PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2005-915436
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kinder, Kinder - muss das denn sein?

Jochen  Schweitzer, Rüdiger  Retzlaff
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 February 2006 (online)

Abb. 1 Jochen Schweitzer

Abb. 2 Rüdiger Retzlaff

So oder ähnlich riefen in der Kindheit der beiden Herausgeber in den 60er-Jahren oft gestresste Mütter aus, wenn sie auf irgendwelchen Unfug, auf Durcheinander oder auf die Spuren abenteuerlicher Aktionen trafen, die ihre Kinder angerichtet hatten.

So oder ähnlich befragen sich heute viele Langzeitadoleszenten zwischen 25 und 45, wenn sie über die Frage nachdenken, ob sie selbst fürs Kinderkriegen schon reif genug seien, und ob Kinderkriegen für ihr eigenes Lebenskonzept wichtig oder gar erforderlich sei.

So oder ähnlich fragen vielleicht beim Aufschlagen dieses Heftes viele Leser, ob denn PiD ein ganzes Heft dem Thema „Kindheit” widmen müsse. Denn PiD-Leserinnen und -leser, wir wissen dies aus Umfragen, sind ganz überwiegend Erwachsenen-PsychotherapeutInnen. Warum sollen sie sich mit Kindern und Kindheit beschäftigen, wenn diese in ihren Praxen und Kliniken nur in Erzählungen und in Erinnerungsspuren auftauchen?

So oder ähnlich könnten sich umgekehrt Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen fragen, ob es für ihre Professionalität wirklich hilfreich ist, buchdicke Hefte, wie das hier vorgelegte, durchzulesen. Ein oft kolportiertes Vorurteil vieler ErwachsenenpsychotherapeutInnen über KinderpsychotherapeutInnen scheint ja zu sein, dass diese ohnehin wenig wissenschaftliche Literatur lesen.

Was aber nicht notwendig ist, das ist oft umso faszinierender. Kindheit hat, seitdem sie um 1800 herum erfunden wurde, eine ambivalente Faszination auf die Erwachsenen ausgeübt. Heute, wo Kindheit wieder zu verschwinden droht, ist diese Faszination ungebrochen geblieben. Kindheit ist für viele Erwachsene der Zeitraum, in dem gespielt werden kann, in dem ziellos ausprobiert und ständig Neues erfahren werden kann - wo sie noch im Dreck rumwühlen, sich gehen lassen und durch den Tag träumen konnten. Kindheit ist für viele Erwachsene die lange zurückliegende Zeit, in der sie von Verpflichtungen, Aufgaben und Zielen noch freier waren. Anderen erscheint Kindheit als eine außerordentlich gefährliche und gefährdende Zeit - in der sie hilflos und abhängig waren, verletzt und missbraucht werden konnten, demoralisiert und verbogen.

Ähnlich ambivalent wie die Erinnerungen an Kindheit kann auch das Interesse von Erwachsenen sein, sich auf die Beziehung zu Kindern real einzulassen. Kinder sind in den modernen Industriegesellschaften, anders als in den armen Ländern, seltene und kostbare Wesen geworden. Bei ihrer Geburt, Ernährung, Bemutterung/Bevaterung und Erziehung kann man - so scheint es heute vielen potenziellen Eltern - so viele Fehler machen, dass das Risiko ihrer Erzeugung zunehmend gescheut wird.

Die Mehrheit der PsychotherapeutInnen arbeitet mit Erwachsenen. Das Psychotherapeutengesetz hat, ähnlich wie die Facharztcurricula bei den Medizinern, getrennte Ausbildungs- und Versorgungssysteme für Erwachsene hier, Kinder und Jugendliche dort geschaffen. ErwachsenentherapeutInnen können daher den professionellen Kontakt mit Kindern erfolgreich vermeiden und sich ganz auf das erinnerte und imaginierte Kind in ihren erwachsenen PatientInnen konzentrieren. Umgekehrt ist bei den Kinder- und JugendlichentherapeutInnen eine begleitende Arbeit mit den Eltern obligatorisch, aber auch nicht immer populär.

Unser Heft „Kindheit” geht einen anderen Weg:

Es schaut hinein in die therapeutische Alltagsarbeit mit Kindern. Es lädt ErwachsenenpsychotherapeutInnen dazu ein, die meist spielerischeren, handlungsorientierteren und methodisch reichhaltigeren Methoden der Kindertherapie näher kennen zu lernen. Vielleicht könnte auch manche Erwachsenentherapie davon profitieren? Es respektiert die angesprochene Grenzlinie in der deutschen Psychotherapie nicht. Es zeigt an Beispielen aus London, Heidelberg und Berlin, wie Eltern und Kinder in weitgehend gemeinsamen Psychotherapiesettings gemeinsam behandelt werden können. Es denkt nach über die Kindheit von PsychotherapeutInnen und darüber, wie ihr Beruf einige von ihnen auch als Mütter oder Väter geprägt hat. Es beschreibt anhand von Forschungsbefunden, wie Kindheit (oder genauer: die bewussten und unbewussten Erinnerungen an Kindheit) mit ihren stärkenden und ihren traumatisierenden Erlebnissen in das Erwachsenenalter hinein weiterwirkt.

Natürlich stecken in dem Aufbau dieses Heftes einige Überzeugungen der Heftherausgeber drin. Wir glauben, dass die allzu starre Grenze zwischen Erwachsenentherapie und Kindertherapie beiden viele Entwicklungsmöglichkeiten vorenthält und daher zunehmend überwunden werden sollte. Wir glauben, dass - nicht immer, aber oft - Psychotherapien einfacher oder produktiver werden, wenn man die Kinder oder die Eltern der eigenen Patienten als direkte Kooperationspartner in die Therapie einbezieht. Wir glauben, dass sich auch ErwachsenentherapeutInnen gelegentlich etwas vom Spaß an Geschichten, Sand- und Puppenspielen, Kritzeleien, Stegreiftheater etc. erlauben könnten, den ihre KollegInnen aus der Kindertherapie schon seit Jahrzehnten haben.

Wenn Sie mögen: Schreiben Sie uns (nach Lektüre dieses Heftes), wie Sie zu diesen „Überzeugungen” stehen.

    >