Suchttherapie 2008; 9(2): 47-48
DOI: 10.1055/s-2008-1077089
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was wirkt wirklich? Evidenz und Erfahrung in der Suchtarbeit

What Really Works - Evidence and Experience in the Field of AddictionP. Degkwitz 1
  • 1Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg
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Publication Date:
28 May 2008 (online)

In diesem Heft wird das Thema der „Evidenz” von Ansätzen in der Suchtbehandlung und der Prävention erörtert. Was wirkt wirklich und in welchem Verhältnis stehen Evidenz und Erfahrung in der Suchtarbeit?

Zum Bekenntnis der „Evidenzbasierung” gibt es inzwischen zumindest auf der Ebene der gesundheits- und versorgungspolitischen Diskussionen keine Alternative. Jede neue Form oder Modifikation, jeder Ausbau bestehender Interventionen benutzt zumindest das Vokabular. Das gilt zunehmend auch für die Suchtbehandlung.

Evidenz ist der kommende etablierte Überbau, in dem sich die Auseinandersetzungen um aktuelle und künftige Versorgung vollzieht und in den sich alle begeben müssen. Das ist gegenüber der Begründung mit Erfahrungen, Gewohnheiten, traditionellen Verantwortlichkeiten oder ideologischen Fundierungen für alle Beteiligten, insbesondere die Betroffenen zunächst positiv. Wobei dieses positive Potenzial erfordert, sich der bestehenden Lücken und Schwächen der Konzeption bewusst zu sein und die sind - insbesondere in der Suchtbehandlung - die fundamentalen Wissenslücken.

„Evidenz-basierte Medizin” gilt seit einigen Jahren als Inbegriff „richtigen”, angemessenen, an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichteten Handelns im Gesundheitswesen. Darunter wird „der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Belege (Evidenz) für Entscheidungen in der Versorgung individueller Patienten verstanden [1]. Auf nachgewiesener Wirksamkeit beruhende Leitlinien oder Empfehlungen sollen vor dem Hintergrund der individuellen Erfahrungen des einzelnen Behandlers/Arztes auf die Komplexität des speziellen Einzelfalls in der Routine der klinischen Praxis angewendet werden. Die Reichweite von Empfehlungen erweitert sich über die ursprünglich im Zentrum stehende medizinische Intervention aus auf alle suchtbezogenen Interventionen sowie die involvierten Einrichtungen und Professionen. Dabei geht es nicht um rechtlich bindende „Richtlinien”, Leitlinien gelten eher als „Behandlungskorridore”[2]. Sie sind Aussagen zu empfohlenen klinischen Verfahren (und deren strukturellen sowie Prozessvorgaben). Diese Empfehlungen sollen den Entscheidungsprozess unterstützen und nicht ersetzen.

Vorgelegte Empfehlungen in Versorgungsbereichen werden in der Regel gemäß vereinbarten Konventionen gradiert - z. B. der American Psychiatric Association folgend - unterteilt in:

„recommended with substantial clinical confidence” (Empfehlung empirisch gut fundiert), „recommended with moderate clinical confidence” (Empfehlung allgemein begründet), „recommended an the basis of individual circumstances” (Empfehlung im Einzelfall gut belegt).

Die Empfehlungen sollen als Grundlage für eine qualitativ hochwertige Vorsorgung verschiedener Patientengruppen durch bestimmte Einrichtungen der Suchtversorgung dienen; es geht um Aufbau der angemessenen Einrichtung, Implementierung der Verfahren, Koordination von verschiedenen Versorgungsbereichen, Qualifikation und Weiterbildung der Professionellen sowie die adäquate finanzielle Abgeltung von Leistungen.

Dieser idealtypische Prozess und eine entsprechende Versorgungskultur stecken noch in den Kinderschuhen. Das gilt auch für die Suchtbehandlung. Als Ausgangspunkt für den Bereich der Suchtmedizin haben Schmidt, Gastpar et al. Arbeitsergebnisse verschiedener Expertengruppen zu „Behandlungsleitlinien für substanzbezogene Störungen” vorgelegt [2], mit dem Anspruch der Beschreibung des aktuellen Standes der Suchtbehandlung auf der Basis einer wissenschaftlich begründeten, evidenzbasierten Suchtmedizin. Behandlungen von Abhängigkeit(en) sollen demnach stärker auf eine empirisch begründete und rationale Basis gestellt werden.

Die vorgelegten Leitlinien sind nach Angaben der Autoren noch als „Stufe 2-Leitlinien” anzusehen. D. h. es handelt sich bei ihnen nach internationalem Verständnis noch um „unsystematische Übersichtsarbeiten”, die auf einem formalen Konsensusverfahren von Mitgliedern mehrerer Gruppen basieren, und damit als „überwiegend evidenzbasiert” und von „mittlere Validität” gelten. Damit geben die Autoren angenehm nüchtern den Wissensstand im Bereich der Suchtbehandlung wider.

