Z Sex Forsch 2006; 19(2): 159-172
DOI: 10.1055/s-2006-933475
Dokumentation

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Sexfront”. Revisited[1]

Günter Amendt
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Publication Date:
10 July 2006 (online)

Von einem Interviewer gefragt, was den „Spirit” - also Geist und Seele - der 1960er-Jahre vernichtet habe, antwortet Bob Dylan: „Mass communication killed it all. Oversimplification.” Fragt man, was aus den sexuellen Befreiungsfantasien wurde, die damals so üppig blühten, ist man geneigt, Dylans Befund auf die sexualpolitische Debatte jener Jahre zu übertragen: Mass communication killed it all. Oversimplification.

Es gibt Filme und Fotos, Songs und Gedichte, Comics und Cartoons, Theaterstücke und Bücher, die prototypisch für die Protestbewegung der 1960er-Jahre stehen. Sie werden wahrgenommen als Spiegel der Zeit, in der sie entstanden sind. Die „Sexfront” (1970) gehört dazu. Deshalb ist sie in Erinnerung geblieben. Darüber will ich mich nicht beklagen. Es ist schmeichelhaft. Es nervt aber auch. Denn als Autor lebe ich, wie könnte es anders sein, in der Überzeugung, über die „Sexfront” hinaus Bücher veröffentlicht zu haben, die genauso viel Aufmerksamkeit verdienen wie das skandalumwitterte Werk der frühen Jahre. Darauf ständig angesprochen zu werden nervt umso mehr, wenn man das ganze Thema schon vor langer Zeit aus Mangel an Erkenntnisinteresse hinter sich gelassen und abgeschlossen hat.

Wenn ich mich trotzdem auf Wunsch des Veranstalters dieser Tagung darauf eingelassen habe, die „Sexfront” heute noch einmal zu lesen, dann unter einer Bedingung: Ich spreche zu Ihnen als Autor meines Buches und nicht als Wissenschaftler, der, mit dem Anspruch, die aktuelle Diskussion zu überblicken und alle relevanten Forschungsergebnisse zu kennen, als Sexualwissenschaftler argumentiert. Diesen Anspruch habe ich mit meinem Rückzug aus der sexualwissenschaftlichen Diskussion und mit meinem Austritt aus der „Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung” aufgegeben.

Was mich reizt, das Buch heute noch einmal zu lesen, ist der Kontext, in den es das Thema dieser Tagung stellt: „Sexualität und Medien im 20. Jahrhundert”. Die „Sexfront” war ein Medienereignis nicht nur wegen der hohen Auflagen und der vielen positiven Kritiken, sondern auch wegen der Beschlagnahmeaktionen, der Verbotsanträge und der Zensurversuche, denen auch mein zweites, neun Jahre später veröffentlichtes Aufklärungswerk „Das Sex Buch” (1979) ausgesetzt war. Deshalb ist das Tagungsthema aus meiner Sicht nur im Dreiklang von „Sexualität, Medien und Zensur im 20. Jahrhundert” stimmig.

Als ich vor Monaten Jakob Tanners Einladung zu diesem Vortrag annahm, konnten weder er noch ich wissen, dass die neuerliche Beschäftigung mit der „Sexuellen Revolution” und der sexualpolitischen Bewegung jener Jahre auf eine überraschende Weise aktuell sein würde - jedenfalls im bundesdeutschen Kontext. Denn mit der Auflösung des Deutschen Bundestages im Mai dieses Jahres, der Ausschreibung von Neuwahlen und dem sich abzeichnenden Wechsel des Regierungspersonals setzte in den deutschen Medien eine Diskussion ein über den mit diesem Wechsel - je nach Standpunkt - erhofften oder befürchteten Wertewandel. Kommt sie nun endlich, die von Helmut Kohl in den 1980er-Jahren angekündigte „geistig-moralische Wende”, die, worüber eine merkwürdige Übereinstimmung in den deutschen Medien herrscht, nie stattgefunden hat? Werden mit der erwarteten Ablösung von Rot-Grün auch die letzten Spuren von 68 getilgt werden?

Ich gehöre nicht zu denen, die ein Deutungsmonopol für die 68er-Protestbewegung beanspruchen, obwohl ich im Zentrum dieser Bewegung aktiv war mit allen straf- und zivilrechtlichen Folgen, die solche Aktivitäten nach sich zogen. Die meisten Autorinnen und Autoren, die sich in jüngster Zeit über 68 geäußert haben und sich dabei auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen stützen, waren Randfiguren, die ihre Kritik an Randerscheinungen und an den Verfallsprodukten der Protestbewegung festmachen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn sie ihre subjektive Sichtweise reflektierten, sie als solche kenntlich machten und so ihren Wahrheitsanspruch relativierten. Wer glaubt, in der Rückschau den Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung und gegen den Vietnam-Krieg, die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus im Allgemeinen und dem US-Imperialismus im Besonderen, die Kritik der Bildungspolitik und des Universitätssystems, den Protest gegen alte Nazis in öffentlichen Ämtern, die Diskussionen über Mitbestimmung und Gleichberechtigung der Geschlechter einfach ignorieren zu dürfen, ist von der historischen Wahrheit so weit entfernt wie diejenigen, die glauben, den subkulturellen Untergrund der Protestbewegung ausblenden zu dürfen. Dass die Diskussion der Geschlechterfrage erst mit der neuen Frauenbewegung wirklich in Gang kam, sei der Genauigkeit halber hinzugefügt.

