Z Sex Forsch 2006; 19(1): 63-67
DOI: 10.1055/s-2006-921528
Debatte

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Abschied von Aids

Martin Dannecker
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. März 2006 (online)

Die zentrale Veranstaltung der Frankfurter AIDS-Hilfe zum Welt-Aids-Tag fand im vergangenen Jahr unter dem Motto „Visionen” statt. In seiner auf dieser Veranstaltung am 1. Dezember 2005 in der Frankfurter Paulskirche gehaltenen Rede geht Martin Dannecker auf dieses Motto ein. Im Zentrum seiner Rede steht jedoch die Auseinandersetzung mit den öffentlichen Reaktionen auf den kurz vor dem Welt-Aids-Tag vom Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Anstieg der Neuinfektionen unter homosexuellen Männern. Wir stellen die kontrovers aufgenommene Rede hier zur Debatte.
Die Redaktion

Offen gestanden mag ich das Wort, unter dem die heutige Veranstaltung steht, nicht sehr. Das hängt damit zusammen, dass das, was als Vision vorgetragen wird, zumeist als gut gemeinte Phrase daherkommt. Visionen halten den schlechten materiellen und gesellschaftlichen Verhältnissen das Bild einer besseren Welt entgegen. Darin besteht ihre Faszination. Aber Visionen sagen in der Regel nichts dazu, wie die schlechten materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die sie antworten und von denen sie zutiefst abhängig sind, überwunden werden können. Und darin besteht die Täuschung der Visionen.

Lassen Sie mich die Probe aufs Exempel für eine solche Täuschung an einem der schönen Motti machen, die sich die Welt-Aids-Konferenz zu geben pflegt. 1996, auf der Konferenz in Vancouver, lautete das Motto bekanntlich „One World. One Hope”. Dieses Motto, so erläuterten die Veranstalter, reflektiere die Tatsache, dass HIV und Aids ein globales Problem sei, das alle Länder betreffe. Das ist zwar wahr, aber es ist doch eine schlechte Abstraktion. Denn HIV und Aids betrifft die Länder quantitativ auf so unterschiedliche Weise, dass die quantitative Differenz in eine qualitative Differenz umschlägt. Gleichzeitig sollte dieses Motto, so fuhren die Veranstalter fort, dazu einladen, optimistisch zu sein und auf die eher hoffnungsvollen Trends (womit die damals gerade eingeführte antiretrovirale Therapie gemeint war) zu setzen. In der Tat, die antiretroviralen Medikamente haben die in sie gesetzten Versprechungen gehalten, global betrachtet freilich nur für einen verschwindend kleinen Teil der HIV-Infizierten. Die ganz auf die Medikamente bauende Hoffnung ist insofern eine Täuschung, als sie von den gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahiert, die es verhindern, dass diese Medikamente für alle HIV-Infizierten auf der ganzen Welt zugänglich sind. Angesichts der gerade wieder veröffentlichten Zahlen über die Verbreitung von Aids und die katastrophal hohe Zahl der im vergangenen Jahr an Aids Gestorbenen besteht auch nicht der geringste Grund für Optimismus, und die Hoffnung ist einem tiefen Pessimismus gewichen. Vom Pessimismus aber möchten die allemal mit der Hoffnung paktierenden Visionen, die den schlechten Verhältnissen eine schöne Melodie vorsingen, nichts wissen. Visionen werde ich dann auch keine vortragen. Stattdessen werde ich über einiges sprechen, was bei uns immer noch oder schon wieder der Fall ist.

Inzwischen lässt sich für die westlichen Industrieländer sagen, dass eine HIV-Infektion nicht mehr gleichbedeutend mit Aids ist. Man kann eine HIV-Infektion haben, aber man muss nicht unbedingt, vor allem nicht in absehbarer Zeit, auch Aids bekommen. Mehr noch, die antiretroviralen Medikamente können auch dazu verhelfen, ein medizinisch definiertes Aids in eine HIV-Infektion zurückzuverwandeln, einfach deswegen, weil durch die Behandlung die Aids definierenden Symptome zum Verschwinden gebracht werden können. Aids ist zwar auch hierzulande für jeden HIV-Infizierten weiterhin eine latente Bedrohung, weil die Möglichkeit, als HIV-Infizierter eines Tages doch an Aids zu erkranken, nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Gleichwohl ist hierzulande für HIV-Infizierte der Gedanke nicht abwegig, auf unabsehbare Zeit „nur” HIV-infiziert zu bleiben. Diese nur für die westlichen Industrieländer geltende Umschreibung von Aids nimmt auch in der Rede von der HIV-Infektion als chronischer Krankheit Gestalt an.

