Der Klinikarzt 2008; 37(4): 163
DOI: 10.1055/s-2008-1077109
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Verantwortung und Verantwortbarkeit

Adolf Grünert
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Publication Date:
08 May 2008 (online)

Ein Arzt handelt nach bestem Wissen und Gewissen, wenn es darum geht, die medizinischen Probleme seiner Patienten zu erkennen und zu lösen. Bei der näheren Analyse und Interpretation dieses ärztlichen Berufsethos entdeckt man ein umfangreiches Bündel an schwerwiegenden Fragen, dessen Umfang sich scheinbar beliebig erweitern lässt.

Zunächst geht es darum: Was umfasst das „beste Wissen”? Ist man allein deshalb schon in dessen Besitz, weil die abgeschlossene universitäre Qualifikation den erforderlichen Wissenserwerb testiert hat? Und wie soll heute die in der Berufsordnung vorgeschriebene Fortbildung die lebenslang aktualisierte Qualifikation garantieren - gespeist aus welchen gesicherten Datenquellen? Wer ist darüber hinaus verantwortlich für die Sichtung und Prüfung neuer Erkenntnisse? Ist die schiere Unermesslichkeit neuer und alter Erkenntnisse leicht als Ausrede bei persönlicher Unfähigkeit und Bequemlichkeit zu missbrauchen? Und zu guter Letzt: Welche Kriterien entscheiden über den verantwortlichen Umgang mit der persönlichen lebenslangen Qualifikation des Arztes?

Das gesamte „Minenfeld” wird dadurch noch verkompliziert, dass die traditionellen Fachgrenzen durch - zweifellos dringend notwendige - interdisziplinäre und multidisziplinäre Lösungsansätze aufgelöst werden, deren Auswirkungen auf neue Institutionen wie den Gesundheits-Versorgungs-Zentren nur einen ersten Lösungsansatz provozieren. Außerdem haben sich die Bildungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten, welche die gestellten Fragen implizieren, in den letzten Jahren ebenso vervielfältigt wie die Flut der Datenpublikationen.

Die unbegrenzte und jederzeit abrufbare Verfügbarkeit dieser Informationen im Internet wirft ein weiteres Problem auf: Umso schwieriger ist es beispielsweise heute zu bewerten, ob ein behandelnder Arzt eine bestimmte ärztliche Maßnahme zu Recht unterlassen hat oder ob er um eine neue Erkenntnis hätte wissen müssen, da sie ihm theoretisch hätte vorliegen können. Bis heute gibt es aber keine geschulten standardisierten Zugriffsmethoden, welche die Verantwortbarkeit des auffindbaren Wissens mit Gültigkeits- und Qualitätsgarantie sicherstellen.

Schon wenn man einmal das Zeitproblem außer Acht lässt, was aber eine starke realitätsferne Simplifizierung bedeutet, ist die Unmenge der konventionell und modern-elektronisch täglich anschwellenden Daten nicht mehr zu bewältigen: Hätten Sie gedacht, dass Sie mit dem Suchbegriff „medizinische Weiterbildung” in 0,19 Sekunden 478000 Treffer im Internet landen können - ein Ergebnis, das sich mit dem Suchbegriff „medizinische Fortbildung” mit 438000 Treffern kaum reduziert. Selbst die Suche nach „medizinischer Fortbildung mit gesichertem Wissen” ergibt noch 5400 Treffer.

Schon dieses Beispiel zeigt ganz klar, wie wichtig es ist, das medizinisch gesicherte Wissen mit wissenschaftlicher und evidenzbasierter Kompetenz durch universitäre und fachgesellschaftliche Einrichtungen zu sichten und zu filtern. Diese Institutionen haben die ethische und wissenschaftliche Verpflichtung, zeitschonende und effektive Methoden zu entwickeln und dann auch bereitzustellen, mit deren Hilfe sich der einzelne Arzt das Potenzial des vorhandenen Wissens erschließen kann. Denn der Zugriff auf den akzeptierten Wissensstand seines Faches ist für ihn eine zwingende Voraussetzung, damit er seinen beruflichen Auftrag auch nach einer schon eine Weile zurückliegenden universitären und berufsständischen Qualifizierung erfüllen kann.

Prof. Dr. mult. Adolf Grünert

Ulm

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