Kern der weltweiten Protestbewegung in den 1960er-Jahren war die Studentenschaft. Deren Avantgarde in der BRD war der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), dessen Mitglieder die theoretischen Grundlagen der Aktionen und Kampagnen erarbeiteten und auf Teach-ins zur Diskussion stellten. In diesen Diskussionen wurde mancher Unsinn verzapft. Doch die meisten der damals gewonnenen Erkenntnisse über das Wesen der Gesellschaft, in der wir leben, halte ich auch heute noch für gültig. Wenn Sloterdijk (2005: 51) höhnt, dass „die westdeutschen Früh-Hedonisten, die Labormäuse des totalen Konsumismus” gewesen seien und dass „alle Wege von 68 letzten Endes in den Supermarkt führten”, will ich ihm nicht widersprechen. Doch das ist das Eingeständnis einer Niederlage und nicht die Bestätigung der Ziele, die wir uns gesetzt hatten, denn die Kritik der Warenwelt und des Konsumismus stand im Zentrum unserer theoretischen Erörterungen. Nachzulesen unter anderem in der Zeitschrift „argument” und in Reimut Reiches Buch „Sexualität und Klassenkampf” (1968).

Um den Stellenwert der „Sexfront” und die öffentliche Erregung, die sie auslöste, verstehbar zu machen, will ich versuchen, die sexualmoralischen Verhältnisse von damals skizzenhaft zu rekonstruieren und die Motive der sexualpolitischen Bewegung, die gegen diese Verhältnisse rebellierte, darzustellen. Dass sich unter dem Einfluss dieser Bewegung das sexualmoralische Wertesystem gegen den teilweise erbitterten Widerstand konservativer und klerikaler Kräfte erheblich verschoben hat, kann nicht bestritten werden. Sind die in den 1960er-Jahren propagierten Werte heute noch gültig, oder sind sie nicht längst durch andere Werte ersetzt worden, oder leben wir gar, wie in bestimmten klerikal-konservativen Milieus behauptet wird, in einem Werte-Vakuum? Darauf will ich zu antworten versuchen.

Erklärtes Ziel der 68er-Protestbewegung war der Kampf gegen autoritäre gesellschaftliche Strukturen und die Bloßstellung autoritärer Persönlichkeiten, die uns in Gestalt von Eltern und Lehrern, Ausbildern, Professoren, Politikerinnen und Politikern mit ihrer Doppelmoral und ihren nicht nachvollziehbaren Geboten und Verboten das Leben schwer machten. Diese personalisierte Auseinandersetzung zwischen den Generationen war vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen Geschichte mehr als nur der übliche Generationenkonflikt. Uns trieb die Frage um, wie es möglich war, dass - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die Generation unserer Eltern und Lehrer sich willig in den Dienst eines mörderischen Regimes stellen konnte. Was sagt das über den Charakter dieser Menschen? Wie bildet dieser Charakter sich heraus? Welchen Einflüssen unterliegt er? Die Forschungsarbeiten des „Frankfurter Instituts für Sozialforschung” trugen entscheidend dazu bei, uns eine Vorstellung von der Charakterstruktur der „autoritären Persönlichkeit” zu machen, auf deren Charaktereigenschaften der Faschismus sein Terrorregime stützte.

Zum Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse wird nur fähig sein, davon waren wir überzeugt, wer den Repräsentanten des Systems - auch Establishment oder Schweinesystem genannt - frei von Ängsten selbstbewusst gegenübertreten kann. Schluss mit dem Duckmäusertum, Schluss mit dem Mief der 1950er-Jahre, Schluss mit dem Autoritätsanspruch einer Generation, die in den Jahren der Naziherrschaft Träger des Systems und dessen Mitläufer war.

Die 68er-Bewegung war ihrem Anspruch nach nicht nur antiautoritär und egalitär, sie war auch eine von jugendlichem Elan getragene Emanzipationsbewegung, die, was nahe lag, auch das Sexuelle als Urquelle von Angst und Schuldgefühlen thematisierte. Du hast ein Recht auf Sexualität. Sage, was du willst. Sage, was du nicht willst. Steh zu dem, was du tust. Alles, was im wechselseitigen Einverständnis zwischen Mädchen und Jungen, Jungen und Mädchen, aber auch zwischen Jugendlichen gleichen Geschlechts geschieht, ist erlaubt und legitim. Das war die Botschaft der sexualpolitischen Bewegung. Das war die Botschaft der „Sexfront”.

Na und? War das alles? Wo ist das Problem? Was war der Skandal? Beim Wiederlesen des Buches ging mir diese Frage ständig durch den Kopf. Erst als ich die katholischen Traktatschriften und die protestantischen Aufklärungsfibeln, die amerikanischen Datinghandbücher und Pettingrichtlinien, die deutschen Lehrpläne und Jugendzeitschriften, an denen ich mich beim Schreiben der „Sexfront” abgearbeitet hatte, aus dem Archiv zog, war ich in der Lage, das moralische Klima von damals nachzuempfinden und den Skandal zu begreifen, den die „Sexfront” ausgelöst hatte.

Die auf provokative Regelverletzungen angelegte Strategie der Protestbewegung verfehlte ihre Wirkung nicht. Auch die „Sexfront” war als Provokation angelegt und auf den Bruch von Tabus aus. Damit verunsicherte sie alle, die auf das scheinbar verbriefte Recht pochten, ihre Normen und Werte gegenüber Jugendlichen autoritär durchzusetzen. Das selbstbewusste Auftreten der Protestbewegung und die deutliche Sprache ihrer Verlautbarungen schockierten. Jeder noch so billige Gag, jede noch so harmlose Provokation löste umgehend wütende Abwehrreaktionen aus. Als ich in meiner Baden-Badener Rede an Silvester 1967/68 die anwesenden Schülerinnen und Schüler aufforderte, alle Kisten und Kasten, alle Kastrations- und Entjungferungswerkzeuge aus den Turnhallen zu entfernen und Matten auszubreiten, um Liebe zu machen - make love not war -, löste dieser aus heutiger Sicht eher müde Scherz einen Skandal mit bundesweitem Medienecho aus.