Wenn Sie so möchten, haben die gesellschaftlichen Verhältnisse in den westlichen Industrieländern im Verein mit der medizinischen Kunst zu einer Situation geführt, die es ermöglicht, dass wir uns individuell und kollektiv von Aids verabschieden können. Überraschenderweise wird das aber von vielen nur halbherzig nachvollzogen. So wird Aids in seiner alten Bedeutung immer dann in Stellung gebracht, wenn es darum geht, der offenkundigen Erosion der HIV-Prävention Einhalt zu gebieten. So auch in jüngster Zeit als Reaktion auf den vom Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Anstieg der Neuinfektionen unter homosexuellen Männern. Besonders befremdlich fand ich einen Kommentar dazu, den mein Freund Jan Feddersen in der „taz” publizierte. In diesem Text wimmelt es nicht nur von falschen und gefährlichen Bildern. In ihm wird auch mit eigentlich überwunden geglaubten Zwangsvorstellungen hantiert. Feddersen bedient sich, ganz so, als ob Aids die alte, mit dem Tod zusammengeschweißte Bedeutung nicht längst verloren hätte, unverhohlen einer Rhetorik des Todes, was schon der Titel seines Kommentars erkennen lässt, der lautet: „Der Tod ist keine Bagatelle”. Insinuiert wird damit und durch andere Stellen, dass diejenigen, die sich in jüngster Zeit infiziert haben, bewusst mit dem Tod spielten, ihn gleichsam in Kauf nähmen. Kein Wort davon, dass der so genannte Safer Sex real und in der Fantasie mit Einschränkungen einhergeht. Und kein Wort davon, dass die weitaus überwiegende Mehrheit der Risikokontakte auf ein partielles bzw. situatives Scheitern der individuellen Präventionsabsichten zurückgeht. Wie andere auch skandalisiert Feddersen das barebacking, indem er es als letzten Schrei, also als eine von homosexuellen Männern bereitwillig akzeptierte Mode bezeichnet. Dabei ist gerade das Auftauchen des barebacking in der schwulen Subkultur ein deutliches Zeichen der Krise der HIV-Prävention und zugleich eine in Szene gesetzte Benennung der mit dem „Safer Sex” einhergehenden Einschränkungen.

Am Schluss seines Textes wartet Feddersen gleichsam mit einer negativen Vision auf und fragt mit ungezügelter Drohgebärde, wie die Politik mit dem Phänomen der Neuinfektionen künftig umgehen wird. Wörtlich heißt es dazu: „Möglich, dass Neuinfizierte in der Solidargemeinschaft ‚mitgeschleppt’ werden - möglich allerdings auch, dass man bei Nachweis des Besuchs von riskanten Orten auf die Bezahlung der Medikamente verzichten möchte. Der Tod ist keine Bagatelle: Schwule Männer können das wissen - auch beim Sex.”

Sieht man einmal darüber hinweg, dass bei uns nicht mehr der Tod, sondern die Gesunderhaltung das Gravitationszentrum der HIV-präventiven Anstrengungen der Menschen ist, was man allerdings nicht tun sollte, weil man dann die zunehmend eingegangenen Risiken nicht begreift, und fragt sich stattdessen nach dem diesen Vorstellungen zugrunde liegenden Präventionskonzept, dann wird ein Umschlagen der Prävention von einer Hilfe zum adäquaten Handeln in einen Zwang zum als adäquat angesehenen Handeln erkennbar. Human ist die Prävention dann, wenn sie sich als ein Mittel zum Zweck der Verhütung von Leiden begreift. Ihre humane Orientierung büßt die Prävention ein, wenn sie zu einer Diktatur der Gesundheit und damit einhergehender normativer Vorstellungen von einer angemessenen sexuellen Lebensführung wird. Wer, wenn nicht eine noch einzurichtende Gesundheitspolizei, sollte den Nachweis führen, dass ein neu infizierter homosexueller Mann „riskante Orte” besucht hat? Und wer soll eigentlich darüber bestimmen, was riskante Orte sind? Eine diktatorische HIV-Prävention müsste auch die Liebe als einen riskanten Ort erklären, weil sich Risiken nicht nur an bestimmten Orten der schwulen Subkultur, sondern auch in Beziehungen konstituieren.