Einige der offenbaren Probleme auf dem Weg zu einer Evidenz-basierten Versorgung in der Suchtbehandlung sind:

Das Fehlen von Studien, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Das wären kontrollierte Studien, wie in Bereichen, in denen kontrollierte Studien nicht oder nur in Einzelbereichen möglich sind wie generelle schulische Suchtprävention, Gesundheitsförderung oder Infektionsprophylaxe müssen zusätzliche Verfahren zur Gewinnung von Evidenz geprüft werden, vgl. hierzu Kliche, Koch und andere 3. Wo es umfassendere wissenschaftliche Studienergebnisse gibt, sind sie (vorwiegend) US-amerikanisch. Diese Ergebnisse sind wichtige Anhaltspunkte, die Übertragbarkeit auf andere Kulturen bleibt offen. Die wissenschaftliche Evidenz ist bislang medikamentenlastig - das gilt z. B. für die Substitutionsbehandlung. Es ist der Pharmaindustrie nicht vorzuwerfen, dass zumindest diese Interventionen umfassend untersucht sind. Das Problem ist das Defizit in den Bereichen der psychosozialen bzw. -therapeutischen Interventionen, hinter denen keine entsprechenden Interessen stehen, bzw. die Forschungsförderung mangelhaft ist. Die Übertragbarkeit und Implementierung der Ergebnisse aus kontrollierten Studien unter Studienbedingungen (z. B. Rahmenbedingungen, Ressourcen, selektiven Stichproben) ist ein weiteres Forschungsthema, bei dem wir noch am Anfang stehen. So ist etwa die Evidenz von „belohnungsorientierten” Interventionen z. B. für die Kokainbehandlung (bei im Vordergrund stehender Kokainabhängigkeit oder in der Substitutionsbehandlung) vielfach belegt - ohne dass das einen größeren Einfluss auf die Behandlungsansätze hat.

Dies sind nur einige der offenen Fragen, die es nicht zu verleugnen, sondern denen sich die Beteiligten zu stellen haben.

Die häufig geäußerte Befürchtung der Entwertung der langjährigen praktischen Erfahrung der Experten im Suchtbereich wird hier nicht geteilt. Es geht nicht um eine Entwertung von Erfahrungen - sondern eher darum, dass sich mittelfristig diese Erfahrungen der Untermauerung durch Studienergebnisse stellen müssen.

Das Spannungsfeld, in dem versorgungspolitische Entscheidungen fallen, formiert sich zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, therapeutischen Erfahrungen, Interessen und Bestrebungen der Kostenträger sowie Bedarfen der Betroffenen neu. Dabei erhält der wissenschaftliche Nachweis von Effekten einen größeren Stellenwert.

Sicher wird mit der „Evidenzbasierung” nicht alles besser, aber sie ist ein Ansatzpunkt einer rationalen Auseinandersetzung in der Versorgung.

Ambros Uchtenhagen betont in diesem Heft gegenüber der Überbewertung von „Evidenzbasierung” ein erweitertes Verständnis von „Good Practice”: Darunter versteht er Ansätze, „die den Wert der wissenschaftlichen Evidenz voll mitberücksichtigen, aber nur als ein Element unter anderen. Was ebenfalls zu beachten sei, sind situative Momente: die Verfügbarkeit einer Behandlung (und zwar in guter Qualität), eine ausreichende Erfahrung dessen, der die Indikation stellt, über die Vor- und Nachteile einer Behandlung, sowie die Erwartungen und die Bereitschaft des Patienten, sich auf die vorgeschlagene Behandlung einzulassen (positive Einstellung und Motivation des Patienten gelten hier als selbständige Faktoren des therapeutischen Erfolgs).”

Für die Frage was für eine Psychotherapie die Suchtbehandlung braucht, resp. brauchen könnte, öffnet Arthur Günthner ein Fenster: Anhand einer Reihe Dilemmata zeigt er auf, dass eine gemeinsame Philosophie der Suchttherapie gebraucht wird, um im Spannungsbogen zwischen Evidenz und Pragmatismus und auf dem Boden der Neurobiologie und Lerntheorie verfügbares Wissen zu ordnen und psychotherapeutisches Handeln zu leiten.

Konkret aufgezeigt wird die Frage von Evidenz anhand einer Effektivitätsbeurteilung der medizinischen Rehabilitation bei Alkoholabhängigkeit von Rolf Buschmann-Steinhage und Pia Zollmann, beide aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung. Der Artikel beschäftigt sich mit der Frage, ob die medizinische Rehabilitation Alkoholabhängiger ihren gesetzlichen Auftrag erfüllt, eine Berentung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu verhindern oder zumindest hinauszuschieben.

Als Praktiker einer großen deutschen Klinik kommt Klaus Behrendt zum Heftthema zu Wort, und zwar in der Form eines Interviews, dass von nun an häufiger die Leserinnen und Leser der Suchttherapie begleiten wird.

Außer dem Schwerpunktthema bietet diese Ausgabe der Suchttherapie eine Originalarbeit von Joachim Körkel und Dorina Waldvogel, die eine Feldstudie zu Häufigkeit und Menge sowie dem Schweregrad des Alkoholkonsums Drogenabhängiger präsentieren. Dabei werden Subgruppenunterschiede von Substituierten und Nichtsubstituierten, Alleinstehenden und Zusammenwohnenden, sowie Männern und Frauen betrachtet. Darüber hinaus werden die Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und Anzahl resp. Art der konsumierten illegalen Drogen geprüft und Indizien für Wirkungsüberlagerungen („Mischkonsum”) zwischen Alkohol und illegalen Drogen erhoben.

Literatur

  • 1 Greenhalgh T. Einführung in die Evidence-based Medicine. Bern: Verlag Hans Huber 2003
  • 2 Kliche T, Koch U, Lehmann . et al .Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung. In: Gesundheitsschutz. 2006 49: 141-150
  • 3 Schmidt L, Gastpar M, Falkai P, Gaebel W. (Hrsg). Evidenzbasierte Suchtmedizin - Behandlungsleitlinie Substanzbezogene Störungen. Köln: Deutscher Ärzte Verlag 2006

Korrespondenzadresse

Dr. P. Degkwitz

Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Email: p.degkwitz@uke.uni-hamburg.de

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