In ihrer von den meisten Erwachsenen als aggressiv empfundenen Offenheit unterschied sich die Sexualitätsdiskussion der Protestbewegung deutlich von den biederen Aufklärungsbemühungen eines Oswalt Kolle, dem es mit seinen Illustriertengeschichten und seinen beklemmend verklemmten Filmen vor allem darum ging, die Ehe als Institution zu retten und das Eheleben der Bevölkerung sexuell zu stimulieren und zu verfeinern. Obwohl Kolle mit seiner Fixierung auf Ehe und Familie den herrschenden moralischen Vorstellungen der 1950er- und 1960er-Jahre entsprach, war auch er giftigen Anfeindungen und permanenten Zensurdrohungen ausgesetzt. Sich vor diesem Hintergrund offen auch für die sexuellen Rechte von Jugendlichen einzusetzen war ihm dann doch zu riskant.

Auf ebendieses Risiko ließ die „Sexfront” sich ein, was ihr umgehend ein Verfahren vor der Bundesprüfkammer für jugendgefährdende Schriften einbrachte. Mit der Begründung, es handele sich um ein „zynisches Aufklärungswerk”, dessen Text, „überhöht durch obszöne Fotographien”, in einem hohen Maße jugendgefährdend sei, sollte das Buch auf den Index verbotener Schriften gesetzt werden.

Die Vagina geöffnet, der Penis steif, das in der Tat war noch nie zuvor in einem deutschsprachigen Aufklärungsbuch zu sehen. Und dann noch die Sprache, die auf lateinische Umschreibungen verzichtet und sowohl das männliche wie das weibliche Genitale beim umgangssprachlichen Namen nennt. In den Ohren einiger schwer erregter Kritiker war das die Sprache der Gosse. Jahre später, als sich der Schatten von Aids über das Sexuelle legte und allerorten zur Risikovermeidung nach Sexualaufklärung für Jugendliche verlangt wurde, konnte man selbst konservative Politiker in jener vermeintlichen Gossensprache zu Jugendlichen sprechen hören; einige gar scheuten sich nicht, demonstrativ in aller Öffentlichkeit ein Präservativ über die Banane zu stülpen.

Nicht nur die Klarheit der Sprache und die Deutlichkeit der Comics, der Fotos, der Zeichnungen und der Karikaturen provozierten, anstößig war auch die moralische Botschaft der „Sexfront”, die nicht nur ein Recht auf Sexualität für Jugendliche forderte, sondern auch die traditionellen Geschlechterrollen infrage stellte und die Gleichwertigkeit sexueller Bedürfnisse und Präferenzen postulierte - wechselseitiges Einverständnis vorausgesetzt. Diese Botschaft kam an und wurde angenommen, weil sie auf eine Öffentlichkeit traf, in der die Geschlechterrollen sich längst verändert hatten und mit ihnen die Geschlechterbeziehungen. Die verstärkte Teilnahme von Frauen am Produktionsprozess in den Nachkriegsjahren führte zwangsläufig zu einem neuen Rollenverständnis im Privaten und somit auch im Sexuellen. Immer mehr Frauen und Mädchen waren nicht länger bereit, die ihnen zugewiesene Rolle der Abwartenden und ewig Passiven zu spielen. Mit der Pille verschwand auch die Angst vor den ungewollten Folgen des Sexualaktes. Dass die Pille anfangs höchst umstritten war, soll in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden.

Und die Männer? Sie waren vom Kondomstress befreit. Vorübergehend. Bis Aids kam.

Ein typisches Element der 68er-Provokationsstrategie war das Stilmittel des Verbalradikalismus bei der Formulierung von Forderungen und Zielen. Heute erweist sich dieses Stilmittel als hinderlich, wenn man sich bemüht, der historischen Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen, weil viele Historiker und Zeitzeugen, die sich damals nur am Rande des Protests bewegten, die verbalradikalen Sprüche der Protestbewegung beim Wort nehmen und glauben, ihre Kritik an Slogans festmachen zu dürfen, deren Reiz ja gerade in ihrer Unschärfe und Zweideutigkeit lag. Das gilt auch für den Slogan „Sexuelle Revolution”. Der Revolutionsbegriff, mit dem alle arbeiteten, war höchst diffus. Revolution war sowohl ein politischer Kampfbegriff wie eine spielerisch-provokative Parole der sich gerade erst herausbildenden Popkultur. Die Parole war den Schriften Wilhelm Reichs entnommen. In dessen Werk „Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umgestaltung des Menschen” (1936) taucht die „Sexuelle Revolution” als Kapitelüberschrift im zweiten Teil auf, der den Kampf um das „neue Leben” in der Sowjetunion zum Gegenstand hat. Daraus ergibt sich von selbst, dass Reichs Erkenntnisse nicht so ohne Weiteres auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland zu übertragen waren, zumal Reich in seiner damals populärsten Schrift „Der sexuelle Kampf der Jugend” (1932) die soziale Revolution zur Vorbedingung der sexuellen Befreiung erklärt hatte. Dieser Zusammenhang wird heute einfach ignoriert. Selbst in der „Wochenzeitung” will ein Autor glauben machen, eine „der schlichten Losungen der Achtundsechziger” habe gelautet: „Wer seine Sexualität befreie, befreie auch die Gesellschaft” (WOZ, Die Wochenzeitung, Nr. 8, 24. Februar 2005). So schlicht und banal war es eben nicht.

Weil die Protestbewegung, um es noch einmal zu sagen, im Kern eine Studentenbewegung war, wurden die Auseinandersetzungen mit dem System und dessen Repräsentanten auf wissenschaftlich-akademischem Niveau ausgetragen. Es ist ein Verdienst der Studentenbewegung, in dieser Diskussion den von den Nazis verfolgten und verfemten Autoren und Lehrern eine Stimme gegeben zu haben: Freud und die im Exil verbliebenen Mitarbeiter der „Frankfurter Schule”, Marx und Engels, aber auch die reformpädagogische Diskussion der Weimarer Republik flossen in den Diskurs ein. Und eben Wilhelm Reich. Ich selbst war nie Reichianer. Dessen penetranter Heterozentrismus samt der dazugehörigen Homophobie stand im Widerspruch zu dem, was ich unter Emanzipation und Befreiung verstand.