Nicht nur Jan Feddersen, auch andere richten ihren Blick einseitig auf die zunehmenden Neuinfektionen unter homosexuellen Männern und erwecken dadurch den Anschein, als ob die Erosion der HIV-Prävention nicht ein allgemeines, sowohl für Heterosexuelle als auch für Homosexuelle zu konstatierendes Problem wäre. Auch Heterosexuelle haben ungeschützte sexuelle Kontakte und auch Heterosexuelle infizieren sich mit dem HI-Virus. Dass sich hierzulande absolut und relativ gesehen mehr homosexuelle Männer als heterosexuelle Frauen und Männer infizieren, hat vor allem mit der von Anbeginn an höheren HIV-Prävalenz unter den Homosexuellen zu tun und nicht mit einer spezifischen Psychopathologie der Homosexuellen oder mit dem homosexuellen Selbsthass, wie neuerdings wieder gemutmaßt wird. Nicht dass die Debatte über die Gründe für die zunehmenden Neuinfektionen unter homosexuellen Männern nicht geführt werden müsste. Man sollte dabei aber nicht zur Projektion der auch unter Heterosexuellen verbreiteten Präventionsschwierigkeiten auf Homosexuelle einladen, was immer dann geschieht, wenn die Schwierigkeiten, sich nach der Logik der Aids-Prävention zu verhalten, ausschließlich am Beispiel homosexueller Männer thematisiert werden. Einhellig wurden die gestiegenen Neuinfektionen als besorgniserregend bezeichnet. Dabei wäre es, ausgehend von den veränderten Verhältnissen, eigentlich angemessener, von überraschend günstigen Infektionszahlen zu sprechen.

Angesichts solcher Merkwürdigkeiten ist zu fragen, warum es vielen so schwer fällt, die HIV-Infektion als das zu akzeptieren, was sie bei uns inzwischen ist, nämlich eine schwere Krankheit wie andere schwere Krankheiten auch. Und warum wird gerade jetzt, wo die Bedingung der Möglichkeit, sie als das zu nehmen, günstiger als zuvor sind, wieder und wieder mit so schwerem Geschütz wie dem Tod aufgewartet? Und warum wird ständig so getan, als ob die häufigeren ungeschützten sexuellen Kontakte ein Zeichen für zunehmenden Leichtsinn wären? Und warum wird den Neuinfizierten vorgehalten, dass sie sich so hätten verhalten sollen, als ob eine HIV-Infektion noch das wäre, was sie nicht mehr ist? Eine Erklärung für dieses Beharren auf der alten Bedeutung von Aids liegt in der eng mit den Erfolgen der Kombinationstherapien zusammenhängenden Krise der Prävention. Eine andere Erklärung ist, dass es vielen im Aids-Bereich Tätigen schwer fällt, von der Bedeutung verleihenden alten Bedeutung von Aids Abschied zu nehmen. Nicht nur Aids hat sich banalisiert. Das banalisierte Aids banalisiert auch die HIV-Infizierten und alle, die professionell mit Aids zu tun haben. Und nicht wenige wünschen sich ganz gegen ihre bewusste Absicht etwas von der alten schrecklichen Bedeutung von Aids zurück, weil diese Türen öffnete und auf paradoxe Weise Rang verliehen hat.

Die Rhetorik des Todes fungiert ganz offenbar als Abwehr der Angst vor der sich aus dem Schatten von Aids entfernenden Sexualität, und das sowohl individuell als auch kollektiv. Die Umschreibung der HIV-Infektion hat auch bewirkt, dass die vorher ganz unter das Zeichen von Aids gestellte Sexualität wieder freier geworden ist und stärker als zuvor ihre Eigendynamik entfaltet. Das führt nolens volens zu häufigeren Risikokontakten und in der Folge auch zu zunehmenden Infektionen. Es geht jetzt beim sexuellen Handeln vermehrt darum, das HIV-Risiko auf ein individuell akzeptables Maß zu reduzieren, und zugleich darum, die mit der Risikominimierung einhergehende Einschränkung der Sexualität auf einen individuell akzeptablen Grad zu bringen. Dass der an Leibfeindlichkeit grenzende Umgang mit der Sexualität während des Höhepunkts der Aids-Krise, der immer auch eine Distanzierung vom sexuellen Körper des Anderen eingeschlossen hat, worunter besonders die HIV-Infizierten zu leiden hatten, einer wieder größeren sexuellen und das meint immer auch emotionalen Nähe gewichen ist, sollte als positiv angesehen werden und nicht als Ausdruck eines um sich greifenden, die Infektionsrisiken völlig negierenden Leichtsinns. Zu einem solchen Leichtsinn wird es, solange die HIV-Infektion in der Welt ist und mit relevanten Einschränkungen der Lebensqualität einhergeht, nicht kommen. Gleichwohl sind HIV-Neuinfektionen nicht vermeidbar und sie werden, da der sexuelle Sinn bei uns wieder leichter gestimmt ist, wahrscheinlich auch zunehmen. Wer glaubt, Neuinfektionen seien bei entsprechenden Anstrengungen auf jeden Fall zu vermeiden, spricht den Menschen ihre immer auch konflikthafte Seele einschließlich ihrer genuin konflikthaften Sexualität ab. Beide orientieren sich nicht durchgängig an dem, was unter präventionslogischen Gesichtspunkten als wünschenswert und rational bezeichnet wird. Weil das so ist, sollten wir auch freundlicher, vor allem aber solidarischer auf die Neuinfizierten blicken, als das derzeit der Fall ist.

Prof. Dr. phil. M. Dannecker

Töplitzstr. 9

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eMail: hansmart2@t-online.de

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