Hebamme 2006; 19(4): 217
DOI: 10.1055/s-2006-959339
Editorial

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Wertewandel und Verantwortung

Michael Krause
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Publication Date:
18 December 2006 (online)

Liebe Leserinnen, in dieser Ausgabe mit dem Schwerpunktthema „Wunschsectio” drängten sich mir spontan zwei zentrale Stichworte auf, die momentan die Geburtshilfe und die Gesellschaft gleichermaßen beeinflussen:

Das erste Stichwort lautet: Wertewandel. Wir alle können in der Tat einen gesellschaftlichen Wertewandel (oder -verfall?) beobachten. In der heutigen kurzlebigen, mobilen, sich immer schneller entwickelnden und hoch technisierten zivilisierten Welt scheint das Leben zunehmend aus der Balance zu geraten. Die tief verwurzelten humanitären und traditionellen Werte scheinen sich zu einer von Konsum diktierten, z. T. egoistischen und hypermobilen Scheinwelt mit fragwürdigen Inhalten und Zielen zu wandeln. In dieser scheinen Werte wie „sich für etwas Zeit nehmen” oder „für etwas Verantwortung übernehmen” in den Hintergrund zu rücken. Es hat den Anschein, als ob viele Menschen ungern die eigene Verantwortung für ihr Handeln übernehmen oder sie lieber an andere Personen oder an die moderne Hochtechnologie abgeben.

Selbstverständlich macht diese Entwicklung auch vor der „modernen” Geburtshilfe keinen Halt. Sie wird zunehmend vom Streben nach zeitlicher Planung bzw. Terminierung und Perfektion bestimmt. Das Einlassen auf die Unwägbarkeiten des Beginns bzw. des Ablaufs einer Spontangeburt wird immer weniger gelebt. Die mediale Darstellung des Ereignisses „Geburt” erzeugt bei vielen Schwangeren Ängste vor Schmerzen und kindlicher Schädigung. So entsteht ein gesellschaftlicher Druck auf die Schwangere bzw. Gebärende. Ängste vor dem nicht Wahrnehmen von „Serviceleistungen” (z. B. PND, PDA, Wunschsectio etc.), dem Nicht-Gewachsen-sein bzw. das Nicht-Bewältigen einer Spontangeburt sind an der Tagesordnung.

Der scheinbar leichteste Weg ist mit Sicherheit nicht immer der beste, weder für die Mutter noch für das Neugeborene. Dabei wird leicht vergessen, dass die Risiken nach einem Kaiserschnitt für die Mutter bei einer weiteren Schwangerschaft bzw. Geburt dramatisch höher sind, als die bei der ersten Schnittentbindung. Vergessen werden auch die noch nicht ausreichend untersuchten Auswirkungen der abrupten Beendigung der Schwangerschaft durch einen Kaiserschnitt auf die weitere motorische, kognitive und geistigsoziale Entwicklung des Kindes. Das Fehlen des natürlichen und überlebenswichtigen intrapartalen Geburtsstresses kann nach heutigem Wissen beim Kind zu verschiedenen Verhaltensänderungen bzw. -törungen führen.

Ein weiteres Stichwort heißt Verantwortung. Im Prozess der Schwangerschaft und Geburt entwickelt sich die Frau zur Mutter. Dieser Übergang beinhaltet viele physische, psychologische, hormonelle, soziale und emotionale Veränderungen. Wir Hebammen und Geburtshelfer sollten diese Prozesse kennen, sie aktiv unterstützen und die Schwangere/Gebärende bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung - neues Leben zu schenken - bestärken. Doch wie viele Gebärende gehen mit dem nötigen Selbstvertrauen in ihre eigene Kraft für die Bewältigung der großen Aufgabe in die Geburt? Versuchen nicht einige von ihnen, mit dem Betreten des Kreißsaals ihre Verantwortung an das geburtshilfliche Team abzugeben?

Der Glauben an eine Sicherheit durch die perfektionierte und übertechnisierte Geburtsüberwachung ist momentan gesellschaftlich tief verwurzelt. Die vermeintliche Sicherheit durch die elektronische Geburtsüberwachung wurde jedoch bisher nie wissenschaftlich bewiesen. Der von allen so gefürchtete geburtsbedingte Hirnschaden entsteht nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen in weit weniger als 10 % unter der Geburt am Termin - und dann auch nur bei extremen Notfällen, z. B. anlässlich einer vorzeitigen Plazentalösung (s. a. S. 241). In mehr als 70 % ist der Hirnschaden das Resultat einer Schädigung durch verschiedene Einflüsse während der Schwangerschaft. Der Wunschkaiserschnitt aus Angst vor kindlichen (Hirn-) Schäden oder Schmerzen bei der Spontangeburt verfehlt damit ebenfalls das Ziel. Er ist letztlich nur „ein Mittel zur Angstbekämpfung” (Ensel).

Die Beiträge dieses Heftes laden Sie zum Nachdenken und Diskutieren ein. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und viele Anregungen für Ihre fachlichen Diskussionen und Ihre tägliche Arbeit.

Michael Krause

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