Den theoretischen Hintergrund der „Sexfront” hier auszuleuchten würde zu weit führen. Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” - wie Forels Buch „Die sexuelle Frage” (1905) ebenfalls vor genau hundert Jahren veröffentlicht - könnte man als das theoretische Fundament bezeichnen, auf dem die „Sexfront” ruht. In dem in der „Zeitschrift für Sexualforschung” veröffentlichten Aufsatz „Jenseits von Lüsternheit und Prüderie” benennt Sophinette Becker (2005: 14), was an den „Drei Abhandlungen” „nicht nur damals revolutionär war, sondern meines Erachtens auch heute noch nichts von seiner Aktualität und Widerspenstigkeit verloren hat”: Klare Grenzen zwischen dem Normalen/Gesunden und dem Pathologischen gibt es nicht. Es gibt nur Übergänge. Diese anti-normative Position Freuds zieht sich durch die gesamte „Sexfront”, wie auch Freuds Annahme, dass alle Menschen zur gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind. Und schließlich auch das, was Sophinette Becker für das Wichtigste an den „Drei Abhandlungen” hält: „die Betonung der eigenständigen, spontanen infantilen Sexualität und das über Genitalität hinausgehende Konzept von Sexualität” (ebd.: 16).

Die Sexualitätsdiskussion der Protestbewegung und Bücher wie die „Sexfront” haben den sexualmoralischen Umbruch in den 1960er-Jahren nicht ausgelöst. Sie haben nur ausgesprochen und auf den Punkt gebracht, was längst alle - fast alle - taten. Denn die 1950er- und 1960er-Jahre waren für Jugendliche, die damals ihr „sexuelles Erwachen” erlebten, durchaus keine Zeit der Askese. Alfred Kinsey hatte mit seinen Sexualreporten (1948, 1953) nachgewiesen, dass sich kaum noch jemand an die Gebote der alten Sexualmoral hielt. Es wurde heimlich onaniert und vorehelich koitiert nach allen Regeln der Kunst. Auch „homosexuelle Handlungen” wurden munter praktiziert. Kaum noch jemand glaubte den sexualfeindlichen Traktaten, die an den Eingangspforten katholischer Kirchen auslagen, kaum jemand ließ sich noch von pädagogischen Ratgebern, die vor sündiger Samenvergeudung warnten, Enthaltsamkeit predigten und die Jungfräulichkeit verherrlichten, einschüchtern. Und doch hing der lustfeindliche Mief, den die Prediger einer sexuellen Verzichtmoral verbreitet hatten, noch immer in allen Ritzen der Gesellschaft. Noch galt die alte Sexualgesetzgebung. Praktizierte Homosexualität stand noch immer unter Strafandrohung, Erwachsene, die Jugendlichen Gelegenheit boten, es ungestört zu treiben, gerieten mit dem Strafgesetzbuch und dessen Kuppeleiparagraphen in Konflikt.

Diesem Moralterror stellte sich die „Sexfront” offen und unbestreitbar aggressiv entgegen. Und im Unterschied zu Oswalt Kolle, dessen Verdienste um die sexuelle Aufklärung nicht bestritten werden sollen, wagte es die „Sexfront”, auch am Homosexualitätstabu zu rütteln. Neben der „Glorifizierung des Triolenverkehrs” - was immer damit gemeint sein mag - und dem Vorwurf, Pornographie zu verbreiten, war die „Verherrlichung der Homosexualität” einer der Hauptangriffspunkte beim Versuch, das Buch aus dem Verkehr zu ziehen beziehungsweise unter den Ladentisch zu verbannen - was aufs Gleiche hinausläuft.

Die „Sexfront” müsse schon deshalb auf den Index, hieß es im Verbotsantrag, „weil eindeutig zur homosexuellen Verführung Jugendlicher ermuntert wird”. Was heute in der Cannabisdiskussion die unsinnige Einstiegsdrogentheorie ist, war damals in der Homosexualitätsdiskussion die nicht weniger unsinnige Verführungstheorie. Wenn allerdings, das hatten die Kritiker und Zensoren schon richtig verstanden, alles erlaubt ist, was im wechselseitigen Einverständnis geschieht, dann sind auch geschlechtliche Beziehungen zwischen Frau und Frau und Mann und Mann erlaubt. Zwar hatte die aus der Nazizeit überkommene anti-homosexuelle Grundstimmung der bundesdeutschen Gesellschaft längst an Schärfe verloren, doch der Gedanke, dass auch Jugendliche ihren homosexuellen Neigungen folgen und dazu in einem Aufklärungsbuch auch noch ausdrücklich ermuntert werden, galt noch immer als undenkbar und skandalös.

Jugendliche sexuell zu stimulieren und sie gegen ihre „natürlichen Erzieher” aufzustacheln, war der Hauptvorwurf auch gegen das 1979 veröffentlichte „Sex Buch”. Im Süden der Bundesrepublik kam es deswegen sogar zu einer Beschlagnahmeaktion im Stile einer Terroristenfahndung.

Die Verbotsanträge und die Zensurversuche haben beiden Büchern nicht geschadet. Im Gegenteil, der Mechanismus Medienskandal = Auflagengarantie funktionierte damals noch. Alle Versuche, die Verbreitung der beiden Bücher mit Hilfe der Justiz zu unterbinden, sind gescheitert - auch das sollte nicht unerwähnt bleiben. Ich hatte nicht nur die Kolleginnen und Kollegen der beiden sexualwissenschaftlichen Institute in Hamburg und Frankfurt auf meiner Seite, auch in der liberalen Medienöffentlichkeit ergriff man Partei für die beiden Bücher und gegen die Zensur. Allerdings will ich nicht verhehlen, dass diese Auseinandersetzungen große Kraftanstrengungen erforderten. Sie wären lästig und durchaus auch bedrohlich.

