schwer, daraus mit sauberen Händen herauszugehen. Sehr hart. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Dr. Shay.

1 Der National Vietnam Veterans Readjustment-Studie zufolge ließ sich 15 Jahre (!) nach dem Vietnamkrieg noch bei 15,2% der 3,1 Millionen Vietnamveteranen ein PTSD nachweisen, bei Soldaten, die intensivem Kampfgeschehen ausgesetzt waren, sogar 35,8%; die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten schwerer Depressionen war um den Faktor sieben gegenüber Zivilpersonen gesteigert (Quelle: Interview mit J. Shay in DIE WELT, 25.11.2004).

2 Z. B. Heinl P. Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg … Seelische Wunden aus der Kriegskindheit. München: Kösel, 1994

3 Gemeint ist die Veteranenadministration, die Einrichtung, die sich um ehemalige Vietnamkämpfer und traumatisierte Vietnamkämpfer kümmert.

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