Unter dem Eindruck dieser Erfahrungen habe ich Ende der 1970er-Jahre als Gutachter vor einem Ausschuss des Deutschen Bundestages entscheidend dazu beigetragen, die PorNO-Kampagne der „Emma”-Redaktion scheitern zu lassen, obwohl ich in vielen Punkten mit den Argumenten von Alice Schwarzer und ihrer Redaktion übereinstimmte. Doch das angestrebte gesetzliche Pornographieverbot war de facto eine Initiative zur Legalisierung der Zensur. Das genügte, um dagegen zu sein. Das Definitionsproblem - was ist pornographisch und was nicht - und die Unmöglichkeit, das PorNo-Gesetz praktisch umzusetzen, waren da nur noch Hilfsargumente. (Zu der Zeit war das Internet als Massenkommunikationsmittel und Pornomedium noch nicht einmal eingeführt.) Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Auch mich stört die Sexualisierung und Pornographisierung des öffentlichen Raumes. Das ist jedoch weniger ein moralisches als ein ästhetisches Problem.

Das libertäre Klima der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre sickerte in alle Bevölkerungsschichten ein und weckte bei vielen den Wunsch, auch im Sexuellen etwas Neues zu probieren. Das frivole Spiel mit dem Nacktheitstabu setzte ungeahnte exhibitionistische und voyeuristische Kräfte frei. Als dann noch die Werbe- und Medienindustrie entdeckte, dass sich ihre Produkte unter Einsatz sexueller Stimuli besser vermarkten lassen, verschärfte sich die von der Sexualkampagne der Studentenbewegung und deren subkulturellem Untergrund ausgelöste Dynamik bis zum Überdruss. Heute wird die Sexualisierung und Pornographisierung des öffentlichen Raums von immer mehr Menschen als Belästigung empfunden. In dem Slogan „oversexed and underfucked” drückt dieses Lebensgefühl sich aus. Ob der Sexualakt heute weniger vollzogen wird als vor, sagen wir, dreißig Jahren, ob also die Menschen tatsächlich „underfucked” sind, weiß ich nicht. Mir fehlen die statistischen Vergleichsmöglichkeiten. Die Klage über eine allgemeine sexuelle Unlust ist jedenfalls nicht zu überhören.

Doch erst mit der von Kanzler Kohl in den 1980er-Jahren eingeleiteten „geistig-moralischen Wende” wurde die Sexualisierung und Pornographisierung der Umwelt grenzenlos. Nun, wo alles dem Markt überlassen wurde und im allgemeinen Deregulierungswahn auch die bis dahin gültigen sozialen Regeln Schritt für Schritt aufgehoben wurden, kam es zwangsläufig auch zu einer Deregulierung der Sexualmoral: Kohl ist Kirch. Kirch ist Privatfernsehen. Privatfernsehen ist Pornographie - flächendeckend und allen Bevölkerungsschichten, ob Mann oder Frau, ob Alt oder Jung, per Knopfdruck zugänglich.

Die von Kohl angekündigte Wende vollzog sich, sieht man einmal von der Einführung des Pornofernsehens ab, völlig unspektakulär. Fortan hieß es: „Sehe jeder, wie er's treibe, sehe jeder, wo er bleibe, und wer steht, dass er nicht falle.” Ich komme auf diese Goethe-Zeilen immer wieder zurück, weil sie das neue Persönlichkeitsideal, das in der Kohl-Ära gefordert und gefördert wurde, so treffend beschreiben. Mit der New Economy betrat die First-me-Generation erstmals das gesellschaftliche Parkett. Der Typus der allzeit mobilen und flexiblen, leistungs- und risikobereiten Persönlichkeit mit stark asozialen Zügen wurde zum Ich-Ideal einer ganzen Generation von Aufsteigern.

Heißt das nun, um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, dass damit das Persönlichkeitsideal und die Moralvorstellungen der Sexualkampagne in den 1960er-Jahren abgelöst und ausgelöscht wurden? Zugegeben: Die Frage ist rhetorisch. Sie unterstellt, was nicht unterstellt werden kann, dass nämlich die moralischen Standards der 68er-Protestbewegung jemals als allgemein gültige Norm akzeptiert worden wären. Das war nie der Fall. Auch nicht auf dem Höhepunkt der Protestbewegung. Es war auch nie deren Anspruch. In den Diskussionen wurde ja gerade die Vorstellung von der einen für alle gültigen Moral als Fiktion und Ausdruck totalitärer Fantasien entlarvt. Natürlich sind die moralischen Prinzipien der „Sexfront”, die auf Gleichberechtigung und Solidarität der handelnden Personen beruhen, unvereinbar mit den moralischen Prinzipien von Menschen, welche die Welt in Winner und Looser aufteilen und deren wichtigstes Arbeitsinstrument der Ellbogen ist. Doch diese Homunkuli des Neoliberalismus sind nur eine weitere Ausdifferenzierung von Persönlichkeitstypen samt der dazugehörigen Moralvorstellungen, die in Konkurrenz stehen zu anderen Persönlichkeitstypen und anderen Moralvorstellungen.

Beim Schreiben der „Sexfront” hatte ich stets vor Augen, dass die Adressaten des Buches Schülerinnen und Schüler, Studenten und Studentinnen sind - notabene Jugendliche der Mittelschicht. Um auch Jugendliche zu erreichen, die, ich bleibe, wenn auch mit Bauchgrimmen, beim Schichtenmodell, der Unterschicht angehören, habe ich neun Jahre später in Zusammenarbeit mit Arbeiterjugend-Organisationen „Das Sex Buch” veröffentlicht. Aus sexualwissenschaftlicher Sicht ist „Das Sex Buch” sicherlich differenzierter in der Argumentation und weniger provokativ in der Darstellung als die „Sexfront”. Doch die sexualmoralische Botschaft ist identisch.

Heute kann man davon ausgehen, dass die Quintessenz der in der „Sexfront” und im „Sex Buch” vertretenen Sexualmoral - alles ist erlaubt, was, ohne Dritte zu schädigen, in wechselseitigem Einverständnis geschieht - gesellschaftlich weitgehend akzeptiert ist. Vor allem Jugendliche der Mittelschichten haben, wie Untersuchungen belegen, die Standards der neuen Moral übernommen und in ihr Sexualverhalten integriert. Was im Sexuellen gewollt wird und erwünscht ist, entscheiden heute beide - Mädchen und Junge, Mann und Frau. Verhandlungsmoral nennt man das in der sexualwissenschaftlichen Diskussion, eine Moral, die keine normativen Zwänge setzt, in welche der One-night-stand ebenso eingebettet ist wie die auf Dauer angelegte Paarbeziehung.

Inwieweit die heute allgemein beklagte „Unlust” beziehungsweise die „nachlassende sexuelle Appetenz” in einem Zusammenhang steht mit dieser Verhandlungsmoral, die, wie ihre Kritiker monieren, dem Sexuellen das Leidenschaftliche und Spontane genommen habe, ist schwer zu beantworten.

Andererseits: Nirgendwo ist die Koitusfrequenz festgeschrieben. Was ist die Norm? Schon Martin Luther hat sich mit dieser Frage herumgeschlagen und zweimaligen sexuellen Vollzug pro Woche als Norm gesetzt. Liegt die mit der Länge einer Beziehung nachlassende sexuelle Begierde nicht in der Natur jener „individuellen Geschlechtsliebe” und der aus ihr abgeleiteten monogamen Paarbeziehung, auf der das Liebesideal des neuzeitlichen Menschen nach wie vor beruht? Hat nicht Schiller bereits zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters die Psychodynamik der Paarbeziehung genau beschrieben: Die Leidenschaft flieht/Die Liebe muss bleiben/Die Blume verblüht/Die Frucht muss treiben. Wer Schillers Glocke als sozialhistorisches Dokument liest, erspart sich eine Magisterarbeit von der Art „Zur Sozial- und Sittengeschichte des bürgerlichen Zeitalters von seinen Anfängen bis heute”.

Mittlerweile hat sich der Sturm gelegt. Im psychosozialen Haushalt der Menschen in den Gesellschaften des reichen Nordens, die von der Emanzipationsbewegung der 1960er-Jahre erfasst worden waren, hat das Sexuelle heute einen anderen Stellenwert als in den Jahren, in denen der Sturm entfacht wurde. Das jedenfalls ist mein Eindruck. Vor allem männliche Jugendliche erleben das Sexuelle heute nicht mehr als so „drängend und triebhaft” wie noch in den 1960er- und 1970er-Jahren. Auch das belegen die Jugenduntersuchungen des Hamburger Instituts für Sexualforschung. Diese Verhaltensänderungen mögen auch mit der veränderten Einstellung zur Masturbation zu tun haben. Selbstbefriedigung wird heute von der Mehrzahl aller Jugendlichen und Erwachsenen als eine selbstverständliche Sexualpraxis angesehen, akzeptiert und in die Beziehung, soweit eine solche vorhanden ist, integriert. Noch vor dreißig Jahren wurden junge Redakteure gemaßregelt und von der Schule verwiesen, wenn sie die Spruch-Vignette der „Sexfront” „Onanie, Onamanchmal, Onaoft” in ihren Schülerzeitungen nachdruckten.

Ich bin mir bewusst und nehme in Kauf, dass es ziemlich selbstgefällig klingt, wenn ich im Rückblick auf die Sexualkampagne der Studentenbewegung und die „Sexfront” als deren nachgereichtes Manifest konstatiere, dass ich beim Wiederlesen auf nichts gestoßen bin, was ich zurückzunehmen hätte. Auch nicht die Übertreibungen und Überspitzungen. Noch jede Emanzipationsbewegung schoss, um auf sich aufmerksam zu machen, übers Ziel hinaus. Ohne Maßlosigkeit sind Tabus nicht zu brechen. Auch die neue Frauenbewegung und die Bewegung der Homosexuellen in den 1970er-Jahren griffen mit ihren schrillen Parolen und provokativen Forderungen auf dieses Stilmittel zurück.

Die Emanzipationsbewegungen in den 1960er- und 1970er-Jahren haben Tabus gebrochen und das sexualmoralische Wertesystem neu justiert. Dabei kam es auch zu Verirrungen. Zwar brachte auch die wissenschaftlich gestützte Erkenntnis, dass Kinder eine Sexualität haben und ihnen das Recht zusteht, ihre Spiele zu spielen, um sich zu erforschen und zu erfahren, ohne dabei ständig von Erwachsenen kontrolliert und zurechtgewiesen zu werden, ein Stück sexueller Befreiung. Doch daraus abzuleiten, das Recht von Kindern auf ihre Sexualität beinhalte das Recht von Erwachsenen auf die Sexualität der Kinder, ist eine gravierende Verirrung.

In welche Richtung wird der sexualmoralische Mainstream sich bewegen, welche sexualpolitische Entwicklung ist zu erwarten? Solche Fragen drängen sich unweigerlich auf, wenn man - aus gegebenen Anlass - zurückblickt in die 1960er-Jahre und dabei die Gegenwart nicht aus dem Auge verliert. Die sexuellen Verhältnisse waren und sind immer eine Spiegelung der allgemeinen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse. Diese Verhältnisse haben sich in den knapp vier Jahrzehnten, die zwischen dem Erscheinen der „Sexfront” und diesem Vortrag liegen, spürbar verändert: „Im Nachkriegsdeutschland ist noch keiner nachgewachsenen Generation so schonungslos bedeutet worden, dass sie zu großen Teilen weder kulturell noch gesellschaftlich benötigt wird”, schreibt der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch in einem vor zwei Jahren veröffentlichten Aufsatz. Was er sagt, gilt für alle Gesellschaften vergleichbaren Typs. „Das Merkwürdigste aber ist: Unsere Gesellschaft frönt dem Fetisch Jugendlichkeit, doch die Jugend selbst wird missachtet, ist eine beinahe vergessene Generation. Wirklich ernst genommen und umworben werden Jugendliche nur als Konsumenten” (Sigusch 2003: 6). Und mit Blick auf das Sexuelle stellt Sigusch fest, dass anders als in den 1960er- und 1970er-Jahren Sexualität heute nicht mehr „die große Metapher der Lust und des Glücks” (ebd.) ist, Sexualität heute, das ist auch das Wissen um Missbrauch, Gewalt und Infektionsgefahr.

In wenigen Tagen beginnt, wie jedes Jahr im Oktober, die Frankfurter Buchmesse. Und wie jedes Jahr werden mich auch diesmal Agenten, Lektoren und Verleger fragen, warum ich mich weigere, „Das Sex Buch” oder die „Sexfront” zu überarbeiten und neu aufzulegen. Ich werde, wie nun schon seit Jahren, mit einer Begründung kommen, die, wenn es um Sexualität geht, nicht zu überbieten ist: Ich habe keine Lust mehr.

Mit dieser Bekundung meines persönlichen Desinteresses will ich jedoch keinesfalls sagen, dass der sexualwissenschaftlichen und sexualpolitischen Diskussion die Fragen ausgegangen wären. Das Gegenteil ist der Fall: Wie - beispielsweise - wird sich das Ideal von Treue und Verbindlichkeit im Beziehungsleben vereinbaren lassen mit dem Ideal von Mobilität und Flexibilität in der Arbeitswelt? Wird sich das romantische Liebesideal der Treue, an dem sich die Mehrheit aller von Forschern befragten Jugendlichen bis heute orientiert, behaupten können? Oder wird sich eine Sexualmoral durchsetzen, die den Sexualakt von dem, was wir „Liebe” nennen, radikal abkoppeln wird? Welche Rolle wird die „käufliche Liebe” in diesem Zusammenhang spielen? Wie wird der expandierende Sextourismus zukünftig moralisch bewertet werden? Liegt es nicht in der Logik der neoliberalen Deregulierung, die Grenze zwischen der „reinen” und der käuflichen Liebe zu verwischen? Wird, wer bereit ist, alle Beziehungen als Tauschbeziehungen zu betrachten, nicht auch bereit sein, das Sexuelle als Dienstleistung zu akzeptieren? Moralisch verwerflich ist dann nicht die Tatsache, dass jemand für Sex Geld gibt oder nimmt, moralisch verwerflich ist vielmehr, wenn die sexuelle Dienstleistung nicht angemessen honoriert wird beziehungsweise wenn sie nicht dem vereinbarten Preis entspricht. So könnte es kommen, so ist es bereits.

Und auch damit ist zu rechnen: Die sich in den Gesellschaften des reichen Nordens rasant vollziehende soziale Polarisierung wird Einstellungen und Verhaltensweisen hervortreten lassen, die krass abweichen von den bis anhin gültigen Moralvorstellungen nivellierter Mittelschicht-Gesellschaften. Wer bestimmte Formate des Privatfernsehens zur Kenntnis nimmt - ich denke dabei vor allem an Nachmittags-Talkshows mit Beteiligung von Jugendlichen -, bekommt eine Ahnung davon, dass anderswo andere Sitten und Gebräuche herrschen als die in den Mittelschichten üblichen. Ein Neo-Machismo breitet sich aus - Frauenverachtung gepaart mit Homophobie. Die Migration von Menschen aus anderen Kulturkreisen, mit anderen religiös begründeten Wertvorstellungen begünstigt diese Entwicklung. Das ist die sexualpolitische Realität von heute, die es zu reflektieren und auf die es zu reagieren gilt.

Halten wir fest: Die Entkoppelung der Sexualität von der Fortpflanzung, der Abbau von angstmachenden sexuellen Mythen, die Wahrnehmung des Sexuellen als einen selbstverständlichen Bestandteil des menschlichen Lebens ohne Zweckbestimmung und ohne institutionellen Rahmen und die Anerkennung oder wenigstens doch Duldung „abweichenden sexuellen Verhaltens” - das alles sind Errungenschaften, die sich in einem langen Entwicklungsprozess durchgesetzt haben. Ich korrigiere mich: durchgesetzt wurden. 68 war ein Markstein in dieser Entwicklung, nicht mehr und nicht weniger. Ohne die sexualpolitische Debatte in den 1960er- und 1970er-Jahren wäre die Aids-Diskussion in den 1980er-Jahren anders verlaufen. Im konservativen und rechtspopulistischen Lager gab es genügend Versuche, den Kampf gegen Aids mit einer neuen Hatz auf Homosexuelle zu verknüpfen. Diese Versuche sind gescheitert. Das ist ein Erfolg und eine Errungenschaft.

Doch wie stabil ist die sexualpolitische Lage im christlich-abendländischen Kulturkreis tatsächlich? Da gibt es zwei Denkschulen: Die eine hält die Entwicklung für unumkehrbar, die andere hält die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte für bedroht von fundamentalistischen Kirchen und fanatischen Religionsgemeinschaften, die ihre Sexualnorm zu einer gesamtgesellschaftlichen Norm erheben wollen. Sie haben dabei vor allem die USA als Schreckensbild vor Augen.

Bezogen auf West-Europa kann man, was den Einfluss evangelikaler Abstinenzprediger betrifft, relativ gelassen sein. Auch die katholische Kirche, mit ihrer rigiden Sexualmoral, muss, wie jüngst der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, einräumen, dass sich selbst jugendliche Papst-Pilger ihr Sexualleben nicht vorschreiben lassen: Morgens zur Messe die Oblate - abends zum Sex die Pille. Oder das Kondom.

Diese relative Gelassenheit schwindet jedoch schnell, wenn man sich bewusst macht, dass die Gebote und Verbote religiöser Fundamentalisten tief greifende individuelle und gesellschaftliche Folgen haben. Denn die religiös begründete und von der gegenwärtigen US-Regierung politisch gestützte Abstinenzpropaganda an Schulen und Universitäten verhindert Sexualaufklärung und verweigert Informationen über den Gebrauch von Verhütungsmitteln. Die Folge: Weil weit mehr als 60 Prozent aller amerikanischen Teenager sich der Abstinenzbotschaft entziehen und sexuelle Handlungen bereits vor Erreichung des 18. Lebensjahres „vollziehen”, steigt die Zahl der Teenager-Schwangerschaften, der Abtreibungen, der Geschlechtskrankheiten und der Aids-Todesfälle. Das Risiko eines Teenagers in den USA, das HI-Virus einzufangen, ist fünfmal größer als in Deutschland, die Gonorrhö-Rate amerikanischer Teenager ist 70-mal höher als die in den Niederlanden oder in Frankreich. „Was Teenager nicht wissen, kann sie töten”, schreibt die „New York Times” am 28. Februar 2005 in einem Kommentar unter der Überschrift „A different kind of sex scandal”. Dieser Skandal ist mehr als nur ein inneramerikanisches Problem, denn die US-Regierung setzt alles daran, ihre Moralvorstellungen über internationale Organisationen zum Weltmaßstab zu erheben. Die Folge: In Afrika tätigen UN-Hilfsorganisationen, die sich weigern, Enthaltsamkeit als wichtigstes Mittel im Kampf gegen Aids zu propagieren, wird unter dem Druck der USA die Lieferung von Kondomen verweigert - wie jüngst in Uganda.

Ob sich Europa auf Dauer als resistent erweisen wird gegenüber den sexualmoralischen Ansprüchen US-amerikanischer Fundamentalisten, die sich in der sexuellen Frage von islamistischen Fundamentalisten nur geringfügig unterscheiden, wird die Zukunft zeigen. Wenn der neue Papst als wichtigstes Ziel seines Pontifikats die Re-Christianisierung Europas ankündigt, dann verheißt das nichts Gutes. Besonders im katholischen Osten Europas, wo Frauen elementare Rechte verweigert werden und Ausschreitungen gegen Homosexuelle alltäglich sind, ist der Boden fruchtbar für sexuelle Repression. In Zeiten der Not wächst das Verlangen nach Zucht. Und so werden Historikerinnen und Historiker, die sich in hundert Jahren erneut treffen werden, um der Veröffentlichung von Forels Buch zu gedenken, feststellen, dass die sexuelle Frage noch immer offen ist und noch immer keine Ruhe eingekehrt ist an der Sexfront.

1 Vortrag, gehalten auf der Tagung „Sexualität und Medien im 20. Jahrhundert. Zum 100. Geburtstag von August Forels Buch ‚Die sexuelle Frage’” am 6. und 7. Oktober 2005 in Zürich. Der Beitrag wird auch in dem von Philipp Sarasin und Jakob Tanner herausgegebenen gleichnamigen Tagungsband erscheinen (Zürich, in Vorb.).

Literatur

  • 1 Amendt G. Sexfront. Frankfurt/M.: März Verlag, 1970; überarb. Ausg. Frankfurt/M.: März bei Zweitausendeins, 1978; Lizenzausg. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch-Verlag, 1982; erweit. Neuausg. Reinbek: Rowohlt, 1989
  • 2 Amendt G. Das Sex Buch. Dortmund: Weltkreis-Verlag, 1979; Neuausg. unter dem Titel „Das Sex Buch. Aufklärung für Jugendliche und junge Erwachsene”: Berlin: Elefanten Press, 1993
  • 3 Becker S. Jenseits von Lüsternheit und Prüderie.  Z Sexualforsch. 2005;  18 14-17
  • 4 Forel A. Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische, hygienische und soziologische Studie für Gebildete. München: Reinhardt, 1905
  • 5 Freud S (1905). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Gesammelte Werke, Bd. 5. London: Imago; 1942: 27-145
  • 6 Kinsey A C, Pomeroy W B, Martin C E (1948). Das sexuelle Verhalten des Mannes. Berlin: Fischer, 1955
  • 7 Kinsey A C, Pomeroy W B, Martin C E, Gebhard P H (1953). Das sexuelle Verhalten der Frau. Berlin: Fischer, 1954
  • 8 Reich W. Der sexuelle Kampf der Jugend. Berlin: Verlag für Sexualpolitik, 1932
  • 9 Reich W. Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen. (2., erweit. Aufl. der Schrift „Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral” aus dem Jahr 1930). Kopenhagen: Sexpol-Verlag, 1936
  • 10 Reiche R. Sexualität und Klassenkampf. Zur Abwehr repressiver Entsublimierung. Frankfurt/M.: Verlag Neue Kritik, 1968
  • 11 Sigusch V. Von der Wollust zur Wohllust. Über das Sexualleben der Jugend.  Pro Familia Magazin. 2003;  31 (3) 4-7
  • 12 Sloterdijk P. „Die Freigabe aller Dinge”. Gespräch mit Peter Sloterdijk (Autor: Michael Klonovsky). Focus, Nr. 31, 1. August 2005, S. 51

1 Vortrag, gehalten auf der Tagung „Sexualität und Medien im 20. Jahrhundert. Zum 100. Geburtstag von August Forels Buch ‚Die sexuelle Frage’” am 6. und 7. Oktober 2005 in Zürich. Der Beitrag wird auch in dem von Philipp Sarasin und Jakob Tanner herausgegebenen gleichnamigen Tagungsband erscheinen (Zürich, in Vorb.).

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